Tony Cliff

 

Vor allem war er ein Revolutionär
Interview mit Tony Cliff

zum Gedenken an den britische Sozialisten Tony Cliff

(1970)


Durchgeführt von Nicholas Walter für Idiot International, Nr. 6, Juni 1970.
Nachgedruckt in David Widgery (Hrsg.), The Left in Britain, 1956–1968, Harmondsworth 1976, S. 437–47.
Aus Sozialismus von unten, Nr. 4, 5/2000.
Heruntergeladen mit Dank von der Website der Zeitschrift Sozialismus von unten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dein richtiger Name ist nicht Tony Cliff. Warum benutzt Du dieses Pseudonym?

Ich arbeitete 13 Jahre lang in der Illegalität in Palästina, welches damals unter britischer Kontrolle stand. In dieser Situation mußten wir Pseudonyme benutzen. Es wurde dann zu einer Gewohnheit.
 

Es hat also nichts mit der bolschewistischen Tradition zu tun, Pseudonyme zu benutzen?

Nein, damit hat es nichts zu tun. Es hat nichts Romantisches an sich.
 

Du erwähnst Palästina. Könntest Du kurz Deinen persönlichen Hintergrund schildern, die Zeit bevor Du nach England kamst?

Ich wurde 1917 in Palästina geboren, in eine zionistische Familie hinein. Doch schon in früher Jugend empörten mich die schrecklichen Bedingungen, unter denen arabische Kinder aufwuchsen. Ich stammte aus einer Mittelklasse-Familie. Die Ausbildungsbedingungen und der Lebensstandard waren gut. Die arabischen Kinder hingegen lebten in bitterer Armut und hatten keinerlei Chance, in den Genuß einer guten Ausbildung zu kommen. Ich wurde also schon früh zu einem Anti-Zionisten und Anti-Imperialisten.
 

Du bist in England als eines der führenden Mitglieder der IS-Gruppe [1] bekannt. Könntest Du kurz die Ursprünge dieser Gruppe erklären und in welchen Punkten sie sich von den anderen politischen Organisationen unterscheidet?

Zentral für uns ist der Ausspruch [von Karl Marx, – d. Übers.], daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann. Einer Arbeiterklasse übrigens, die andere nur selten erwähnen, z. B. am 1. Mai oder bei ähnlichen feierlichen Gelegenheiten. Dieser Ausspruch ist für uns der Beginn und das Ende all unserer Analysen. Und wenn man die Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellt, dann kann der Sozialismus nicht anders errungen werden als durch den Ausdruck der Entwicklungsmöglichkeiten der Arbeiterklasse.
 

IS hat einen hohen Anteil Intellektueller in ihren Reihen, obwohl ihr die zentrale Rolle der Arbeiterklasse betont. Wie erklärst Du das?

Ich glaube, daß das Bild, daß sich Menschen außerhalb von uns machen, nicht korrekt ist. Selbst Mitglieder unserer Gruppe haben über die soziale Zusammensetzung von IS manchmal unklare Vorstellungen. Von den rund 1.000 Mitgliedern sind ca. 200 Industriearbeiter. Sie sind für unsere Organisation sehr wichtig.

Es ist schlecht, daß Arbeiter nur eine Minderheit in unserer Organisation sind, aber das liegt vor allem daran, daß militante Arbeiter ihre eigenen Traditionen haben und auch ihre eigenen Organisationen. Sie sind noch nicht bereit, uns zu akzeptieren. Es dauert wesentlich länger für sie, uns zu akzeptieren als für Intellektuelle, die mit Ideen spielen und nicht so sehr mit den Problemen des wirklichen Lebens konfrontiert sind.
 

Du begannst Deine politische Laufbahn als Anti-Zionist. Wie denkst Du heute über die Situation im Nahen Osten, über Israel und die halb-sozialistischen arabischen Staaten?

Der Begriff „halbsozialistisch“ ist absolut falsch. Ägypten, Syrien und Irak sind staatskapitalistische Regimes. Wir unterstützen natürlich bedingungslos die arabische Revolution gegen den Imperialismus und Zionismus. Ich bin allerdings der Meinung, daß dieser Kampf nie gewonnen wird, bevor nicht der Kampf der arabischen Bauern um Land mit dem Kampf gegen den Zionismus verbunden wird. Der Kampf gegen Dayan kann nicht vom Kampf gegen Feisal, Hussein, Nasser und Ba’ath getrennt werden. [2] Deshalb unterstützen wir nur zwei Organisationen: die Demokratische Front und in Israel: Maatzpen.
 

Kehren wir nach Europa zurück. Du schriebst über Frankreich 1968. Was denkst Du über die Ereignisse ’68 und danach?

20 Jahre lang existierte unter sogenannten „Marxisten“ der Mythos, daß die Arbeiterklasse Westeuropas mit Waschmaschinen und Fernseher eingekauft würde und deshalb ihr revolutionäres Potential eingebüßt hätte. Viele schauten auf alle möglichen Gruppen – Studenten, Bauern in Bolivien usw. – aber nicht auf die Arbeiterklasse Westeuropas. Die französischen Ereignisse bewiesen, daß diese „Marxisten“ vollkommen unrecht harten. 20 Jahre lang haben wir gesagt, daß die Arbeiterklasse der einzige Motor echten sozialen Wandels ist und wir behielten recht.

Die Ereignisse in Frankreich bewiesen allerdings noch etwas anderes. Sie bewiesen, daß selbst angesichts des größten Streiks der Weltgeschichte die herrschende Klasse mit ihrem hohen Maß an zentraler Organisation siegen wird, wenn es keine Organisation gibt, die die unterschiedlichen Teile der Arbeiterklasse verbindet. Die Geschehnisse in Frankreich bestätigten also sowohl, daß die Arbeiterklasse der Motor sozialen Wandels ist, als auch die Notwendigkeit einer revolutionären Partei.
 

Bist Du der Meinung, daß Intellektuelle als Zündfunken der Revolution notwendig sind oder glaubst Du, daß es auch ohne sie geht?

Für Studenten ist es leichter, in Aktion zu treten, denn selbst eine Minderheit von Studenten kann das Startsignal geben. Eine Minderheit von Arbeitern hingegen kann keinen Streik führen. Doch obwohl es für Studenten leichter möglich ist, in Aktion zu treten, sind die Auswirkungen ihrer Aktionen begrenzt. Aus diesem Grund steigen Studentenbewegungen zunächst wie eine Rakete in den Himmel, aber sie fallen dann auch wie ein Stein wieder hinab. Studentenbewegungen haben einen manisch-depressiven Charakter. Wenn Arbeiter hingegen einmal angefangen haben, in Aktion zu treten, dann sind ihre Aktivitäten effektiver.
 

Aber ging die Studentenbewegung 1968 nicht weiter, während die Arbeiterbewegung schon wieder im Niedergang begriffen war?

Ich denke, wir sollten festhalten, daß die Studentenbewegung nach den Mai-Ereignissen abflaute. Es gab großen Streit und viel Bitterkeit in der Bewegung. Das Gefühl von Hoffnungslosigkeit führte zu Abenteurertum und der Suche nach Abkürzungen zur Revolution. Die Lektion daraus ist recht einfach: Man kann die Arbeiterklasse nicht von außerhalb führen. Man benötigt eine Organisation, die Teil der Arbeiterklasse ist und nicht von außen übergestülpt wird.
 

Widerspricht das nicht Lenins Theorie vom Bewußtsein der Arbeiterklasse?

In diesem Punkt hast Du unrecht. Es stimmt zwar, daß Lenin 1902 sagte, daß Bewußtsein von außen an die Arbeiterklasse herangetragen werden muß. Doch 1905 schrieb er: „Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch“ [sozialdemokratisch war damals gleichbedeutend mit revolutionär, – d. Übers.].

Desweiteren schrieb er, daß „die speziellen Bedingungen für das Proletariat im Kapitalismus zu einem Kampf der Arbeiter für den Sozialismus führen“. Eine Vereinigung der Arbeiter mit der sozialistischen Partei entwickelt enorme Sprengkraft. Lenin war nicht elitär. Er wußte, daß Arbeiter in revolutionären Massenorganisationen organisiert werden müssen.
 

Woraus man lernen kann, daß Lenin mit großer Vorsicht rezepiert werden muß.

Woraus man lernen muß, daß Lenin als Marxist wußte, daß der Marxismus eine Anleitung zur Praxis ist und daß die Praxis immer an eine konkrete Situation gebunden ist.
 

Besteht nicht die Gefahr, daß eine Partei, die versucht, Arbeiter zu organisieren, genauso degenerieren muß wie die Kommunistische Partei Frankreichs?

Es gibt zwei Konzeptionen von Arbeiterparteien. Die eine besagt, daß die Arbeiterpartei an der Spitze der Arbeiterklasse steht. Die anderen hingegen besagt, daß die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse in einer Partei organisiert werden müssen. Die letztere Konzeption ist die marxistische.

Wenn Du der Meinung bist, daß jede Form von Organisation dazu verdammt ist, zu degenerieren, dann mußt Du auch die pessimistische Idee von der Erbsünde akzeptieren. In diesem Fall kannst Du Dich vom Sozialismus verabschieden. Organisationen sind nicht von Natur aus schlecht. Wenn dem so wäre, dann gäbe es für den Sozialismus keine Zukunft.
 

Wie stehst Du zur Labour Party? [3]

Die Labour Party ist eine kapitalistische Partei. Sie macht kapitalistische Politik. Doch sie tut dies mit der Zustimmung vieler Arbeiter, die glauben, daß sie keine kapitalistische Partei sei. Wir haben demnach zwei Aufgaben.

An erster Stelle steht, daß wir die Wahrheit über die Labour Party enthüllen müssen, daß sie nämlich bezüglich Arbeitslosigkeit, Einwanderung, Imperialismus usw. kapitalistische Politik betreibt. Das ist zugleich unser wichtigster Job. Die Labour Party ist keine sozialistische Alternative zu den Tories. [4] Es gibt zur Zeit überhaupt keine sozialistische Alternative zu den Tories. Am Wahltag allerdings müssen wir klarstellen, daß die herrschende Klasse in Jubel ausbrechen wird, wenn die Tories die Wahl gewinnen, denn sie identifiziert sich mit den Tories. Wir hingegen müssen dafür sorgen, daß der herrschenden Klasse das Lachen im Halse stecken bleibt, selbst wenn wir dafür einen Bastard wie Harald Wilson [5] brauchen.

Zweitens: In der Opposition wird Wilson den Roten spielen. Wir sehen solche Heuchler wie ihn lieber in der Regierung. Dort können sie sich nicht hinter einer linken Maske verstecken. Wenn man beide Parteien entlarven will, dann ist es besser, wenn Labour an der Regierung ist. Mit Lenin kann man sagen, daß wir der Labour Party dieselbe Unterstützung zukommen lassen, die ein Seil einem Gehängten zukommen läßt.
 

Wie sollte Deiner Meinung nach eine revolutionäre Partei aufgebaut sein?

Weil die Arbeiterklasse sich selbst befreien muß, muß die revolutionäre Partei die Klasse widerspiegeln. Aber welchen Teil der Arbeiterklasse soll sie widerspiegeln? Innerhalb der Arbeiterklasse gibt es unterschiedliche Niveaus von Bewußtsein. Deshalb muß die Partei das Bewußtsein des fortgeschrittenen Teils der Arbeiterklasse widerspiegeln.

Die Partei muß im höchsten Maße demokratisch sein, denn die einzige Möglichkeit, das Bewußtsein einer Masse von Menschen widerzuspiegeln ist ein Höchstmaß an interner Demokratie. Es ist ja nicht wahr, daß die Arbeiterklasse eine einheitliche Meinung vertritt. Und die revolutionäre Partei spiegelt natürlich diesen Mangel an Einheitlichkeit wider. Deshalb ist demokratische Debatte notwendig.

Zentralismus ist ebenfalls aus ersichtlichen Gründen nötig. Die herrschende Klasse ist hoch zentralisiert und wir können sie nicht bekämpfen, wenn wir keine Organisation haben, die es mit ihr aufnehmen kann.

Jeder Streik ist zentralistisch. Jeder Arbeiter geht als Individuum zu einem Streik. Im Streik handelt er aber kollektiv. Eine Revolution ist eines der zentralistischsten Dinge dieser Welt. Wenn Du über Paris im Jahre 1789 sprichst, dann sprichst Du nicht von 5 Millionen Franzosen. Wenn Du über die russische Revolution sprichst, dann sprichst Du nicht von 200 Millionen Russen, sondern von Petrograd.
 

Siehst Du keinen Widerspruch, beispielsweise zwischen den 2 Millionen Petrogradern und der viel kleineren Anzahl von Mitgliedern des Militärkomittees der Bolschewiki in Petrograd, die faktisch die Revolution durchführten? Kann es keinen Widerspruch zwischen dem Zentrum der Partei und ihrer Basis geben?

Eine Revolution entsteht, gerade weil es Widersprüche gibt. Wenn es ein einheitliches Bewußtseinsniveau innerhalb der Arbeiterklasse gäbe, dann wäre eine Revolution nicht notwendig. Jeder Streik wäre überflüssig und es bestände keinerlei Notwendigkeit für Streikketten. Eine Streikkette ist notwendig, weil Arbeiter unterschiedlich handeln.

In jeder Revolution sind Millionen auf Seiten der Revolutionäre. Deswegen wäre eine Arbeiterregierung oder die Organisationen des Proletariats gar nicht notwendig, wenn es ein einheitliches Arbeiterbewußtsein gäbe. In diesem Fall wäre es nämlich gar nicht nötig, jemanden zu niederzuhalten.

Um Millionäre zu bekämpfen, benötigt man keine Streikkette. Denn Millionäre durchbrechen nie eine Streikkette. Es sind Arbeiter, die einen Streik brechen. Um reaktionäre Arbeiter in Rußland zu bekämpfen, benötigte man keine Rote Armee, sondern einen Arbeiterstaat.

Wegen der Uneinheitlichkeit des Bewußtseins sind Revolutionen, Streiks, Streikketten, eine Arbeiterregierung notwendig.
 

Daraus folgt doch, daß der Zentralismus dieser demokratischen Partei, daß sich die Militanz der Arbeiterklasse, die Militanz der Partei nicht so sehr gegen die herrschende Klasse richten – denn diese verschwindet ja Deiner Meinung nach während der Revolution sehr schnell –, sondern vielmehr gegen den rückständigsten Teil der Arbeiterklasse selbst?

Die Antwort darauf lautet: Bisher, in keinem Streik, kämpften Arbeiter und Kapitalisten direkt gegeneinander, denn die Kapitalisten haben niemals in ihrem Leben etwas selber getan. Es sind nicht sie, die in imperialistischen Kriegen kämpfen, sie schicken Arbeiter in den Krieg. Es sind auch nicht sie, die einen Streik brechen. Die Kapitalisten schicken Arbeiter, um einen Streik zu brechen. Und wenn Du feststellst, daß ein Streik vor allem ein Kampf von Arbeitern gegen Arbeiter ist, dann hast Du recht.

Ein Teil der Arbeiterklasse dient der herrschenden Klasse. In Vietnam ist es ebenso.: Es ist kein Krieg zwischen südvietnamesischen Bauern und amerikanischen Multimillionären. Im Gegenteil: die amerikanischen Millionäre werden nicht zum Militär eingezogen. Es ist ein Kampf zwischen vietnamesischen Bauern und amerikanischen Arbeitern in Uniform.
 

Das scheint mir eine interessante Entwicklung im Marxismus zu sein: Es sind nicht mehr zwei Klassen, die sich feindlich gegenüberstehen, sondern die Arbeiterklasse selbst ist gespalten in jene, die ihre eigenen Interessen vertreten und in jene, die die Interessen der herrschenden Klasse vertreten. In dieser Analyse scheint die herrschende Klasse kaum noch vorzukommen!

Nein, das Gegenteil ist der Fall. Selbst 1789 machte die Bourgeoisie nicht selbst ihre Revolution. Es waren die Sansculotten von Paris, die die Revolution durchzusetzen hatten. Die Kapitalisten tun nie etwas selbst, sie benutzen andere Menschen.

In einer Revolution werden immer die Armen benutzt. Der Klassenkampf, der Kampf zwischen den Kapitalisten und der Arbeiterklasse, spiegelt sich immer wieder im Kampf zwischen den Teilen der Arbeiterklasse, die unter Einfluß der Kapitalisten stehen und den Teilen der Arbeiterklasse, die die Kapitalisten bekämpfen.
 

Mich beunruhigen noch einige Deiner Bemerkungen über die Rolle der Partei. Wie soll sich Deiner Meinung nach vor einer Revolution die Partei zu anderen Organisationen verhalten, seien sie nun marxistisch oder nicht?

Wir sind gegen Stellvertretertum. Aber wir warten natürlich auch nicht, bis alle bereit sind, loszumarschieren. Man muß aufstehen und laut sagen, wenn man will, daß die Mehrheit losmarschiert. Wenn die Mehrheit damit einverstanden ist, wird sie marschieren. Wenn nicht, dann bleibt man eine Minderheit und alleine mit seiner Position.

Dasselbe gilt für die revolutionäre Partei. Sie kann die Arbeiterklasse nicht ersetzen. Die Arbeiterklasse muß sich selber befreien. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein. Die Rolle der revolutionären Partei ist es, herauszutreten und den Arbeitern zu erläutern, welche Politik sie für richtig hält.

Der einzige Weg, wie ein Streikkomittee gewinnen kann, ist, daß dessen Mitglieder beweisen, daß sie konsistenter und loyaler gegenüber den Interessen der Mehrheit sind als andere. Sie müssen auf die Probe gestellt werden.

Aus diesem Grund sind wir für die Freiheit aller sozialistischer Parteien, miteinander im Wettbewerb zu stehen. Wir haben die Hoffnung, daß für den Fall, daß wir richtig liegen, 99,9 % der Arbeiter uns wählen und 0,0001 % für Harold Wilson stimmen.
 

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Es gab in Rußland nach der bolschewistischen Revolution demokratische Wahlen. Man kann gegen diese Wahlen viele Einwände erheben, aber nichtsdestotrotz war eine Mehrheit für einen moderaten Bauernsozialismus und nur eine kleine Minderheit stimmte für die Bolschewiki. Was hätten die Bolschewiki bzw. jede andere revolutionäre Partei in einer solchen Situation tun sollen?

Die Tragödie der Russischen Revolution war, daß die russische Arbeiterklasse nur eine sehr kleine Minderheit war. Aus diesem Grund war die Russische Revolution eine Kombination aus zwei Revolutionen: einer Arbeiterrevolution mit dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen und eine Bauernrevolution, die im wesentlichen das zum Ziel hatte, was die Französische Revolution 1789 erreicht hatte.

Der französische Bauer wurde, sobald er für sich Land erkämpft hatte, zu einem konservativen Element und zerschlug die Revolution 1848, ebenso wie die Pariser Kommune 1871. Der französische Bauer hatte eben etwas, was er erhalten wollte.

Die Bolschewiki waren sich der Situation in Rußland sehr bewußt und hofften, daß eine siegreiche Revolution in Deutschland ihnen aus diesem Dilemma helfen würde. Aber die deutsche Sozialdemokratie zerschlug die Deutsche Revolution von 1918/19 und damit blieb die russische Revolution isoliert. Diese fortdauernde Isolation führte dazu, daß die Basis der Arbeitermacht sehr schmal wurde. Mehr noch: die Arbeiterklasse löste sich faktisch im Verlauf des Bürgerkrieges auf.

1917 zählte die Industriearbeiterschaft in Rußland 3 Millionen. 1920 gab es nur noch 1 Million Industriearbeiter. Unter solchen Bedingungen war ein demokratischer Aufbau gar nicht möglich. Mit dieser Tragik waren die Bolschewiki konfrontiert.

Ihr einziger Fehler, wenn sie denn einen machten, war, daß sie oft aus der Not eine Tugend machten.
 

1968 war in den Wahlen eine Mehrheit für die Sozialdemokratie und die Gaullisten – trotz der Massenstreiks und der großen sozialen Dynamik. Was sollte eine revolutionäre Partei in einer solchen Situation tun, wenn sie die Möglichkeit hätte, die Wahlen zu kippen?

Solange eine Mehrheit der Arbeiterklasse die revolutionäre Partei nicht unterstützt, hat diese keine andere Alternative, als geduldig fortzufahren, das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen. Man kann keine Revolution hinter dem Rücken der Arbeiterklasse machen. Wir glauben nicht daran, daß eine Minderheit stellvertretend für die ganze Klasse handeln kann. Wir sind keine Terroristen – in anderen Worten: Wir sind keine Liberalen, die die Arbeiterklasse geringschätzen und vorschlagen, daß eine Minderheit zur Bombe greifen sollte. Ein Terrorist, und das gilt im wesentlichen auch für den Anarchisten, ist ein Liberaler mit einer Handgranate. Er hat kein Vertrauen in die Arbeiterklasse und ihre Aktionen.
 

Bleiben wir bei der revolutionären Partei. Entscheidungen werden in ihr demokratisch herbeigeführt. Aber was den Zentralismus betrifft: wie werden solche Entscheidungen durchgesetzt, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt?

Wenn eine Mehrheit der Arbeiter sich für einen Streik entscheidet, dann brichst Du diesen Streik auch dann nicht, wenn Du der Meinung bist, daß er falsch ist. Du akzeptierst die Entscheidung.

Nehmen wir ein extremes Beispiel: Arbeiter streiken aus rassistischen Gründen. Ich würde selbst dann den Streik nicht brechen. Ich würde bei den Streikposten stehen und den Streik verurteilen. Ich würde sagen, daß dieser Streik falsch und reaktionär ist. Aber ich würde mich nicht über die demokratischen Entscheidungen von Arbeitern hinwegsetzen, das ist gar keine Frage.

Wenn eine Mehrheit eine Entscheidung trifft, dann muß sich die Minderheit daran halten. Die Minderheit muß allerdings immer das Recht haben, ihre Meinung zu vertreten und auch Einfluß auf die Meinung der Mehrheit zu nehmen. Sie muß das in offener Debatte tun, sozusagen Angesicht in Angesicht mit der Klasse und nicht geheim.
 

Was passiert, wenn sich die Minderheit weigert, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren?

Wenn sich die Minderheit entscheidet, den Streik zu brechen, um bei obigem Beispiel zu bleiben, dann hat die Mehrheit das Recht, die Minderheit daran zu hindern.
 

Was denkst Du über die vielen Gruppen in diesem Land, die glauben, daß die Revolution vor allem im Ausland stattfindet?

Ich sage natürlich nicht, daß bei uns die Revolution vor der Tür steht. So weit ist es noch nicht. Aber wir befinden uns in einer Umwälzung hin zu einer großen Erschütterung. Es gibt keine Zweifel daran, daß die 70er Jahre als die roten 70er in die Geschichte eingehen werden. Wenn nicht als die roten, dann als die schwarzen. Es gibt keine Wiederholung der Desorganisation wie in der Zeit nach 1948. Was meine Meinung bezüglich der anderen Gruppen betrifft: Ich glaube, daß die Mehrheit von ihnen nach Jahren der Frustration und Isolation verbittert ist. Sie akzeptieren ihre Schwäche und sie leben, sozusagen aus zweiter Hand, von den Kämpfen, die anderswo stattfinden.

Daher ist erklärbar, daß sie absolute Spezialisten sind, wenn es um die Pariser Kommune geht. Jeder von ihnen wird Dir darüber Vorträge halten, was die Pariser Kommunarden hätten tun sollen. Sie sind Bolivien-Experten, sie sind Vietnam-Experten und sie wissen alles, was Lenin einmal zu Plechanow gesagt hat. Aber über die Geschichte der englischen Arbeiterklasse sind sie kaum informiert, von der englische Arbeiterklasse haben sie keine Ahnung uns sie kümmern sich auch nicht um die Kämpfe hier im Land.

Und warum? Weil sie in Wirklichkeit längst besiegt sind. Sie sind besiegt, demoralisiert, weil sie nicht wahrhaben wollen, daß der Marxismus eine Anleitung zur Praxis ist. Sie denken, daß der Marxismus nur eine Beschreibung der Realität ist. Es ist aber dazu da, die Realität auch zu ändern.

Wenn das einzige, wonach jemand strebt, das Zeichnen eines Bildes vom Kapitalismus ist, statt den Kapitalismus zu stürzen, dann gibt es keinen Grund, warum man zusammenarbeiten sollte. Du kannst Dir Dein Bild vom Kapitalismus malen und ich male mir eben mein eigenes. Wenn wir hingegen den Kapitalismus nicht nur im Kopf, sondern auch in der Wirklichkeit bekämpfen wollen, dann müssen wir uns zusammentun.

Sektierertum entsteht, wenn man den Kampf immer nur im Kopf führt statt in der Realität. All das oben beschriebene Sektierertum entsteht, weil diese Leute den wirklichen Kampf längst aufgegeben haben.
 

Du bist kein Mitglied der Arbeiterklasse, Deine gesamte Philosophie bezieht sich aber auf die Arbeiterklasse. Ist das kein Widerspruch? Ist das nicht auch Stellvertretertum?

Nein, ganz im Gegenteil. Mit Stellvertretertum hat das nichts zu tun! Nehmen wir z. B. mein Buch über Produktivität. Mir kommt es nicht in den Sinn, zu verheimlichen, daß nicht eine in diesem Buch enthaltene Idee an der Universität entstanden ist. Nicht eine der im Buch enthaltenen Ideen wurde in einer Bibliothek erfunden oder ist Produkt meines „genialen Geistes“. Alle Ideen entstammen der Erfahrung von Arbeitern bzw. der Arbeiterklasse. Sie resultieren auch aus den Erfahrungen in der Vergangenheit.

Die Räte wurden von den russischen Arbeitern erfunden und Lenin verstand, wie hervorragend diese Organisationsform war. Die Arbeiter von Paris brachten die Pariser Kommune hervor. Marx war dann derjenige, der die große Bedeutung dieser Art von Arbeiterregierung verstand. Man lernt von den Arbeitern – für die Arbeiter. Man lernt von ihrem Kampf – für den Kampf. Genau aus diesem Grunde handele ich nicht stellvertreterisch.

 

Anmerkungen:

1. Gruppe Internationaler Sozialisten: Vorgängerorganisation der britischen Socialist Workers Party (SWP)

2. Moshe Dayan: israelischer General und Politiker; Feisal: irakischer König; Hussein: König von Jordanien; Nasser: ägyptischer Ministerpräsident; Ba’ath: arabische nationalistische Partei in Syrien und im Irak

3. Labour Party (Arbeiterpartei): Sozialdemokratische Partei in Großbritannien.

4. Tories: Konservative Partei Großbritanniens

5. Harold Wilson: Führender Politiker der Labour Party während der 1960er und 1970er Jahre. Premierminister von 1964–70 und von 1974–76.

 


Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2017