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Während der letzten Jahre ist die Frage der „Einkommenspolitik“ mehr und mehr an die Öffentlichkeit gedrungen. Die Labour Party und Gewerkschaftskonferenzen haben hitzig darüber debattiert, die Tories wurden 1962 zur „Einkommensplanung“ bekehrt, die augenblickliche Labour-Regierung ist von der Notwendigkeit einer „Einkommenspolitik“ überzeugt und so weiter usw. Um verstehen zu können, warum diese Frage während der letzten Jahre so wichtig geworden ist, müssen wir die veränderte Situation derjenigen begreifen, denen die Industrie gehört und die sie kontrollieren, d.h. die veränderte Situation der kapitalistischen Klasse.
Erstens haben im heutigen Kapitalismus die individuellen Investitionen des „Big Business“ enorm Zugenommen, sowohl an Größe als auch an Zeit, die zur Amortisation gebraucht werden. Und gleichzeitig haben sich auch die mit den Investitionen verbundenen Risiken vergrößert, da das Tempo der technologischen Veränderungen heute schneller denn je ist. So wie es stimmt, daß das rapide Voranschreiten der Technologie heute sehr hohe Profite ermöglicht, wenn Investitionen an der richtigen Stelle vorgenommen werden, so stimmt es auch, daß bei Fehlinvestitionen heute der Verlust höher ist. Zweitens hat sich die Gefahr des Veralterns (Maschinen etc., die nicht mehr auf dem höchsten Stand der Technik sind) während der jetzigen technologischen Revolution radikal vergrößert. Drittens, ist der Druck der internationalen Konkurrenz größer als bisher, und wurde noch verstärkt durch das systematische Abbauen der internationalen Handelsschranken seit 1950, vor allem innerhalb der EWF und der EFTA.
Wegen dieser Entwicklung ist es für die Aufsichtsräte unter jetzigen kapitalistischen Bedingungen notwendig geworden, für eine Reihe von Jahren mit einer gewissen Sicherheit und Garantie planen zu können. So wurde die Planung für große Unternehmen wichtig.
Es ist in der Tat charakteristisch für die moderne kapitalistische Planung daß der Anstoß, bei den scheinbar spekulativen Vorhaben mit langfristiger Planung zu beginnen, von den Industriezweigen kommt, die glauben, daß sie wegen ihrer technischen Struktur gezwungen sind, große unteilbare Kapitalblöcke Projekten zuzuwenden, die sich erst nach einigen Jahren bezahlt machen werden.
Eine systematische ökonomische Analyse, vorzugsweise in Zusammenarbeit mit anderen ähnlich gelagerten Industriezweigen, deren Entscheidungen auch das Ergebnis beeinflussen werden, ist dann offensichtlich der Weg, das Risiko zu reduzieren. In Großbritannien war es die Stahlindustrie, die auf diesem Gebiet die Initiative ergriff. Das „Iron and Steel Board“ eine öffentliche Agentur der Unternehmer dieses Indüstriezweiges, die in den frühen 50er Jahren gegründet worden war, um diesen Industriezweig zu überwachen, war der Meinung, daß seine Versuche, die Richtung der Stahlinvestitionen zu lenken und nachzuprüfen, ob ihr Umfang den Erfordernissen entsprach, eine genaue Überprüfung der Trends in der ganzen Wirtschaft erforderte. Das dritte 5-Jahres-Entwicklungsprogramm, herausgegeben im Jahre 1961, war in gewisser Weise ein Leitprogramm für das Planungsverfahren auf allen Gebieten, womit die britische Regierung dann mit Schaffung des National Economic Development Council [Oberster Planungsrat] 1962 begann. [1]
Als Illustration der Tendenz, daß es heute eines immer längeren Zeitraums bedarf, bevor Investitionen sich bezahlt machen, wird das folgende Beispiel neuen Datums genügen. Im Juli 1965 übernahm die British Motor Corporation (BMC) die riesige Pressed Steel Company für 33½ Mill. £. Ende Dezember 1965 verkaufte BMC, zum Teil um einer Untersuchung der Monopolies Commissions zu entgehen, die Pressed Steel Fabrik bei Linwood in der Nähe Glasgows an die Chrysler-Rootes Gruppe. Für diese eine Fabrik zahlte Rootes 14½ Mill. £. Was hierbei von Interesse ist, sind die Zahlungsbedingungen: Rootes zahlte 3.6 Mill. Pfund bar, mit der Zusage, weitere 2. Mill. Pfund Ende 1971 zu zahlen. Das Handelsministerium lieh die restlichen 8.9 Mill. (zu einem unveröffentlichten, aber ohne Zweifel sehr günstigen Hypoteken satz). [2]
Was das Risiko der veraltenden Anlagen betrifft, brauchen wir uns nur zu erinnern, was allgemein in den Vereinigten Staaten gesagt wird, daß nämlich jedes existierende Flugzeug veraltet ist, und daß viele Flugzeuge oder Raketen schon überholt sind, bevor sie noch vom Reißbrett kommen. Das gleiche trifft, wenn auch nicht so drastisch, auf andere Produkte zu. Die riesige Britische ICI bringt ein aktuelles Beispiel:
In Wilton on Tees-side legen Ingenieure von Kel1og International letzte Hand an eine neue riesige Raffinerie, die 200.000 Tonnen im Jahr produzieren wird. Wenn die Produktion im Frühjahr anläuft, wird es die größte Raffinerie Großbritanniens sein. Schon nächstes Jahr wird sie es nicht mehr sein, wenn nämlich der 450.000 Tonnen Super-Riese, der von Lummus gebaut wird, in Betrieb genommen wird. Glänzendes Metall im Werte von ungefähr 7 Mill Pfund wartet dann darauf „eingemottet“ zu werden – ein alarmierender Preis für den technischen Fortschritt. [3]
ICI ist Großbritanniens größte Herstellungsfirma, und die drohende Gefahr des Veraltens, die im obigen Beispiel erläutert ist, drückt sich auch in der sich verändernden „Wertverlustspolitik“ der Firma aus:
Der Zeitraum der Entwertung des Maschinenparks bei ICI, der vor dem Kriege normalerweise 20 Jahre betrug, verminderte sich von 1950 an, als, wie es der Vorsitzende ausdrückte, die Firma begann, für neue Projekte in Zeiträumen von 15 Jahren zu denken. In den frühen 60er Jahren sank die Spanne auf 12-15 Jahre; und in letzter Zeit ist der mittlere Zeitraum für neue Anlagen auf 10 Jahre herabgesunken. Für einige Arten von Investitionen, bei denen das Risiko der technischen Veralterung sehr groß zu sein scheint, beträgt die Amortisationsperiode 5-7 Jahre. (Information von Paul Chambers, Vorsitzender von ICI.) [4]
Die Forschung nimmt einen immer größeren Platz in der Produktion ein. Nach Meldung der National Institute Economic Review, gab die Amerikanische Luftfahrtindustrie 1959 für die Forschung eine Summe aus, die 55,7% des Wertes ihrer Nettoproduktion von 1958 entsprach. Die Zahl für die elektronische Industrie lag bei 36,5%. [5]
Der Konkurrenz wegen wird die Forschung im geheimen betrieben, und jede Firma ist gezwungen, riesige Geldsummen für Forschung auszugeben, die schon lange bevor sie irgendwelche konkreten Resultate hervorbringt, überholt sein kann.
Die langfristigen Investitionen und die häufigen technologischen Veränderungen drängen viele Firmen zu Versuchen der langfristigen Kontrolle über alle Kosten – und besonders über Lohnkosten. Daher benötigen die Unternehmer einen größeren Zeitraum mit fest abgemachten Vereinbarungen über ihre sozialen Verpflichtungen – Löhne, Arbeitsstunden, Produktivität – so daß sie den Bereich, in dem sie die Arbeit ihres Betriebes vorausplanen, erweitern können.
Ein anderer Grund, warum die Unternehmer eine Einkommenspolitik brauchen, kann darin gesehen werden, daß die Ungleichheit der Bedingungen auf verschiedenen Sektoren der kapitalistischen Industrie in ein und demselben Land zunimmt. Während Industriezweige mit hoben Wachstumsräten die bei Vollbeschäftigung relativ hohen Löhne leicht aufbringen können, ist es für andere langsam wachsende Industriezweige viel schwieriger, diese zu zahlen. Die traditionelle kapitalistische Lösung, in der Probleme einfach dem „laissez faire“ überlassen werden, würde unter den jetzigen Bedingungen der hohen Kapitalkonzentration die herrschende Klasse auseinanderreißen. In der jetzigen Situation kann die not endige Lösung nur durch Intervention des Staates erfolgen, um damit sicherzustellen, daß die Löhne nicht schneller steigen, als die zurückgebliebenen Industriezweige aufbringen können. [6]
Ein weiterer Faktor, der die Kapitalisten zwingt, Ihre Kosten, und vor allem die Lohnkosten, in größeren Maße vorauszuplanen, ist die zunehmende Tendenz des Falls der Profitrate. Dies ist die Folge der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz.
In den ersten zehn Jahren nach dem Kriege, als der Wiederaufbau von Deutschland, Frankreich, Italien und Japan gerade abgeschlossen war, war es für die Kapitalisten ein leichtes, die Preis heraufzusetzen, wenn die Löhne erhöht wurden. Schließlich bestand der Unternehmerverband, der der Lohnerhöhung zustimmte, aus genau den gleichen Personen wie die Handelsvereinigung (trade association), die die Preise festsetzte. Da die Weltpreise bis zum Ende der 60er Jahre unaufhörlich stiegen, konnte wenig getan werden, die Kapitalisten daran zu hindern, Lohnerhöhungen durch Heraufsetzen ihrer Preise, selbst auf dem Exportgebiet, auszugleichen! Aber als die internationale Konkurrenz zunahm, sanken die Profitraten. Nehmen wir den Fall der britischen Maschinenbauindustrie, die 1/3 aller Waren in Großbritannien herstellt, und mehr als die Hälfte des gesamten britischen Exports ausmacht – die folgende Tafel bezeugt die unbestreitbare Tendenz des Falls der Profitrate:
Brutto- und Nettogewinne in Prozenten des Gesamtumsatzes des Maschinenbaus [7] |
||||
---|---|---|---|---|
Nicht-elektrischer |
elektrischer |
|||
Brutto |
Netto |
Brutto |
Netto |
|
1954-55 |
14,8 |
12,9 |
14,0 |
12,2 |
1955-56 |
14,3 |
12,2 |
12,5 |
10,7 |
1956-57 |
12,6 |
10,5 |
12,5 |
10,2 |
1957-58 |
12,9 |
10,7 |
12,8 |
10,0 |
1958-59 |
12,4 |
9,9 |
11,4 |
8,4 |
1959-60 |
12,5 |
9,9 |
12,9 |
9,7 |
1960-61 |
12,4 |
9,8 |
12,6 |
9,2 |
Auch R.R. Neild fand heraus, daß die These vom Fall der Profitrate im Verhältnis zum produzierten Wert für die Herstellungsindustrie während dieses Zeitraums verallgemeinert werden kann. [8]
Das Problem der internationalen Konkurrenz ist besonders groß in Großbritannien. Die internationale Konkurrenz hat die Profitrate gedrückt, aber dies droht sich in einer kapitalistischen Wirtschaft wie der britischen mit ihren langfristigen Schwierigkeiten in der Zahlungsbilanz noch zu verstärken. Denn indem eine Reihe britischer Finanzminister versuchten, die Probleme der Zahlungsbilanz zu lösen, haben sie zu einem System gegriffen, das allgemein als „Stop-Go-System“ bezeichnet wird, was bedeutet, daß die Industrie alle vier oder fünf Jahre gezwungen ist, für eine ausgedehnte Periode unter ihrer Kapazität zu arbeiten. Das hatte zur Folge, daß auch die Gesamtkosten in der britischen Industrie stiegen.
Der britische Kapitalismus hat in der Tat seit den 50er Jahren unter einer doppelten Last zu leiden: zum ersten haben die Tory-Premiers „Stop-Go-Politik“ betrieben, die abwechselnd entsprechen dem Druck der Zahlungsbilanz die Nachfrage ankurbelte oder abstoppte; und zum zweiten wurden riesige Summen für die Rüstung ausgegeben, die fast die Hälfte der jährlich zur Verfügung stehenden Gelder ausmachte. Das Resultat war eine Wirtschaft, die oberflächlich gesehen stabil war, die aber um einen Grat langsamer als irgendeine andere hoch entwickelte Wirtschaft anwuchs. Von 1950 bis 1955 stieg das tatsächliche pro Jahr/pro Kopf Sozialprodukt in Großbritannien nur um 1,8%, und von 1955 bis 1961 nur um 1,6%.
In anderen Ländern lauteten für den gleichen Zeitraum die Zahlen wie folgt: Deutschland 6,0 und 3,5%; Frankreich 4,3 und 3,5%; Italien 5,4 und 4,1%. [9] Von 1954 bis 1962 fiel Großbritanniens Exportanteil am Welthandel von 20,1 auf 15,2%. [10]
Zur gleichen Zeit wuchs die Stärke der Verhandlungsposition hauptsächlich wegen der relativen Vollbeschäftigung der Arbeiter beträchtlich an. In manchen Industriezweigen befanden sich die Kapitalisten ohne die disziplinierende Wirkung der Arbeitslosigkeit, in einer schwächeren Position als jemals zuvor gegenüber den organisierten Arbeitern. Bis in die späten 50er Jahre bestand die Hauptreaktion der Kapitalisten auf diese Situation darin, das Beste aus ihr zu machen, indem sie den Forderungen der Arbeiter nachgaben, wo immer die Alternative (Streik und Aussperrung) einen sehr kostspieligen Produktionsstop bedeutet hätte und die größeren Kosten in Form von höheren Preisen weitergaben. Denn der Boom hatte begonnen, und zwar ein Boom wie niemals zuvor.
Zwar wurde die Inflation beklagt, aber so lange die Profitrate erhalten blieb, wurde sie nicht als echtes Problem angesehen. Wie wir jedoch gezeigt haben, übte die internationale Konkurrenz großen Druck auf die Profitrate aus, und mit der halbstagnierenden Industrie wurde die Verhandlungsmacht des Arbeiters ein immer größeres Problem für die Bosse. So versuchten Staat und Großindustrie gemeinsam gegen Ende der 50er und noch mehr zu Beginn der 60er Jahre Wege zu finden, um das letzte Ziel jeder herrschenden Klasse zu erreichen: eine Arbeiterklasse, die „ihren Platz“ kennt und beibehält, die nicht mehr als die ihr von ihren herrschenden angebotenen eisernen Rationen fordert und bereit ist, die Kosten für die Fehler der Herrschenden zu tragen.
Das Zusammenfinden von Staat und Großindustrie bei der Wirtschaftsplanung und ihrem Zwilling, der Einkommensplanung, wurde durch die Tatsache erleichtert, daß der Staat schon ein zentraler Faktor in der Wirtschaft der kapitalistischen Länder geworden war:
Zentral- und Lokalregierung zusammen beschäftigten 3 Mill. Menschen, die 15% der gesamten Löhne verdienten. Der öffentliche Sektor als ganzer war für mehr als 40% der gesamten festgesetzten Investitionen verantwortlich und für ungefähr 5o% der Bauprojekte. [11]
1962 betrugen die gesamten öffentlichen Ausgaben, die Zinsen auf die Staatsverschuldung eingeschlossen, 44% des Bruttosozialprodukts. Das Verhältnis schwankte, sank aber in den letzten 10 Jahren niemals unter 40%. [12]
Aus den bereits erwähnten Gründen waren die britischen Kapitalisten und ihre Regierung eifrig bemüht, eine Einkommenspolitik einzuführen, und sie wurden noch mehr davon überzeugt, wenn sie Vergleiche zwischen ihrer eigenen Leistung und den „Wundern“ anderer kapitalistischer Staaten wie Japan und Westeuropa anstellten. Erinnern wir uns wie neidvoll Harold Wilson 1964 während der Wahlkampagne sprach, als er die britische Zuwachsrate mit der der Bundesrepublik, Frankreichs, Italiens und Japans verglich. Wenn sie auf diese ausländischen Wirtschaften blickten, war das Geheimnis des Erfolges für die Unternehmer klar sichtbar: die Löhne blieben dort viel weiter als in Großbritannien hinter den Profiten zurück.
In der Bundesrepublik der frühen 50er Jahre drückte sich der Vorteil der steigenden Produktivität in größeren Unternehmerprofiten aus und nicht im höheren Löhnen. Das gleiche geschah in Frankreich in den späten 50er Jahren (Nachdem de Gaulle an die Macht gekommen war): die Löhne wurden für eine Reibe von Jahren niedrig gehalten, während die Profite in die Höhe gingen. Tatsächlich fielen die Löhne in Frankreich zwischen 1958 und 1901 um 1%, während die Produktion rasch voranschritt. Dies gab den französischen Kapitalisten natürlich einen beachtlichen Konkurrenzvorsprung auf dem internationalen Markt, was den französischen Exporten und auch den Profiten sehr zugute kam. Ähnlich blieben in Italien während der 50erJahre die Löhne weit hinter der steigenden Produktion zurück, so daß dir Profite steil anstiegen. [13]
Die Voraussetzungen für das japanische Wirtschaftswundern waren ähnlich: im Gegensatz zu den Löhnen stiegen die Profite stark an. Als Folge ist seit dem Krieg die japanische Produktion so enorm angestiegen, daß sie schon 1961 viermal so groß wie Mitte der 30er Jahre war. Die mittlere jährliche Wachstumsrate des japanischen Bruttosozialprodukts wurde für die Jahre 1953-59 auf 7% veranschlagt und auf 10% für den Zeitraum von 1955 bis 1960. [14]
Diese Bedingungen des Arbeitsmarktes sind die Wurzeln für den japanischen Fortschritt. Es bestand ein Überschuß an Arbeitskräften, der der schnell wachsende Nachfrage der Fabriken entgegenkommen konnte, ohne ein steiles Ansteigen der Lohne hervorzurufen ... Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, daß, während die industrielle Produktivität zwischen 1955 und 1960 um 55% anstieg, die Reallöhne nur um 25% stiegen. Hier liegt einer der Hauptgründe für die massiven industriellen Investitionen während der letzten Jahre – die Bruttoinvestitionen sind kürzlich auf über 50% der Bruttosozialausgaben angewachsen – ohne die Japans schneller Fortschritt unmöglich gewesen wäre. [15]
Ein sehr wichtiger Grund dafür, daß die Löhne in diesen Ländern hinter den Profiten zurückblieben, war das Vorhandensein einer großen Reservearmee von Arbeitslosem. In der BRD gab es ungefähr 10 Mill. Flüchtlinge (aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der DDR); Italien erhielt Millionen neuer Arbeiter aus dem armen Süden. In Frankreich gingen viele aufgrund der schnellen technologischen Veränderungen in der Landwirtschaft in die Städte, und das gleiche geschah in noch größerem Umfang in Japan.
In all diesen Ländern ist die Gewerkschaftsorganisation viel schwächer als in Großbritannien; das Zurückbleiben der Löhne ist also nicht die Folge des offensichtlichen Drucks auf den Arbeitsmarkt durch die Reservearmee der Arbeitslosen. In Frankreich sind nur 2 Mill. Arbeiter in Gewerkschaften organisiert, und diese Gewerkschaften sind in drei voneinander getrennte Verbände aufgeteilt (kommunistisch, sozialistisch, katholisch). Auch in Italien bestehen drei Gewerkschaftsverbände; während in Japan die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung seit dem Kriege eine Geschichte von Trennung und Absplitterung gewesen ist. Eine kleine Mitgliederzahl und eine geteilte Gewerkschaftsbewegung lassen die Verhandlungsmacht der Arbeiter unverkennbar zu einer viel geringeren Gefahr für die Unternehmer werden, und die Löhne leiden unter der Ausdehnung der Profite. Angesichts dieser verschiedenen ausländischen „Wunder“ wird die Botschaft für den britischen Kapitalisten deutlich: wenn „eingefrorene“ Löhne diese „Wunder“ verursachen, warum sollten nicht auch die britischen Kapitalisten versuchen, das gleiche Wunder zu bekommen?
Im der guten alten Zeit vor dem Kriege disziplinierten die Kapitalisten die Arbeiter, wie Karl Marx bemerkte, mit Hilfe einer Reservearmee von Arbeitslosen. Aber seit Beginn des 2. Weltkriegs waren in Großbritannien Bedingungen für Vollbeschäftigung vorhanden, die also die Gefahr der Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Arbeiter beseitigten. Nichtsdestoweniger ist die Idee der Deflation als Schaffung von Arbeitslosigkeit – um Lohnerhöhungen zu verhindern – immer wieder in den herrschenden Kreisen aufgetaucht. Vielleicht ist das offenkundigste Beispiel das von Sir Stafford Cripps (Finanzminister in der ersten Labour-Regierung nach dem Kriege der in der Economic Survey von 1948 darlegte, daß das Ziel seiner Politik die Erhöhung der Arbeitslosenzahl um 50% im Laufe des Jahres sei, und zwar durch vorsätzliches Lähmen der Bauindustrie. Ende 1947 gab es 300.000 Arbeitslose und Cripps erklärte, daß zum Zwecke einer größeren Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt ihre Zahl bis Ende 1948 noch auf 450.000 steigen müsse. [16]
Die gleiche Vorstellung, daß die Wirtschaft einen Großteil an Arbeitslosem nötig habe, ist wiederholt während der letzten Jahre das Thema der Zeitschrift The Economist gewesen. Aber vor allem Professor F.W. Paish, der wichtigste Wirtschaftsberater der Tory-Regierung für eine Reihe von Jahre; ist der Chefanwalt dieser Idee gewesen. Professor Paish’s Theorien haben eine breite Öffentlichkeit gefunden, und wurden von vielen sehr unkritisch aufgenommen, einige Sozialisten eingeschlossen; eine Diskussion darüber erscheint also sinnvoll.
Paish’s Theorie betont die Wichtigkeit eines gewissen Grades an ungenutzte Kapazität für die Wirtschaftsführung. Dies sieht er als Voraussetzung an für ein Wachstum ohne steigende Preise:
Es scheint nicht möglich zu sein, den nötigen Grad an ungenutzter Kapazität unter 5% zu halten, was ungefähr einer Arbeitslosenzahl von 2% entspricht; dieser Prozentsatz der ungenutzten Kapazität kann auch etwas höher liegen. Wir können ihn ungefähr zwischen 5 und 7% festsetzen, was einer Arbeitslosenzahl von 2 bis 2½% entspricht. [17]
Paish ging sogar so weit, die genauen Lohnverschiebungen, die mit kleinen Veränderungen der Arbeitslosenrate verbunden waren, zu kalkulieren. [18]
Die Kalkulation des Prof. Paish wurde durch die tatsächlichen Fakten widerlegt. Eine Arbeitslosenzahl, die etwas über dem Wert lag, den Paish als notwendig ansah, um Lohnsteigerungen zu mäßigen, wurde in der Tat während eines ganzen Jahres – vom 4. Quartal 1962 bis zum 3. Quartal 1963 – eingehaltön und doch stiegen die Löhne. Andere Länder hatten ähnliche Erfahrungen. In einigen Ländern stiegen Löhne und preise sehr schnell, sobald die Zahl der Arbeitslosem 5% überschritt und sich schon oft der 10% Grenze näherte. So in Italien, wo die Löhne um 25% stiegen (1948-54), während die Arbeitslosenrate außerhalb der Landwirtschaft 13,4% betrug; in Belgien lag die Arbeitslosenrate zwischen 11,3 und 7,6% von 1949-54, während die Löhne um 30% stiegen (1949-54). Im Gegenteil zu Italien und Belgien betrug die Arbeitslosenzahl in Großbritannien von 1948 bis 1954 zwischen 1,4 und 1,2% und die Löhne erhöhten sich um 35%. Die Zahlen für Italien und Belgien zeigen, daß nicht einmal eine Arbeitslosenrate von 10% ausreicht, die Arbeiter so einzuschüchtern, daß die Lohn-Preis-Spirale angehalten werden kann. [19]
Inflation. – die Lohn-Preis-Spirale – ist in der Tat das Produkt des Klassenkampfes unter den Bedingungen des Spätkapitalismus, wo nur kleine oder überhaupt keine Reserven an Arbeitslosem vorhanden sind. Auf der einen Seite steht die kapitalistische Klasse, organisiert im Monopol, und auf der anderen Seite eine starke Arbeiterbewegung. Hierzu kommt noch ein dritter Faktor für die Inflation: der kapitalistische Staat, der einerseits eine permanente Rüstungswirtschaft betreibt, die die Konjunktur zu „überhitzen“ droht, während er andererseits die politischen Konsequenzen einer Massenarbeitslosigkeit in einem entwickelten Land mit einer mächtigen Arbeiterbewegung fürchtet. Tatsächlich ist die Streitfrage, wer für die Lohn~Preis-Spirale verantwortlich ist, sinnlos, obwohl viele Wirtschaftler sich Jahre hindurch gestritten haben, ob die Schuld den steigenden Löhnen zuzuschreiben ist, die Preiserhöhungen nach sich ziehen, oder den steigenden Preisen, die die Arbeiter zwingen, Lohnforderungen zu stellen, um mit den höheren Lebenskosten mithalten zu können. Aber eine Tatsache von größter Wichtigkeit ist die, daß sowohl die Kapitalisten als auch die Arbeiter versuchen, ihren Teil des Kuchens zu vergrößern. Die Art wie der Kuchen dann tatsächlich unter ihnen aufgeteilt wird, hängt von der entsprechenden Stärke der darum kämpfenden Klassen ab. Bis zu einen gewissen Punkt ist natürlich die Lohn-Preis~Spirale zufriedenstellend für den Kapitalisten, als dadurch eine Möglichkeit geschaffen wird, mit dem Verlangen der Arbeiterklasse nach höheren Grundlöhnen und einem größeren. Anteil am Gewinn fertigzuwerden. Die steigenden Preisen betrügen die Arbeiter um die größere Kaufkraft., über die sie sonst verfügt hätten. Aber selbstverständlich führt auch die Lohn-Preis-Spirale zu einem Druck auf die Profitrate, wenn die internationale Konkurrenz schärfer wird; und sie führt auch zu Stagnation und einen entsprechenden Niedergang in der gesamten Volkswirtschaft. Die Inflation hat die Funktion für den Kapitalismus gehabt, die in der Vergangenheit das Reserveheer der Arbeitslosen hatte: Den Anteil am Gewinn für den Arbeiter möglichst klein zu halten – was sich jedoch für den Kapitalisten in Form einer Stagnation schlecht auswirkte. Heute hoffen die Kapitalisten und ihre Regierung, daß die Einkommenspolitik die gleiche Wirkung hervorrufen wird, jedoch ohne die schlechten Nebenwirkungen der Stagnation. So haben fast alle westlichen kapitalistischen Länder mit der nationalen Wirtschaftsplanung und der Einkommenspolitik begonnen: Frankreich, Italien, Schweden, Norwegen, Die Niederlande, Belgien und Österreich. De Gaulles Frankreich beginnt dieses Jahr mit seinem fünften 5-Jahresplan, und Italien hat gerade den gleichen Weg beschritten. [20]
1. Andrew Shonfield, Modern Capitalism, London 1965, S.95/96
2. The Guardian, 31. Dezember 1965
3. The Sunday Times (Business News), 16. Januar 1966
4. Andrew Shonfield, Modern Capitalism, S.42
5. aus S. Mallet, Continental capitalism and the Common Market, New Left Review, März/April 1963
6. C. Vittorio Foa, Incomes Policy, A Crucial Problem for the Unions, in International Socialist Journal, Juni 1964
7. W.A.H. Godley, Pricing Behaviour in the Engineering Industry, Economic Review, Mai 1964
8. B.R. Neild, Pricing and Employment in the Trade Cycle, Cambridge 1963, S.42. Enteprechend wurde festgestellt, daß der Nettokapitalumsatz (vor dein Steuerabzug) der Großen Sechs Autohersteller zwischen den Jahren 1954 und 1963 wie folgt abfiel:
1954 |
1963 |
|
Ford |
44 |
21 |
Vauxhall |
43 |
16 |
Rootes |
23 |
1 |
Standard-Triumph |
23 |
– |
Leyland |
16 |
15 |
Durchschnitt |
34 |
16 |
(A. Silberton, The Motor Industry 1955-1964, |
9. National Institute of Economic and Social Reaearch, Economic Review, Nr.16
10. Nicholas Davenport, The Split Society, in The Spectator, 8. November 1963
11. Andrew Shonfield, Modern Capitalism, S.106
12. Andrew Shonfield, ibid., S.106
13. vgl. P. Baffi, Monetary Stability and Economic Development in Italy, 1946-60, Banca Nazionale del Lavoro, Quarterly Review, März 1961
14. G.C. Allen, The Causes of Japan’s Economic Growth, The Three Banks Review, September 1962
15. G.C.Allen, a.a.O.
16. Andrew Shonfield, British Economic Policy Since the War, London 1959, S.167/8
17. F.W. Paish, Studies in an Inflationary Economy, London 1962, S.310
18. F.W. Paish, The Limits of Incomes Policies, Hobart Paper 29,1964, S.24/5
19. Es ist vielleicht noch wichtig zu bemerken, daß Georg. Woodcock (der engliche Gewerschaftsvorsitzende) einer derjenigen ist, die ähnliche Ansichten wie Prof. Paish vertreten: „George Woodcock, der in dem Fernsehprogram Gallery von Nigel Lawson interviewt wurde, gab auf die Frage, was seine Reaktion auf 600.000 oder 700.000 Arbeitolose sein würde, eine Antwort, die gleicherweise bemerkenswert für das Durcheinander seiner Sprache und die Klarheit seiner Absicht ist, nämlich: ‚man könnte es bedauern, ab er wenn dies unter dienen Umständen, d.h. für kurze Zeit, der einzige Weg ist, um uns selbst wieder in Gleichgewicht zu bringen, müssen wir dem entgegensehen‘.“ The Spectator, 28. Mai 1965
20. Die langfristige Inventitionsplanung, auf die der Kapitalismus seit den zweiten Weltkrieg angewiesen ist, ist eng verbunden mit den anderen Veränderungen, die wir in diesem Kapitel dargelegt haben: Die Schnelligkeit der technologischen Veränderungen, die Aufhebung der Handelsschranken, das Vorhandensein einer mehr oder minder großen Vollbeschäftigung. Alle diese Entwicklungen wurzeln in der Tatsache, daß für eine lange Zeit jetzt – tatsächlich schon seit dem Beginn den 2. Weltkrieges – Produktionskrisen im Kapitalismus mehr oder weniger eliminiert sind. Dies wiederum wurzelt in der Kriegswirtschaft und der nachfolgenden permanenten Rüstungswirtschaft.
Für weiter Ausarbeitungen siehe T. Cliff, Perspectives of the Permanent War Economy, A Socialist Review, London 1965, S.34-40; M. Kidron, Rejoinder to Left Reformism, International Socialism 7, London Winter 1961-62; und H.Magdoff, Problems of United States Capitalism, The Socialist Register 1965, S.62-79
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003