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Bevor wir damit beginnen, die gegenwärtigen Bedingungen der britischen Arbeiterbewegung zu betrachten, mag es von Nutzen sein, unsere Argumentation kurz zusammenzufassen. Wir begannen mit einer Untersuchung der Strukturveränderungen, die die britischen Kapitalisten in eine neue Lage gebracht haben, und versuchten die Gründe darzulegen, weshalb sie so sehr bemüht ist, eine Einkommenspolitik einzuführen.
Im besonderen wiesen wir auf das wachsende Bedürfnis nach Planung, die verstärkte Wirkung der internationalen Konkurrenz auf die Profitraten und den besonders aktuellen Druck der Zahlungsbilanzschwierigkeiten hin. Wir zeigten, daß die Unternehmer und die Regierung den Reichtum des Landes zu ungunsten der Löhne auf die Profite umverteilen wollen, wie es in einer Reihe. anderer hochentwickelter kapitalistischen Länder geschehen ist. In der Vergangenheit konnten unsere Herren an der Spitze durch Inflationspolitik verhindern, daß sich der Anteil des Arbeiters am Volkseinkommen erhöhte, aber die Bedingungen der internationalen Konkurrenz haben diese Lösung immer problematischer gemacht.
Wir untersuchten dann die Frage, ob die Regierung eine Einkommenspolitik einführen will, die auf alle Einkommen gleichermaßen angewandt wird, oder ob das eigentliche Vorhaben eine Art Lohnstop sei, und wir legten dar, daß die Einkommenspolitik nichts anderes als Lohnstop im Interesse höherer Profite bedeutet, da in einem kapitalistischen System Profite und Preise nicht kontrolliert werden können. Die Einkommenspolitik kann daher in keiner Weise als eine sozialistische Maßnahme angesehen werden.
Als nächstes prüften wir die Behauptung, eine Einkommenspolitik würde zum wirtschaftlichen Wachstum Großbritanniens beitragen, Ein Beispiel der Art, wie die Einkommenspolitik dieses Ziel erreichen könnte, wurde untersucht und als absolut nicht der Wirklichkeit entsprechend verworfen. Die unausweichliche Schlußfolgerung war, daß wegen der vielen unkontrollierbaren Faktoren im ökonomischen System Großbritanniens eine Einkommenspolitik fast nichts zum ökonomischen Wachstum beitragen könnte. Wir wiesen darauf hin, daß das ökonomische Modell, das wir untersucht und abgelehnt hatten, den meisten Planungsversuchen der Regierung zugrunde liegt, und zeigten den Unterschied zwischen der Art der Planung, wie sie die Wilson-Regierung versucht, und der sozialistischen Planung auf. Unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus ist es lächerlich anzunehmen, die Planung sei notwendigerweise eine antikapitalistsche Maßnahme.
Wir wandten uns dann der Art zu, wie Arbeiter ihre Löhne erzielen, und zeigten die wachsende Bedeutung der lokalen Verhandlungen in der Wirtschaft und die daraus folgende Lohnabweichung. Gleichzeitig legten wir dar, daß die zentralen Verhandlungen auf keinen Fall ihre Bedeutung verloren haben; sie sind immer noch eine der beiden wesentlichen Voraussetzungen für die Interessenvertretung der Arbeiter. Wir zeigten, daß die Annahme, die noch immer von vielen Gewerkschaftlern vertreten wird, eine Einkommenspolitik führe zu größerer sozialer Gerechtigkeit durch Neuverteilung des Reichtums von den bessergestellten zu den schlechter gestellten Teilen der Arbeiterklasse gänzlich falsch ist; je härter die Arbeiter in einer günstigen Verhandlungsposition für bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, desto mehr helfen sie ihren schwächeren Kollegen.
Daraus schlossen wir, daß vom sozialistischen Standpunkt aus nicht ein einziges vernünftiges Argument für ein. Einkommenspolitik im Kapitalismus spricht. Einkommenspolitik ist eine kapitalistische Maßnahme, die sich unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse richtet. Es ist selbstverständlich, daß Sozialisten und radikal Gewerkschaftler diese Politik und die Voraussetzungen, auf denen sie beruht, ohne jede Ausnahme zurückweisen müssen. Denn dies ist eine Politik, die die Arbeiterbewegung schwächen will. Wir wandten uns daher der Betrachtung zu, auf welche Weise der Kampf gegen die Einkommenspolitik am erfolgreichsten geführt werden könnte und wie gleichzeitig Schritte zur Stärkung der Arbeiterbewegung unternommen werden könnten. Wir wiesen darauf hin, daß die Gewerkschaftsbürokratie wegen ihrer zunehmenden Integration in die Maschinerie des kapitalistischen Staatsapparates keine Basis für eine grundlegende Opposition gegen die Einkommenspolitik bietet. Die Gewerkschaftsspitzen werden mehr und mehr zu einem Hindernis für den sozialistischen Fortschritt. Sie werden aber in immer größerem Maße von den wahren Führern der Arbeiterklasse, den Shop Stewards und ihren Organisationen verdrängt, und wir versuchten aufzuzeigen, wie wichtig die Komitees der Shop Stewards und ähnliche Organisationen auf Betriebsebene heute geworden sind, indem wir ihre Schwächen und Stärken analysiertem. Jede wahre Opposition zur Einkommenspolitik und jede Politik für den sozialistischen Fortschritt in Großbritannien muß zuerst und vor allen Dingen auf die Shop Stewards schauen.
Schließlich betrachteten wir noch die Vorschläge für eine Gewerkschaftsgesetzgebung, die Hand in Hand mit der Einkommenspolitik geht. Diese Vorschläge werden die Arbeiterklasse vor immer mehr gesetzliche Drohungen stellen, besonders durch den Versuch, wilde Streiks zu kontrollieren und zu bestrafen.
In diesem letzten Kapitel schließen wir mit einigen Kommentaren zu den Aussichten der sozialistischen Bewegung in Großbritannien.
In Großbritannien stand die Arbeiterklasse lange Zeit unter dem Einfluß der Ideologie parlamentarischer Reformen. Dieser Reformismus hatte ein Hauptmerkmal von besonderer Bedeutung für die Sozialisten. Als Ideologie schrieb er den Arbeitern vor: „Überlaßt es euren Führern – euren Parlamentsabgeordneten und Gewerkschaftsbossen – die Reformen für euch durchzusetzen.“ Dies bedeutete mit anderen Worten Reformen von oben und diese haben in der Bewegung der Arbeiterklasse eine lange Geschichte. Sie beeinflußten in entscheidender Weise das Denken und Handeln von Generationen von Arbeitern. Aber wie alle Verhaltensweisen wurzelte auch diese in einer besonderen Gesellschaftsform. Während der letzten Generation ist durch eine ganze Reihe von Strukturveränderungen des Kapitalismus – und damit verbunden auch der Arbeiterklasse – entscheidend der Einfluß dieses Reformismus vermindert worden. Diese Veränderungen können wie folgt zusammengefaßt werden: der Reformismus von oben beruhte auf einer besonderen Art der herrschenden Klasse, des Staates und der Arbeiterklasse. Alle diese drei haben sich verändert, und indem sie sich verändert haben, haben sich auch die Aussichten einer sozialistischen Politik in Großbritannien fundamental gewandelt. Wir werden sie nacheinander untersuchen.
Die Stellung der Besitzer und Kontrolleure der Industrie und der Hochfinanz hat sich beträchtlich verändert, besonders infolge des Anwachsens der einzelnen Firmen. Während des 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das typische Unternehmen entschieden kleiner als heute. Und der Markt, auf dem die Produktion abgesetzt wurde, war höchst konkurrenzfähig. Die Firmen waren nicht nur viel kleiner als heute, sondern es gab auch viel mehr von ihnen in einem bestimmten Produktionsbereich. Da sie klein und in starkem Wettbewerb untereinander waren, konnten diese einzelnen Firmen es sich nicht leisten, ihren Arbeitern mehr zu zahlen oder ihnen größere Zugeständnisse zu machen als ihre Konkurrenten. Ein Unternehmer, der seinen Arbeitern viel mehr bewilligte als die Konkurrenz, lief Gefahr, sich zu ruinieren.
Hinzu kam, daß die Wirtschaft einem Kreislauf von Konjunktur und Krise unterlag, und die für diesen Zeitraum der kapitalistischen Wirtschaft charakteristische Arbeitslosigkeit schaffte den Unternehmern eine Reservearmee von Arbeitslosen. In dieser Situation verspürten die Unternehmer kein besonders großes Bedürfnis, miteinander in Konkurrenz zu treten, indem sie ihren Arbeitern etwas mehr boten, damit sie bei ihnen blieben. Hierbei spielt noch eine Rolle, daß in einem viel größeren Maße als heute die Fach- und Hilfsarbeiter zwischen den Fabriken und Industriezweigen ausgetauscht werden konnten. Wenn also die Unternehmer gezwungen waren, den Arbeitern Verbesserungen zu bewilligen, so strebten sie danach, diese für alle und zur gleichen Zeit durch Vertretungen wie das Parlament durchzuführen. Das 19. und das frühe 20. Jahrhundert waren die Zeit der Reformen, die für die Arbeiter durch das Parlament erzielt wurden. Agitation und Propaganda im ganzen Land, konzentriert auf das Parlament, ermöglichte den Vertretern (oder Nicht-Vertretern) der Arbeiter viele Verbesserungen. Die Unternehmer waren dazu gezwungen, sich diesen Reformen zu fügen. Die Verbesserungen trafen gleichmäßig auf alle Arbeiter zu, und die Kosten dafür wurden von den Unternehmern allen gleichmäßig getragen. Auf diese Weise geriet kein Unternehmer seinem Konkurrenten gegenüber ins Hintertreffen.
Der letzte große Zeitraum für diese „Reformen von oben“ durch das Parlament, kam mit der Labour-Regierung nach dem 2. Weltkrieg. Aber wann immer es möglich war sorgten die Unternehmer natürlich dafür, daß die Verbesserungen, die den Arbeitern bewilligt worden waren, auch von den Arbeitern selbst bezahlt wurden. Alle möglichen administrativen Wege wurden entwickelt um sicherzustellen, daß die Sozialleistungen, die der Arbeiterklasse bewilligt worden waren, durch Beiträge von den Arbeitern und nicht den Unternehmern bezahlt wurden. Wenn eine Sozialleistung eine Neuverteilung der Verdienste einschloß, wurde dies so weit wie möglich dadurch erreicht, daß die besser gestellten Arbeiter die schlechter gestellten unterstützen mußten.
Aber der wichtigste Punkt ist, daß die Reformen, die zweifelsohne den allgemeinen Lebensstandard der Arbeiter in Großbritannien gehoben haben, von einer zentralen Stelle kamen. Die Reformen wurden von den Vertretern der Arbeiterklasse im Parlament und den Gewerkschaftsführern ausgehandelt.
Aber die Lage der Unternehmer hat sich geändert. Das typische Unternehmen von heute ist ein Großbetrieb, dessen Monopolkontrolle über den Markt zumindest auf nationaler Ebene die Konkurrenz stark vermindert. Weil die Unternehmer weniger Angst vor ihren Konkurrenten haben als bisher, sind sie eher dazu bereit, ihren Arbeitern von sich aus einzelne Reformen zuzugestehen.
Außerdem herrsche in der britischen Wirtschaft – mit Ausnahme einiger zurückgebliebener Gebiete wie Nordirland – seit Beginn des 2. Weltkrieges fast immer Vollbeschäftigung, und heute besteht sogar ein Mangel an Arbeitern. Mit dem Verschwinden der Reservearmee der Arbeitslosen ist die Arbeitskraft zur seltenen Ware geworden, und die Unternehmer bemühen sich, Arbeiter anzuwerben und zu halten. Maschinen und technische Anlagen in den Fabriken sind heutzutage beträchtlich kostspieliger als in der Vergangenheit und außerdem sehr viel komplizierter. Wegen der technischen Veränderungen wird es in vielen Industriezweigen – besonders in den neuen, schnell anwachsenden und technologisch fortgeschrittenen Industrien – zunehmend kostspieliger, Arbeiter auszubilden, und deshalb auch zunehmend kostspieliger, sie zu verlieren. Die Unternehmer hassen heute Arbeitsplatzveränderungen fast ebenso wie Streiks.
Als Folge dieser Veränderungen sind die Unternehmer in zunehmendem Maße dazu bereit, Reformen zu bewilligen und Änderungen in ihren Fabriken durchzuführen ohne Rücksicht auf das, was ihre Konkurrenten tun. Die Anzahl der zentral erreichten Reformen hat abgenommen, während die Zahl der Reformen innerhalb von Großbetrieben zugenommen hat. Dies gilt nicht nur für Löhne, sondern für sämtliche Verbesserungen. Ein Beispiel wird genügen.
Es wird dauernd davon geredet, daß wir in einem „Wohlfahrtsstaat“ leben, und man kann vernünftigerweise darauf schließen, daß der Kern aller Leistungen eines Wohlfahrtsstaates in der Altersversorgung besteht. Man könnte sich denken, daß Arbeiter sich mit ihren Rentenforderungen an die Parlamentsabgeordneten wenden müßten. Tatsächlich werden die Renten heute in zunehmendem Maße nicht mehr vom Parlament festgelegt, sondern ausschlaggebend dafür sind die Sozialleistungsabkommen der großen Unternehmen. Seit dem Kriege sind die privaten Rentenabkommen enorm angewachsen, was noch durch Steuervergünstigungen der Tory-Regierung unterstützt wurde. In der Mitte der 50er Jahre schätzte Professor Titmuss [1], daß die Kosten für diese privaten Rentenabkommen für die Staatskasse zwischen 2- und 3mal höher liegen als die Kosten für die staatlichen Rentenabkommen, obwohl diese privaten Abkommen einen viel kleineren Teil der Bevölkerung erfassen. Obwohl der größte Teil dieser privaten Altersversorgung an Betriebsleitungsangehörige und zu einem geringeren Teil an Büroangestellte geht, wurde Ende der 50er Jahre ungefähr die Hälfte der nicht in der .Landwirtschaft arbeitenden Bevölkerung von diesem Abkommen erfaßt, und die Anzahl wächst von Jahr zu Jahr. Nach der Rückkehr der konservativen Regierung 1951 ist der Anteil der Regierung an den Ausgaben für Sozialleistungen ständig gesunken. [2] Durch zunehmende Anwendung der Pauschalbeträge und vieler anderer Abkommen sind die wiederverteilenden Aspekte der Sozialleistungen in zunehmendem Maße reduziert worden. Seit dem Kriege ist der Ausgleich der Sozialleistungen in Großbritannien in entscheidender Weise zu ungunsten der Arbeiterklasse verlagert worden. Vor dem Kriege lagen die Krankheits-, Renten- und Arbeitslosengelder im Verhältnis sehr viel höher als heute. Auf der anderen Seite erhalten die Bessergestellten für ihre privaten Sozialeinrichtungen in zunehmendem Maße Steuervergünstigungen, ihre Kinder profitieren viel mehr von dem freien Erziehungssystem als die Kinder der Arbeiter usw.
Eine kritische Stimme fragte 1958: „Der Mittelstand erhält einen großen Anteil der öffentlichen Sozialleistungen, einen noch größeren Anteil der Beschäftigungssozialleistungen, und darüber hinaus kann er noch großzügige Steuervergünstigungen anfordern. Wer hat einen Wohlfahrtsstaat?“ [3]
Und Professor Titmuss gibt eine Antwort auf diese Frage: „Diejenigen, die den meisten Nutzen davon gehabt haben, sind diejenigen, die ihn am wenigsten gebraucht hätten.“ [4]
Langsam aber sicher sind die wesentlichen Merkmale der Sozialleistungen in Großbritannien in der Zeit seit dem Kriege beseitigt worden. Die Bedeutung der vom Staat geförderten zentralen Reformen hat abgenommen. Die Arbeiter haben heute nur noch wenig von nationalen Reformen zu erwarten und zu erhoffen. Und so ist auch die Rolle ihrer nationalen Vertreter, der Labour-Abgeordneten, nicht mehr so wichtig. Auch von ihnen ist heute weniger zu erwarten als vielleicht jemals zuvor.
Das bedeutet nicht, daß überhaupt keine Reformen mehr zu erwarten sind. Reformen können und werden noch durchgesetzt werden, aber in zunehmendem Maße ist der Ort, an dem dies geschieht, nicht das Parlament, sondern das riesige Unternehmen, das große Wirtschaftsreich des modernen Kapitalismus. Die Unternehmer ziehen diese Verfahrensweise vor.
Das zweite Moment, das tiefgreifend die Ideologie des Reformismus von oben und seine Bedeutung für die britischen Arbeiter in Frage stellte, war die veränderte Rolle des Staates.
Im letzten und auch noch zu Anfang dieses Jahrhunderts spielte der Staat in der Vorstellungswelt der Kapitalisten überhaupt keine Rolle, Entsprechend dem vorherrschenden ökonomischen Grundsatz sollte sich der Staat so weit wie möglich aus Wirtschaftsleben heraushalten. Die einzige Aufgabe des Staates in Wirtschaft und Produktion bestand darin sicherzustellen, daß Vertragspartner ihre Übereinkommen einhielten. Es war undenkbar, daß der Staat direkt in die geheiligte Freiheit des Marktes eingreifen könnte. Trotz des Elends, das harte wirtschaftliche Konkurrenz, immer wiederkehrende Arbeitslosigkeit und Armut verursachten, hielt sich der Staat aus dem Wirtschaftsleben heraus. Politik und Wirtschaft wurden – soweit dies möglich war – streng getrennt.
Diese Trennung von Politik und Wirtschaft führte dazu, daß die Arbeiter den Staat für „neutral“ hielten, als etwas betrachteten, was über dem Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern steht und nicht Partei ergreift. Es war auch nicht schwer zu glauben, daß, wenn nur eine genügend große Zahl von Vertretern der Arbeiterklasse ins Parlament gewählt würden, diese dann den Weg zum Sozialismus und einer gerechten Gesellschaft gesetzlich ebnen würden, Wenn man den Staat für neutral hielt, konnte man leicht Vertrauen in die Vertreter im Parlament haben und glauben, daß sie die Probleme der Arbeiter lösen würden.
Aber die Rolle des Staates hat sich geändert. Der Staat ist heute verantwortlich für ungefähr 45% der festen Investitionen in diesem Lande und für 25% der Produktion, Der Staat ist der größte einzelne Unternehmer in diesem Lande und auf keinen Fall der beste Arbeitgeber in Großbritannien, wie es die Bergarbeiter und die Eisenbahner in diesem Jahr wieder erfahren haben. Und der Staat ist so tief in das Wirtschaftsleben des Landes verwickelt, wie es noch vor dem letzten Krieg undenkbar gewesen wäre. Wie wir schon im ersten Kapitel feststellten sind die Unternehmen so riesig und ihre Investitionen so komplex, daß die Kapitalisten, wenn auch ungern, die Idee der Planung und Koordination von selten des Staates annehmen mußten. Da andere Länder in den Weltmarkt eingetreten sind und der Anteil Großbritanniens am Weltmarkt weiterhin gesunken ist, hat die internationale Konkurrenz auf viele Arten die Konkurrenz auf dem lokalen britischen Markt ersetzt, und das „nationale Interesse“ – das Interesse des britischen Kapitalismus –, das nur der Staat richtig bestimmen und durchsetzen kann, erhält zunehmende Bedeutung. So versucht der Staat heute mit Hilfe von NEDDY, dem Ministerium für Wirtschaftsangelegenheiten, dem Ausschuß für Preise und Einkommen und den vielen anderen Planungs- und Koordinationsstellen, die Planung des britischen Kapitalismus durchzuführen. Dies wird natürlich unter den Bedingungen der Kapitalisten durchgeführt, und wann immer es möglich ist, werden Geschäftsleute zur Unterstützung der Staatsbeamten herangezogen. So sind heute Staat und Industrie viel enger verbunden, Politik und Wirtschaft können kaum noch getrennt werden. Und es fällt schwer, den Staat weiterhin für neutral zu halten und anzunehmen, er stehe außerhalb des Konfliktes zwischen den Klassen. Tory oder Labour, es bestehen immer weniger Unterschiede: die heutige Regierung ist viel deutlicher eine Regierung der Unternehmer für die Unternehmer und durch die Unternehmer. Dies zeigt sich besonders deutlich an der schwindenden Macht des Parlaments gegenüber der Regierung. Warum sollten wir all unsere Hoffnung auf ein paar Labour-Abgeordnete richten, die doch nichts tun können, weil sie machtlos sind?
Auch die Führer der Gewerkschaften werden in den Planungs- und Koordinationsprozeß des Staates miteinbezogen. Sie sind, wie George Woodcock sagte, aus Trafalgar Square ausgezogen und in die Komiteeräume hinein (wo sie, wie wir bereits darlegten, prompt alle Macht verloren, auch nur irgendeinen bedeutsamen Einfluß auf die Regierung auszuüben). Die Führer der Gewerkschaften sitzen in unzähligen Regierungskomitees und Regierungsstellen und können doch die Regierungs- und Wirtschaftspolitik so gut wie gar nicht beeinflussen, Pur ihre Dienste für „die Nation“ erhalten sie Orden von der Regierung und Mißtrauen von den Mitgliedern. Es ist wohl nicht unfair, von ihnen und den Abgeordneten zu sagen: „Macht korrumpiert, aber Mangel an Macht korrumpiert noch mehr.“
So haben sich die herrschende Klasse und der Staat verändert. Aber auch die Arbeiterklasse hat sich verändert, und das ist der dritte und wichtigste Punkt.
Das erste und deutlichste Merkmal der heutigen Arbeiterklasse ist, daß die Arbeiter – besonders aufgrund der Vollbeschäftigung – materiell besser gestellt sind als früher. Im 19. Jahrhundert und bis zur großen Depression in den 30er Jahren war das Leben der Arbeiter in diesem Lande von Armut und regelmäßiger Arbeitslosigkeit alle 5 bis 10 Jahre bestimmt.
Wenn die Arbeiter in der Vergangenheit militant agierten, taten sie dies als Klasse. Betrachten wir die Streiks der 20er Jahre, große defensive Kämpfe in der Maschinenbauindustrie, bei der Eisenbahn, in den Bergwerken und schließlich der Generalstreik 1926, Dies waren meistens allgemeine Streiks, Streiks, in die die Arbeiter des ganzen Landes verwickelt waren. Sie sind ein Teil des radikalen Erbes der britischen Arbeiterklasse. Da sie allgemeine Streiks waren, wurden sie zentral von den Gewerkschaftsführern gelenkt. Auch hier war die Aufmerksamkeit notwendigerweise auf das Zentrum gerichtet und die Verbesserungen hingen zum großen Teil von Reformen von oben ab. Es ist richtig, wenn wir an die Errungenschaften der Arbeiterklasse in den 20er Jahren mit Stolz zurückdenken, aber wir sollten verhindern, angesichts dieser Vergangenheit sentimental zu werden. Als die Arbeiter in dem Zeitraum vor dem letzten Krieg stark waren, waren ihre Kämpfe oft hervorragend, aber Niederlagen und die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit ließ sie besiegt und demoralisiert zurück, und in der Folge gab es keine Politik der Arbeiterklasse mehr. Die Jahre um 1930 werden oft als die „roten Dreißiger“ bezeichnet aufgrund der Aktivitäten der Arbeitslosen, aber die 30er Jahre waren auch eine Periode mit nur geringer Streikaktivität und mit der höchsten Stimmenzahl für die Tones in diesem Jahrhundert, eine Periode, in der die Arbeiter sich wegen einer Stelle gegenseitig bekämpften und vor den Vorarbeitern buckelten, um ihre Stelle zu behalten, in der die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder zurückging und Verzweiflung und Demoralisierung sich ausbreiteten. Es stimmt, daß die Arbeiter in ihrer Armut oft einen erstaunlichen Sinn für Solidarität aufwiesen, aber dies war meist keine Solidarität im Kampf, sondern Solidarität in Elend und Niederlage.
Den Arbeitern, die wie so viele in den Jahrzehnten vor dem letzten Krieg von Armut und Arbeitslosigkeit entmutigt waren, sahen im Parlament und in den nationalen Gewerkschaftsführern die einzigen Instanzen, die fähig waren, ihre Probleme zu lösen, und dies, obwohl die Führer im Zentrum sie immer wieder, insbesondere in den Jahren 1926 und 1931, im Stich ließen. Unter den alten Bedingungen des Kapitalismus erschienen die zentralen Reformen, die Reformen von oben als die einzige sinnvolle Lösung. Wie anders ist das Bild der Arbeiterklasse heute! Das erste und bezeichnendste Merkmal der heutigen Arbeiterklasse liegt in der Tatsache, daß es ihr materiell besser geht als je zuvor, So viel besser, daß einige Autoren so weit gehen zu behaupten, viele Arbeiter seien dadurch zu Angehörigen des „Mittelstands“ geworden. Diese Autoren haben erklärt, daß die Tatsache, daß viele Arbeiter heute ein eigenes Auto haben oder ein Fernsehgerät oder eine Waschmaschine, sie in der Art ihres Handelns und Denkens zu Angehörigen des „Mittelstands“ gemacht habe und daß daher eine sozialistische Politik in Großbritannien keine Zukunft mehr habe.
Das ist natürlich barer Unsinn. Ein höherer Lebensstandard sagt nichts aus über die politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten eines Arbeiters. Wenn die Tatsache, ein Fernsehgerät oder ein Auto zu besitzen oder höhere Löhne zu verdienen einen Arbeiter dazu bringt, nicht mehr wie ein Arbeiter zu handeln, warum hat dann der steigende Lebensstandard in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Arbeiter nicht davon abgehalten, in die Gewerkschaften einzutreten? Wie erklärt es sich dann, daß immer mehr und nicht weniger Arbeiter den Gewerkschaften beitreten? Und warum ist die Mitgliederzahl der Gewerkschaften seit dem letzten Krieg angewachsen? Warum gibt es heute mehr Streiks als vor 10 Jahren? Warum gibt es mehr und nicht weniger Shop Stewards in den Gewerkschaften? Warum hat die Stimmenzahl für die Labour-Partei seit den 30er Jahren nicht abgenommen, sondern ist ständig gestiegen? Und wie erklärt es sich, daß das reichste Gebiet Großbritanniens heute – die Midlands – auch das Gebiet mit den meisten Streiks ist? Es wird deutlich, daß eine bessere Erklärung der Entwicklung der Arbeiterklasse vonnöten ist.
Die erste Veränderung, die stattgefunden hat, nämlich die zunehmende Gleichgültigkeit der Arbeiter gegenüber der „Politik“ (und auch vielleicht gegenüber Gewerkschaften), ist von vielen Autoren, die annehmen, die Arbeiter wären zu Angehörigen des „Mittelstands“ geworden, mißverstanden worden, Was bedeutet diese Veränderung in Wirklichkeit? Es stimmt sicherlich, daß die Mitgliederzahl der Labour-Partei von 1.005.000 im Jahre 1953 auf 830.000 im Jahre 1963 [5] gesunken ist. Und die Anzahl der Arbeiter, die an den Versammlungen der Gewerkschaftsabteilungen teilnehmen,ist tatsächlich sehr gering. Es stimmt sicherlich auch, daß viele Arbeiter sich heute kaum für politische Fragen interessieren. Aber im Hinblick auf die Tatsache, daß auf dem innenpolitischen und gewerkschaftlichen Gebiet für die Arbeiter nichts zu gewinnen ist, ist dies nicht sehr überraschend. Darum sollten sich Sozialisten und Radikale nicht sorgen – sie hätten mehr Grund zur Sorge, wenn die Arbeiter großes Interesse am Parlament zeigten, denn das würde bedeuten, daß die Arbeiter nicht erkannt haben, daß vom Parlament heute nichts mehr zu erwarten ist!
Ein wichtiger Faktor ist, daß die Arbeiter ihre Aufmerksamkeit und ihre Militanz den Gebieten zugewandt haben, wo noch tatsächliche Vorteile gewonnen werden können und gewonnen werden. Und das bedeutendste dieser Gebiete ist natürlich die Betriebsebene. Hier wird ein ständig wachsender Anteil ihrer Löhne erzielt, und wenn überhaupt irgendwo, dann können hier die Sozialleistungen vereinbart werden. Ein Arbeiter geht heute eher zu den Versammlungen der Shop Stewards als zu den Gewerkschaftssitzungen; und er scheint mehr an der Wahl der Shop Stewards als an der Wahl der lokalen oder nationalen Gewerkschaftsführer interessiert zu sein.
Ein anderer wichtiger Faktor für die Arbeiterbewegung seit dem Kriege war die zunehmende Erfassung in Gewerkschaften der „Stehkragenarbeiter“ (Angestellten). Da die Hand-Arbeiter stärker und besser organisiert sind und so ihre Löhne hochtreiben konnten, sind die Unterschiede zwischen ihnen und den „Stehkragenarbeitern“ geringer geworden, Dadurch wurde diesen immer deutlicher, daß sie sich organisieren müssen, wenn sie ihre Stellung wahren wollen, Auch sind mit der wachsenden Bürokratisierung der Büros und auch der Fabriken ihre Arbeitsbedingungen denen der Handar- heiter immer ähnlicher geworden. In einigen Teilen ihres Arbeitsbereiches ist die Büroarbeit genauso automatisiert wie die Arbeit in der Fabrik auch. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Gewerkschaften unter den Stehkragenarbeiternm seit dem Kriege die meisten Mitglieder gewonnen haben, besonders bei dem technischen und hochspezialisierten Personal in der Industrie.
Während der 11 Jahre zwischen 1950 und 1961 verzeichneten die führenden Gewerkschaften der Nicht-Handarbeiter folgende Zunahme: Vereinigung des Aufsichtspersonals, Be~mte und Techniker 128,9%, Vereinigung der Büro- und Verwaltungsarbeamter 92,5%, Vereinigung der Zeichner und Techniker 56,5%, nationale und lokale Regierurigsangestellte 44%, Gesellschaft der Technischen Staatsbeamten 40,7%. Außerhalb der TUC (obwohl auch diese die Möglichkeit des Eintritts diskutiert) gibt es noch die Vereinigung der höheren Staatsbeamten, die sich im gleichen Zeitraum um erweiterte. [6]
Trotz dieser Zunahmen ist der Mitgliederstand der Stehkragen-Organisationen noch ziemlich niedrig, obwohl der Trend sehr wichtig ist. Die erfolgreichsten dieser Gewerkschaften haben bei der Durchführung der Forderungen ihrer Mitglieder große Radikalität gezeigt, und dies scheint zweifelsohne der Grund für ihren Erfolg gewesen zu sein. So erklärt beispielsweise DATA jeden Streik ihrer Mitglieder als offiziell, und da sie praktisch keine Streikgelder zur Verfügung hat, verläßt sie sich ganz auf die Beiträge der Mitglieder, um den streikenden DATA-Mitgliedern volles Gehalt zu zahlen. Die Aussicht, daß eine riesige Anzahl Stehkragenarbeiter den Gewerkschaften beitreten, bereitet den Unternehmern große Sorgen, zumal die Stehkragen-Gewerkschaften immer rädikaler werden. Im Juni 1964 zirkulierte bei den der „Confederation of British Industries“ (Konföderation der britischen Unternehmer) angeschlossenen Unternehmern ein vertraulicher Bericht, in dem der folgende Abschnitt stand:
Trotz des begrenzten Ausmaßes, in dem die Angestelltengewerkschaften bisher erscheinen, haben einige Mitglieder des Komitees für Löhne und Arbeitsbedingungen berichtet, daß die Angestellten sich in zunehmendem Maße den Gewerkschaften anschließen und daß diese Tatsache es den Unternehmern sehr erschwert, dem Druck der Angestelltengewerkschaften bei den Verhandlungen zu widerstehen. Es wurde festgestellt, daß Angestelltengewerkschaften wegen der Art der Arbeiter, die sie vertreten, im allgemeinen radikaler und effektiver als die Gewerkschaften der Handarbeiter sind und daß jede Entwicklung der Angestelltengewerkschaften in größerem Umfang ein ernstes Problem für die Unternehmer darstellen wird. [7]
Auseinandersetzungen mit der Regierung haben auch Auswirkungen auf die Radikalität dieser Gewerkschaften gehabt: die Erfahrungen, die sie 1962 gemacht haben, als Selwyn Lloyd die Zahlung der Gehälter einstellte, hat zweifelsohne beigetragen zu der Entscheidung der NALGO, der TUC beizutreten, und zu dem plötzlichen Anwachsen der Radikalität.
Die Veränderungen in Großbritannien – daß Leute, die sich immer als Mittelstand und über den Handarbeitern stehend betrachteten, den Gewerkschaften beitreten und sich radikalisieren – können scheinbar nur dadurch erklärt werden, daß nicht die Arbeiter „Mittelstand“ werden, sondern ein großer Teil der Leute, die sich selbst als „Mittelstand“ bezeichneten, jetzt zu erkennen beginnen, daß auch sie Arbeiter sind. Viele von ihnen kommen doch aus Arbeiterfamilien, und so ist das nicht weiter verwunderlich. Je mehr Stehkragenarbeiter sich organisieren und radikalisieren, desto mehr wird die Arbeiterbewegung gestärkt werden.
Wenn wir die Bewegung als ganze betrachten, so gibt es zwei beherrschende Merkmale von besonderer Bedeutung für Sozialisten. Das erste gibt Anlaß zur Beunruhigung, wenn auch nicht zum Pessimismus, und das zweite gibt Anlaß zum Optimismus.
Wie wir bemerkten, fühlten, sich die Arbeiter in der Periode vor dem Krieg, als die Arbeiterklasse radikal agierte als eine Klasse und handelte auch als eine Klasse. Der Generalstreik war der natürliche Ausdruck dieser Situation. Heute ist die Lage anders. Wir haben eine militante Arbeiterklasse, die immer öfter für kürzere Zeit in den Streik tritt und die sich ihrer Streiks mehr denn je bewußt ist. Aber wie die Streiks zeigen, sind die Kämpfe heute in der Hauptsache lokal und zersplittert. Die allgemeinen Bedingungen des Klassenkampfes ändern sich.
Heute erreichen die Arbeiter Zugeständnisse der Unternehmer in kleinen Gruppen, und der relativ kleine, zersplitterte Streik oder die Arbeitsverlangsamung ist der natürliche Ausdruck davon.
Obwohl auf lange Sicht eine Verbesserung für einen Teil eine Verbesserung für alle bringt, scheint es im Augenblick, als ob einige Arbeiter ihre Lage schneller als andere verbesserten. Und auf kurze Sicht scheinen die Streitpunkte der einzelnen Gruppen wenig Ähnlichkeit miteinander zu haben. Die Arbeiter kämpfen heute in kleinen Gruppen und nicht oft als Klasse. Die Kämpfe gegen Unternehmer auf der Betriebsebene, die Kämpfe, die mehr als alles andere die Stärke der Arbeiter aufzeigen, haben nicht von sich raus zur Folge, daß die Arbeiter sich zusammentun, da sie hauptsächlich als private Kämpfe der Arbeiter in einem Betrieb oder einer Fabrik angesehen werden. Sie ziehen nicht notwendigerweise die Aufmerksamkeit oder Sympathie der Arbeiter in anderen Betrieben oder Fabriken, ganz abgesehen von anderen Industrien, auf sich, obwohl der Sieg oder die Niederlage einer Arbeitergruppe in der Tat Sieg oder Niederlage für beträchtlich mehr Arbeiter als die direkt in den Kampf verwickelten bedeuten kann. Diese Zersplitterung der Aktion geht Hand in Hand mit der gegenwärtigen Interesselosigkeit gegenüber größeren politischen Entscheidungen, über die schon so viele Autoren geschrieben haben, Diese Apathie ist sehr gut beschrieben worden als das Stadium, in dem Leute private Lösungen für öffentliche Übel suchen. [8]
Indem sie kämpfen und in relativ kleinen isolierten Gruppen an verschiedenen Orten Forderungen durchsetzen, neigen die Arbeiter ohne Zweifel dazu, den Sinn für den Klassencharakter, den die Sozialisten in ihrem Kampf sehen, zu verlieren. Und da die Arbeiter ihre Kämpfe als private ansehen, laufen diejenigen, die weder die Fähigkeit noch die Macht haben sich zu organisieren, Gefahr zurückzubleiben. Wie wir im Kapitel über die Löhne darlegten bereiten die Arbeiter, die eine gute Kampfposition für Lohnforderungen haben, den Boden für diejenigen, die weniger gute Aussichten haben, und geben ihnen den Anreiz durchzuhalten, Aber es gibt einige Leute in der Arbeiterklasse, die nichts haben, womit sie kämpfen können, und diese werden zurückgelassen. Dies erklärt mehr als irgendetwas anderes die Fortdauer (und das Anwachsen) der Armut nach dem Kriege in Großbritannien.
1953 bis 1954 hatten ungefähr 8% der Bevölkerung – fast 4 Millionen Menschen – einen Lebensstandard, der nicht höher lag als der einer staatlich unterstützten Familie. Vorläufige Ergebnisse für 1960 zeigen, daß sich die Zahl fast verdoppelt hat. 7,5 Millionen Menschen lebten in Haushalten mit Einkommen von der Höhe oder sogar unter dem durchschnittlichen Betrag, der den staatlich unterstützten Familien zugestanden wird. 2 Millionen hatten weniger als den Mindestbetrag, mit dem man laut offiziellen Angaben gerade noch leben kann. [9]
Wer sind diese Leute? Bezeichnenderweise die Rentner, die Kranken, die geistig Behinderten, die Hilfsarbeiter mit großer Familie und andere. Alles Leute mit wenig oder überhaupt keiner Macht, verhandeln zu können. Das sind die Leute, denen Solidarität in bezug auf ihren Lebensstandard sehr viel bedeuten könnte, und das sind die Leute, die am wenigsten daran teilhaben. Sie stellen im ganzen 15% der Bevölkerung dar.
Ein weiterer Faktor, der mit den zersplitterten Kampfbedingungen zusammenhängt, ist das Vorurteil vieler Arbeiter gegenüber Farbigen. Etwa 95% der Handarbeiter sind begünstigt durch das reaktionäre White Paper der Labour Regierung über Einwanderungskontrolle, Es ist darum nicht überraschend, daß die Arbeiter von Smethwick im Maschinenbauindustriegürtel in den Midlands die abstoßende, aber doch sehr erfolgreiche Kampagne des Tory-Abgeordneten Peter Griffiths in der Wahlkampagne 1964 nicht stoppten. Wenn der augenblickliche Klassenkampf nicht noch andere Ziele als den offensiven Kampf der Arbeiter gegen ihre Unternehmer für höhere Löhne und bessere Bedingungen haben sollt ist es schwierig zu erkennen, welche Berührungspunkte es zwischen den Arbeitern in ihren verschiedenen Situationen geben könnte. Es ist zweifelhaft, ob die Einheit der Arbeiterklasse in der Offensive gebildet werden kann und wird.
Zwei Dinge im gegenwärtigen Kapitalismus scheinen die Arbeiter zusammenzuschließen Das erste ist die fortlaufende Tendenz zur Bildung immer größerer Produktionsstätten, Übernahmen und Zusammenschlüsse nehmen zu und schaffen die Bedingungen für vereinte Aktionen in Werkskomitees, die die Arbeiter von verschiedenen Fabriken und verschiedenen Gebieten zusammenfassen und ihre gemeinsamen Probleme hervorheben. Da das typische große Unternehmen von heute in der Tat eher eine Gruppe von Industriezweigen umfaßt als auf einen engen Produktionszweig beschränkt ist, sind die Bedingungen für Verbindungen über einzelne Industriezweige hinweg geschaffen.
Das zweite ist der Angriff auf die Arbeiter. Wie zersplittert die Aktionen der Arbeiter gegen die Unternehmer auch sein mögen, so wird ihre Auswirkung auf die Bosse doch als allgemeiner Angriff aufgefaßt. Die Unternehmer und der Staat können nicht für ihren Gegenschlag gegen die Arbeiterklasse einzelne Gruppen herausgreifen Ihre Einkommenspolitik und ihre Gesetze gegen wilde Streiks und die Kürzung der Sozialleistungen treffen alle Arbeiter als Mitglieder der Arbeiterklasse und nicht nur als Maschinenbauer aus den Midlands oder Eisenbahner aus London. Besonders an dem Punkt, wo die Arbeiter durch den allgemeinen gegen sie gerichteten Angriff zur Einigung gezwungen werden können, Schritte zur Einigung hin unternommen werden. [10] Nicht an dem Punkt, wo die Offensiven vorbereitet werden, sondern wo man sich auf Defensiven einstellt. Dies sind vor allem die Gebiete, die die Sozialisten in ihrer Propaganda hervorheben sollten, die Punkte, an denen die Militanz der Arbeiter vereinigt werden kann.
Wir begannen mit einer Diskussion der Wurzeln des Reformismus von oben, das lange und tödliche Vertrauen auf die Repräsentanten, das sich tief in das Bewußtsein und die Aktivitäten der britischen Arbeiter festgesetzt hat, Heute ist diese Tradition schwächer als je zuvor. Wenn wie heutzutage die Arbeiter ihre besten Lohnerhöhungen nicht durch zentrales Verhandeln oder ihre besten Renten nicht vom Staat erziehen, wenn Arbeiter immer weniger von ihren Vertretern im Parlament und in der Führung der Gewerkschaften erwarten können, besteht bei den Sozialisten ein guter Grund zum Optimismus.
Das Zurückgehen der Reformen von oben in Großbritannien bedeutet eine neue Möglichkeit für die britische Politik – die Möglichkeit dar Wiedergeburt einer revolutionären Arbeiterklasse. Denn wo immer Arbeiter für sich selbst kämpfen, ob für bessere Löhne, zur Verteidigung ihrer Shop Stewards oder für ihr Recht auf Kontrolle ihrer Arbeitsbedingungen, wo immer sie Angelegenheiten selbst klären und dies nicht den Führern überlassen, werden sie in zunehmendem Maße selbstbewußt und bekommen mehr und mehr die Fähigkeit, ihre Angelegenheiten selbst zu lösen. Wo immer sie diese Dinge tun, zerstören sie die Tradition des Reformismus von oben. Sie entwickeln eine neue Tradition der „do-it-yourself“ Reformen, die ein Ausdruck ihres Selbstvertrauens und ihrer Selbstsicherheit sind.
Vor mehr als 100 Jahren wurde in London die Internationale Vereinigung der Arbeiter – die Erste Internationale – gegründet. Der Einleitungssatz der Allgemeinen Grundsätze, von Karl Marx geschrieben, lautet:
... die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein ...
Niemand kann den Sozialismus für die Arbeiter ereeichen, sie müssen es selbst tun, indem sie auf ihre eigene Stärke und ihre eigene Organisation vertrauen. Wo immer „do-it-yourself“ Reformen erzielt werden, wird die Saat des Sozialismus als Selbstbefreiung der Arbeiterklasse gesät.
Es stimmt, die Arbeiterklasse Großbritanniens ist zersplittert. Aber sie ist auch die latent revolutionärste Arbeiterklasse in der Geschichte Großbritanniens. Die Hauptaufgabe der Sozialisten besteht darin, alles zu tun, um die Arbeiter zu vereinen und die Bewegung von unten zu ermutigen.
Angesichts der massiven Kampagne gegen die Shop Stewards und gegen die wilden Streiks müssen die natürlichen Fähigkeiten der Shop Stewards voll entwickelt und entfaltet werden. In der Vergangenheit haben die Shop Stewards viel Talent gezeigt, ihre Arbeitskollegen zu organisieren, indem sie neue und erfolgreiche Kampfmethoden trotz des Zusammenhaltens von Unternehmer, Staat und Gewerkschaftsbürokratie aufgegriffen haben. Diese Kämpfe sind aber, wie wir bereits sagten, in der Hauptsache gegen den einzelnen Unternehmer gerichtet gewesen. Jetzt sehen sie sich der Aufgabe gegenüber, die Shop Stewards in anderen Firmen, in anderen Gebieten und in anderen Industriezweigen zu organisieren und sich selbst gegen einen mächtigen Zusammenschluß der Unternehmer, der Regierung und der Gewerkschaftsbosse zu verteidigen, die alle gleichermaßen entschlossen sind, dieses Mal die Shop Stewards zu zerschlagen und damit natürlich den Willen der restlichen organisierten Arbeiter zu brechen.
Diese Drohung, der sich die Shop Stewards gegenübersehen, ist ihnen die Möglichkeit, sich in eine breite Bewegung umzuwandeln. Und die Tatsache, da der Angriff gegen sie von einer Labour-Regierung unternommen wird, zeigt die Notwendigkeit sowohl einer politischen als auch einer betrieblichen Antwort von der breiten Mitgliederbasis in den Fabriken, den Docks und anderswo.
Die wichtigste Aufgabe eines jeden Arbeiters ist es dafür zu sorgen, daß seine eigene Organisation eine Kampforganisation ist, daß in jeder Fabrik und an jedem Arbeitsplatz ein Shop Steward Komitee existiert (das alle Shop Stewards ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zur Gewerkschaft und auch Stehkragenarbeiter und Konstrukteure umfaßt), daß jedes Werk mit verschiedenen Fabriken zusammengelegte Shop Steward Komitees hat, die die Aktivitäten koordinieren und Zersplitterungsversuche der Unternehmer verhindern. Allgemeiner ausgedrückt, die einfachen Mitglieder müssen Organisationsformen finden, die die Arbeit übernehmen können, die früher die lokalen Gruppen der „Trade Councils“ bildeten. Nur müssen die neuen Organisationen mehr auf den Fabriken als auf den jeweiligen Wohnplätzen der Arbeiter beruhen.
Die meisten dieser Entwicklungen stehen noch ganz am Anfang, aber die Bedrohung der Shop Stewards ist jetzt so akut, daß die Ausführung dieser Aufgaben beschleunigt und in relativ kurzer Zeit beendet sein muß, um die Bedingungen für. die Bildung einer nationalen Shop Stewards Bewegung zu schaffen – eine Idee, die seit dem 1. Weltkrieg fast einzig in den Köpfen derjenigen existiert hat, die Harold Wilson als „Zerstörer“ bezeichnet und die wir als die Begründer der mächtigsten sozialistischen Bewegung in der Geschichte Großbritanniens betrachten.
1. Richard M. Titmuss, Pension Systems and Pepulation Change, in: Essays on The Welfare State, London, 2. Auflage 1963, S.63
2. Siehe Nigel Harris, The Decline of Welfare, in International Socialism 7, Winter 1961
3. Brian Abel-Smith, Whose Welfare State, Conviction, London 1958
4. Titmuss, The Irresponsible Society, in Essays on The Welfare State, a.a.O., S.229
5. Perry Anderson, Problems of Socialist Strategy, in, Perry Anderson u. Robin Blackburn, Towards Socialism, London 1965, S.252
6. Clive Jenkins, Tiger in a White Collar?, in: Penguin Survey of Business and Industry 1965, S.60. Diese Zahlen, besonders die für die ASSET, scheinen ein wenig zu hoch zu sein.
7. Zitiert in Clive Jenkins, a.a.O., S.55-56
8. Der Ausdruck stammt von Edward Thompson, siehe seinen Aufsatz At the Point of Decay, in Out of Apathy, London 1960
9. Tony Lyne, Poverty in the Welfare State, in. Aspect, August 1963; zitiert bei Robin Blackburn, The New Capitalism, in Tovarde Socialism, a.a.O., S.139
[10. In dieser Hinsicht ist die gegenwärtige Situation weit günstiger für die Entwicklung einer vereinigten Shop Steward Bewegung als die Lage während des 1. Weltkriegs. Im letzteren Fall ging die Offensive der Regierung um die Fragen Verdünnung und Kriegsdienst. Diese beiden Fragen – Verdünnung, da, während sie den ökonomischen Schutz der Facharbeiter bedrohte, sie die Beförderungschancen der weniger Ausgebildeten vergrößerte; Kriegsdienst, da lange Zeit die Facharbeiter befreit davon waren – hatten unmittelbar eine spalterische Wirkung auf die Arbeiterklasse, indem sie Dienstgrad gegen Dienstgrad stellten. Die Bedrohung der Einkommenspolitik und der Anti-Gewerkschafts-Gesetzgebung heute bewirken auf alle Dienstgrade.] [1*]
1*. In der deutschen Ausgabe, die dieser Veröffentlichung zugrunde liegt, fehlt diese Anmerkung. Die Übersetzung hier stammt von REDS – Die Roten.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003