Joseph Dietzgen

 

Brief an
Karl Marx
in London

(November 1867)


Zuerst veröffentlicht in der Neuen Zeit, 20. Jahrgang (1901/02), Bd.II, S.126-128.
Aus Joseph Dietzgen, Ausgewählte Schriften, Berlin 1954, S.251-4.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Hochverehrter Herr!

Gestatten Sie, ich bitte, Ihnen unbekannterweise meine Huldigung darzubringen für die unschätzbaren Verdienste, welche Sie durch Ihre Forschungen sich sowohl um die Wissenschaft wie speziell um die Arbeiterklasse erworben haben. In früher Jugend schon, als ich den überreichen Inhalt Ihrer Schriften mehr nur zu ahnen als zu verstehen vermochte, wurde ich davon gefesselt und konnte nicht unterlassen zu lesen und wieder zu lesen, bis ich mir zur selbstgenügenden Klarheit verholfen hatte. Die Begeisterung, welche nun das Studium Ihres jüngst in Hamburg erschienenen Werkes in mir erregt, reißt mich zu der vielleicht zudringlichen Unbescheidenheit hin, Ihnen meine Anerkennung, Verehrung und Dankbarkeit bezeugen zu wollen. Das in Berlin erschienene Erste Heft Zur Kritik der politischen Ökonomie habe ich seinerzeit mit vielem Fleiße studiert und gestehe, daß niemals ein Buch, wie voluminös auch immer, mir soviel neue, positive Erkenntnis und Belehrung gebracht hat wie dies Meine Heft. So habe ich denn die Fortsetzung mit vieler Ungeduld erwartet. Sie sprachen es zum erstenmal in klarer, unwiderstehlicher, wissenschaftlicher Form aus, was von jetzt ab die bewußte Tendenz der geschichtlichen Entwicklung sein wird, nämlich, die bisher blinde Naturmacht des gesellschaftlichen Produktionsprozesses dem menschlichen Bewußtsein zu unterordnen. Dieser Tendenz den Verstand gegeben, zu der Einsicht verholfen zu haben, daß unsere Produktion kopflos ist, das ist Ihre unsterbliche Tat, hochverehrter Herr! Allgemeine Anerkennung dafür wird und muß die Zeit Ihnen bringen. Zwischen den Zeilen Ihres Werkes lese ich, daß die Voraussetzung Ihrer gründlichen Ökonomie eine gründliche Philosophie ist.

Da letztere mir viel Arbeit gemacht hat, kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, Ihnen mit dem Bekenntnis, daß ich ein nur elementarisch geschulter Lohgerber bin, kurze Mitteilung von meinen wissenschaftlichen Bestrebungen zumachen.

Mein Gegenstand war, von früh an, eine systematische Weltanschauung; Ludwig Feuerbach hat mir den Weg dazu gezeigt. Vieles jedoch verdanke ich eigener Arbeit, so daß ich nun von mir sagen darf: Die allgemeinen Dinge, die Natur des Allgemeinen oder das „Wesen der Dinge“ ist mir wissenschaftlich klar. Was mir zu wissen übrigbleibt, sind die besonderen Dinge. Da ich davon einzelnes weiß, sage ich mir, daß alles zu wissen für den einzelnen zuviel ist.

Das Fundament aller Wissenschaft besteht in der Erkenntnis des Denkprozesses.

Denken heißt aus dem sinnlich Gegebenen, aus dem Besonderen das Allgemeine entwickeln.

Die Erscheinung bildet das notwendige Material des Denkens. Sie muß gegeben sein, bevor das Wesen, das Allgemeine oder Abstrakte zu finden ist. Das Verständnis dieser Tatsache enthält die Lösung aller philosophischen Rätsel. Die Frage zum Beispiel nach Anfang und Ende der Welt gehört nicht mehr in die Wissenschaft, wenn die Welt nur Voraussetzung, aber nicht Resultat des Denkens oder Wissens sein kann.

Das Wesen des Gedankens ist die Zahl. Alle logischen Unterschiede sind rein quantitativ. Alles Sein ist ein mehr oder minder beständiges Scheinen, aller Schein ein mehr oder minder beständiges Sein.

Alle Ursachen sind Wirkungen und umgekehrt. Innerhalb einer nacheinander folgenden Reihe von Erscheinungen heißt das allgemein Vorhergehende Ursache. Von fünf Vögeln fliegen zum Beispiel infolge eines Schusses vier auf und davon. Also heißt der Schuß Ursache, daß vier fliegen, und Unerschrockenheit Ursache, daß einer sitzt. Fliegt aber umgekehrt einer und vier sitzen, so heißt nicht mehr der Schuß, sondern die Schreckbarkeit Ursache des Fliegens. Ein berühmter Physiker schreibt: „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahrzunehmen, wir schließen nur aus den Erscheinungen auf das Vorhandensein dieses Agens in der Natur.“ Ich umgekehrt schließe aus der Unwahrnehmbarkeit der „Wärme selbst“ auf das Nichtvorhandensein dieses Agens und verstehe die Erscheinungen oder Wirkungen der Wärme als Materiatur, woraus sich der Kopf den abstrakten Begriff Wärme bildet. Nennen wir ohne Verwechslung der Begriffe das Konkrete, Sinnliche Stoff, dann ist das Abstraktum desselben die Kraft. Beim Abwägen eines Warenballens wird ohne Rücksicht auf den Stoff der Gewichtsstärke die Schwerkraft pfundweise gehandhabt. Der fade Büchner sagt: „Now what I want is facts“, but he does not know what he wants [1]; der Wissenschaft geht es nicht sowohl um Tatsachen als um die Erklärungen der Tatsachen, nicht um Stoffe, sondern um Kräfte. Wenn auch in der Wirklichkeit Kraft und Stoff identisch sind, ist ihre Unterscheidung, die Trennung des Besondern und Allgemeinen doch mehr wie berechtigt. „Die Kraft läßt sich nicht sehen.“ Ei ja, das Sehen selbst und das, was wir sehen, ist pure Kraft. Wir sehen wohl nicht die Dinge „selbst“, sondern nur ihre Wirkungen auf unsere Augen. Der Stoff ist unvergänglich, das heißt nur, überall und zu allen Zeiten ist Stoff. Der Stoff erscheint, und die Erscheinungen sind stofflich. Der Unterschied zwischen Schein und Wesen ist nur quantitativ. Das Denkvermögen setzt zusammen, aus dem Vielen das Eine, aus Teilen das Ganze, aus dem Vergänglichen das Unvergängliche, aus den Akzidenzen die Substanz.

Moral. Unter Moral versteht die Welt die Rücksichten, welche der Mensch sich und den Nebenmenschen zum Zweck des eignen Reils zollt. Zahl und Grad dieser Rücksichten bestimmen verschiedene Menschen und Menschenkreise verschieden. Den Kreis gegeben, vermag die Denkkraft nur das allgemeine vom besondern Recht zu trennen. Was ist Zweck? Was ist Mittel? Dem abstrakten-menschlichen Heil gegenüber sind alle Zwecke Mittel, und insofern gilt unbedingt der Grundsatz: „Der Zweck heiligt das Mittel.“

Wenn nicht der Mangel an Gelehrsamkeit mich hinderte, würde ich über diese Themata ein Werk schreiben, so viel Neues glaube ich davon zu wissen.

Entschuldigen Sie, verehrter Herr, daß ich mir anmaßte, derart Ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Ich vermeinte, Sie durch den Beweis erfreuen zu können, daß die Philosophie eines Handarbeiters klarer ist wie durchschnittlich unsere heutige Professorenphilosophie. Ihren Beifall würde ich höher schätzen, als wenn irgendeine Akademie mich wollte zu ihrem Mitglied ernennen.

Ich schließe mit der nochmaligen Versicherung, daß ich den innigsten Anteil nehme an Ihren über unsere Zeit weit hinausreichenden Bestrebungen. Die soziale Entwicklung, der Kampf um die Herrschaft der Arbeiterklasse, interessiert mich lebhafter wie die eigenen Privatangelegenheiten. Ich bedaure nur, nicht tätiger dabei mitwirken zu können. Allons enfants pour la patrie!

 

Josef Dietzgen
Meister der Wladimirschen Lederfabrik
Wassili Ostrow, St. Petersburg

 

Fußnote

1. „Nun, was ich will, sind Tatsachen“, aber er weiß nicht, was er will.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.3.2004