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Tony Cliff: Trotsky on Substitutionism, International Socialism (1. Serie), Herbst 1960. [1]
Dieser Aufsatz wurde anläßlich des zwanzigsten Jahrestages der Ermordung Trotzkis verfaßt.
Erstmallig in deutscher Sprache erschien der Aufsatz in: Jahrbuch Arbeiterbewegung Nr. 2. Marxistische Revolutionstheorien, Ff/M. 1974.
Aus dem Englischen übersetzt von Volkhard Mosler.
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Die beste Würdigung, die man einem so großen Revolutionär wie Trotzki, der alle „Verehrungen“ verabscheute, zukommen lassen kann, ist eine kritische Überprüfung seiner eigenen Ideen. Wir wollen ein Problem herausgreifen, das er als junger Revolutionär scharf durchleuchtet hat und das ihn Zeit seines Lebens immer geplagt hat, ein Problem, das sich noch heute stellt: die Beziehung zwischen Partei und Klasse und die Gefahr der Substituierung der Klasse durch die Partei.
Sehr früh in seiner politischen Laufbahn im Alter von 24 Jahren prophezeite Trotzki, daß Lenins Auffassung von der Parteiorganisation in eine Situation führen müsse, wo die Partei an die Stelle der Klasse treten, wo sie stellvertretend im Namen der Klasse handeln werde, über die Köpfe und den Willen der Arbeiter hinweg [2]. Dem Leninschen Parteitypus einer Organisation von Berufsrevolutionären stellte Trotzki das Modell einer breiten Massenpartei gegenüber, wie er sie in den sozialdemokratischen Parteien Westeuropas verwirklicht sah. Das einzige Pfand gegen die Gefahr des „Substitutionismus“ – diesen Begriff prägte Trotzki – sah er in der Massenpartei, die demokratisch geführt und unter der Kontrolle der proletarischen Massen stehen sollte.
Er faßte seine Argumente mit der folgenden Warnung gegen jede Uniformität zusammen:
Die Aufgaben des neuen Regimes werden so vielseitig sein, daß sie gar nicht anders als im Wettbewerb zwischen verschiedenen Methoden wirtschaftlicher und politischer Art gelöst werden können. Es wird langer „Auseinandersetzungen“ und eines systematischen Kampfes nicht nur zwischen der sozialistischen und kapitalistischen Welt, sondern zwischen vielen Strömungen innerhalb des Sozialismus bedürfen. Solche Strömungen werden unvermeidlich in dem Augenblick auftreten, wo die proletarische Diktatur Dutzende und Hunderte neuer Probleme aufwirft. Keine einzelne „vorherrschende“ Organisation wird [...] diese Strömungen und Kontroversen unterdrücken können. [...] Ein Proletariat, das zu einer Diktatur über die Gesellschaft befähigt ist, wird keine Diktatur über sich selbst dulden [...] Die Arbeiterklasse [...] wird zweifellos eine Menge politischer Invaliden einen großen Ballast an veralteten Ideen mit sich schleppen, die über Bord geworfen werden müssen. In der Epoche der Diktatur wird sie, genau wie jetzt auch, ihr Bewußtsein von falschen Theorien und bürgerlichen Erfahrungen reinigen müssen und aus ihren Reihen politische Phrasendrescher und zurückblickende Revolutionäre ausstoßen. [...] Aber diese Aufgabe kann nicht dadurch gelöst werden, indem man über das Proletariat ein paar geschulte Leute stellt [...] oder gar eine Person, die mit der Macht zu liquidieren und zu degradieren ausgerüstet ist. [3]
Die Geschichte des Bolschewismus nach 1917 scheint Trotzkis Warnungen von 1904 bestätigt zu haben. Aber Trotzki selbst nahm später diese Warnung nie wieder auf.
Wir werden daher hier aufzuzeigen versuchen, warum er diese Warnung nicht wieder aufnahm; wir werden dabei das Problem der Beziehung von Partei und Klasse im allgemeinen diskutieren.
Der Substitutionismus liegt in der Tradition der russischen revolutionären Bewegung. In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellten sich kleine Gruppen von revolutionären Intellektuellen der mächtigen Aristokratie entgegen, während die Bauernmassen, in deren Namen und Interessen diese heroischen Narodniki (Volkstümler) handelten, indifferent blieben, ja ihnen sogar feindlich gesinnt waren.
In dem Morast der allgemeinen Apathie, vor dem Entstehen einer wie immer gearteten Massenbewegung, spielten diese kleinen Gruppen rebellischer Intellektueller eine wichtige, fortschrittliche Rolle. Auch Marx zollte ihnen großes Lob und Bewunderung. In dem Jahr, als der „Volkswille“ (Narodnaja Volja) zerschlagen wurde, schrieb er an seine älteste Tochter: „Das sind bewundernswerte Männer, ohne jegliche melodramatische Pose, voller Einfachheit, wirkliche Helden.“
Substitutionismus wird jedoch reaktionär, wird eine gefährliche politische Strömung, wenn eine sich erhebende Massenbewegung bereits existiert und die Partei versucht, sich an deren Stelle zu setzen.
Trotzki selbst glaubte nie, daß ein richtiger Begriff von der Partei und ihrer Rolle, sowie von ihrer Beziehung zur Klasse schon eine Garantie gegen die Gefahr des Substitutionismus und für wirkliche Demokratie in der politischen Arbeiterbewegung sei.
Die objektiven Bedingungen zur Vermeidung des Substitutionismus formuliert Trotzki auf dem zweiten Kongreß der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (London 1903):
Die Herrschaft der Arbeiterklasse war undenkbar, solange die großen Massen diese nicht mit geeintem Willen herbeisehnten. In diesem Augenblick stellt dann die Arbeiterklasse eine überwältigende Mehrheit dar. Dieses wäre nicht die Diktatur einer kleinen Bande von Verschwörern oder einer Minderheitspartei, sondern einer ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. [...] Kurz gefaßt: sie würde den Sieg der wahren Demokratie darstellen.
Dieses Zitat aus dem Kommunistischen Manifest steht in absoluter Harmonie zu Trotzkis Kampf gegen den „Substitutionismus“. Wenn die Mehrheit herrscht, dann gibt es keinen Platz für eine Minderheit, die als ihre Stellvertreterin auftritt.
Etwa zur gleichen Zeit betonte Lenin mit ebenso großem Nachdruck, daß jede Diktatur des Proletariats, solange es selbst eine kleine Minderheit innerhalb der Gesellschaft sei, zu anti-demokratischen und in seinen Worten „reaktionären Schlüssen“ führen.
Als Trotzki seine eigenen Worte vergessend, die Bildung einer Arbeiterregierung als unmittelbares Ziel der revolutionären Bewegung in Rußland propagierte, wandte sich Lenin scharf gegen ihn:
Das kann nicht sein, weil einigermaßen dauerhaft nur eine revolutionäre Diktatur sein kann, die sich auf die überwiegende Mehrheit des Volkes stützt. Das russische Proletariat aber bildet jetzt die Minderheit der Bevölkerung Rußlands. [4]
Und in seiner Schrift Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution fügt Lenin dem hinzu:
Der Grad der ökonomischen Entwicklung Rußlands (objektive Bedingungen) [...] macht eine sofortige vollständige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich [...] Wer auf einem anderen Weg als dem des politischen Demokratismus zum Sozialismus kommen will, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd und reaktionär sind. [5]
Trotzkis Warnung vor dem Substitutionismus und seine Betonung der „Herrschaft der ungeheuren Mehrheit im Interesse der ungeheuren Mehrheit“ als der einzigen Garantie gegen den Substitutionismus steht allerdings in einem schreienden Widerspruch zu seinem Ruf nach einer Arbeiterregierung im Jahr 1905 und 1917, als die Arbeiter selbst eine winzige Minderheit waren. Trotzki ist zerrissen in dem Widerspruch zwischen seiner in sich konsistenten, demokratischen und sozialistischen Opposition gegen jede Form des Substitutionalismus und seiner Theorie der permanenten Revolution, derzufolge die proletarische Minderheit im Namen aller Werktätigen handelt und für alle Unterdrückten der Gesellschaft die Herrschaft übernimmt.
Dieser Widerspruch ist allerdings nicht ein Ergebnis irgendwelcher Ungereimtheiten im Kopfe Trotzkis, sondern spiegelt die in der Gesellschaft objektiv vorhandenen Widersprüche wider. Der Charakter der Revolution, ja sogar ihr Zeitpunkt, ist nicht allein abhängig von der Größe der Arbeiterklasse, auch nicht vom Niveau ihres Bewußtseins und ihrer Organisation, sondern von vielen unterschiedlichen, ja sich widersprechenden Faktoren – ökonomischen Krisen, Kriegen oder anderen politischen Erschütterungen. Die zu einer revolutionären Situation führenden Faktoren sind nicht synchronisiert mit dem Grad der Aufklärung des Proletariats. Eine ganze Reihe von objektiven Umständen zwingt die Arbeiter zum revolutionären Aufstand, obwohl das Bewußtsein der verschiedenen Sektionen und Gruppen der Arbeiterklasse noch ein sehr großes Gefälle aufweisen kann. In einem so zurückgebliebenen Land wie dem zaristischen Rußland, wo das allgemeine kulturelle Niveau der Arbeiter niedrig, die Tradition der proletarischen Organisation und Selbstaktivität schwach war, mußte auch das Bewußtseinsgefälle innerhalb der Arbeiterklasse besonders ausgeprägt sein. Zudem war die Arbeiterklasse insgesamt eine so verschwindende Minderheit, daß ihre Herrschaft, die Diktatur des Proletariats, nicht die Diktatur einer Mehrheit, sondern einer winzigen Minderheit sein würde.
Wie ließ sich dieses Dilemma der Revolution in Rußland überwinden, ohne auf der einen Seite eine Minderheitenherrschaft aufzubauen und auf der anderen in die passive, enthaltsame Haltung der Menschewiki zu verfallen („Das Proletariat darf so lange nicht die Macht übernehmen, wie es eine Minderheit in der Gesellschaft ist“). Trotzki versucht dieses Problem mit dem Hinweis auf zwei Faktoren aufzulösen: einerseits die revolutionäre Kraft und Aktivität der russischen Arbeiter, die andere gesellschaftliche Schichten mit sich reißen würde, zum anderen die Ausdehnung der Revolution auf entwickeltere Länder, wo das Proletariat die Mehrheit der Gesellschaft ausmachte.
Wie stellt sich aber das Problem des Substitutionismus dar, wenn der revolutionäre Impuls in Rußland selbst erst einmal versiegen würde und wenn sich vor allem die revolutionären Kämpfe in Westeuropa an den Felsen des Kapitalismus brechen würden?
Das Verhältnis zwischen Partei und Klasse ist einmal durch das Niveau des kulturellen und revolutionären Bewußtseins der Arbeiterklasse geprägt, zum anderen durch das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse innerhalb der gesamten Gesellschaft: durch die zahlenmäßige Größe der Klasse und durch ihre Beziehung zu anderen Klassen, vor allem – im Falle Rußlands – zur Bauernschaft.
Das Problem hätte einfach ausgesehen, wenn – wie die Menschewiki argumentierten – die Revolution eine rein bürgerliche oder – wie die Anarchisten und Sozialrevolutionäre argumentierten, die zwischen Bauern und Arbeitern keinen Unterschied machten – eine rein sozialistische gewesen wäre. Eine annähernde soziale Homogenität der revolutionären Klassen hätte eine sichere Grundlage abgegeben, um alle drohenden Tendenzen im Keime zu ersticken, die auf eine Verdrängung und Ersetzung des Proletariats durch die marxistische Partei hinausliefen.
Die Oktoberrevolution war jedoch die Fusion zweier Revolutionen: die der sozialistischen Arbeiterklasse, Produkt des reifen Kapitalismus, und die der Bauern, Produkt des Konfliktes zwischen aufstrebendem Kapitalismus und den alten feudalen Institutionen. Wie zu allen Zeiten waren die Bauern zwar vollauf bereit, den Privatbesitz der Großgrundbesitzer zu enteignen, wollten aber ihren eigenen privaten Kleinbesitz an dessen Stelle. Sie waren zwar bereit, gegen den Feudalismus zu revoltieren, waren aber deshalb noch keineswegs für den Sozialismus.
Es war daher auch nicht verwunderlich, daß sich sofort nach der Oktoberrevolution starke Risse in der siegreichen Allianz von Arbeitern und Bauern auftaten. Als erst einmal die weißen konterrevolutionären Armeen und mit ihnen die Gefahr der Restauration des Großgrundbesitzes vernichtet waren, blieb von der ursprünglichen Loyalität der Bauern gegenüber den Arbeitern wenig übrig. Für die Bauern war es eine Sache, einer Regierung ihre Unterstützung zu geben, die das Land verteilte; aber es war etwas ganz anderes, als dieselbe Regierung begann, ihre Produkte zu beschlagnahmen, um die hungrige Bevölkerung in den Städten zu füttern.
Der Konflikt zwischen Arbeiterklasse und Bauern schlug sich schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution nieder, als sich Lenin z. B. 1918 gezwungen sah, zu so antidemokratischen Maßnahmen wie der Einführung eines Klassenwahlrechts für die Räte zu greifen: eine Arbeiterstimme wog soviel wie fünf Bauernstimmen.
Die Revolution verschob das relative Gewicht von Proletariat und Bauernschaft zuungunsten des Proletariats.
Einmal führte der Bürgerkrieg (1917–1921) zu einem schrecklichen Aderlaß der Arbeiterklasse. Der Sieg der Arbeiterklasse in der Revolution brachte paradoxerweise einen quantitativen und qualitativen Zerfall der Arbeiterklasse.
Da viele städtische Arbeiter enge Verbindungen mit den Dörfern hatten, eilte eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern sofort nach der Revolution zurück aufs Land, um bei der Landverteilung dabei zu sein. Diese Tendenz wurde durch die Nahrungsmittelknappheit verstärkt, unter der die Städte natürlich am härtesten zu leiden hatten. Weiterhin bestand die neue Rote Armee in scharfem Gegensatz zur alten zaristischen Armee zu einem wesentlich höheren Prozentsatz aus Industriearbeitern. Aus all diesen Gründen ging die städtische Bevölkerung und insbesondere die Zahl der Industriearbeiter zwischen 1917 und 1920 stark zurück. Die Bevölkerung von Petersburg sank um 57,5 %, die Moskaus um 44,5 %. Die Einwohnerschaft von 40 Provinzhauptstädten fiel um 33 % und die von 50 weiteren größeren Städten um 16,6 %. Je größer die Stadt, desto stärker der relative Bevölkerungsrückgang. Wie scharf der Rückgang war, läßt sich weiterhin durch die Tatsache illustrieren, daß die Zahl der Industriearbeiter von ca. 3 Millionen im Jahre 1917 auf 1,24 Millionen in den Jahren 1921/22 sank, ein Rückgang um 58,7 %! Die Zahl der Industriearbeiter sank also auf zwei Fünftel. Und die Arbeitsproduktivität der verbliebenen Arbeiter sank überproportional. (1920 betrug die Industrieproduktion Rußlands noch etwa 13 %, verglichen mit 1913.)
Der größte Teil der verbliebenen Arbeiter setzte sich gerade aus den politisch unbewußtesten Elementen zusammen, die nicht für die Verteidigung der Revolution an den verschiedenen Fronten des Bürgerkrieges oder für die Verwaltung in Staat, Partei und Gewerkschaften gebraucht wurden. Die Staatsverwaltung und die Armee rekrutierten sich natürlicherweise zum größten Teil aus den Sektionen der Arbeiter, die über die längste sozialistische Tradition, die größte politische Erfahrung und über den höchsten Bildungsstand verfügten.
Die Atomisierung und Zersplitterung der Arbeiterklasse hatte sogar noch schlimmere Folgen. Die Reste der Arbeiterklasse sahen sich aufgrund der Lebensmittelknappheit gezwungen, sich wie Kleinhändler zu verhalten, nicht wie ein Kollektiv, wie eine vereinigte Klasse. Es gibt Schätzungen, nach denen der Staat in den Jahren 1919/20 nur 42 % des insgesamt in den Städten verbrauchten Getreides und einen noch geringeren Teil der übrigen Lebensmittel beschaffen konnte. Alles andere wurde ohnehin auf dem Schwarzmarkt gehandelt. [6] Es war allgemein üblich, daß die Arbeiter Möbelstücke und Kleidung, ebenso Gürtel und Werkzeuge aus den Fabriken, in denen sie arbeiteten, verkauften.
Welch eine Atomisierung und Demoralisierung der industriellen Arbeiterklasse! In seiner Lebensweise unterschied sich der Einzelarbeiter kaum vom Bauern. Auch er war abhängig vom individuellen Schwarzhandel. So schildert Rudsutak diesen Zustand auf dem zweiten Gewerkschaftskongreß im Jahre 1919: „Wir können beobachten, daß sich die Arbeiter aufgrund des Niedergangs der Produktion in den Fabriken zunehmend in die Bauernmassen integrieren und daß eine halbbäuerliche, in manchen Fällen sogar eine rein bäuerliche Bevölkerung an die Stelle einer Arbeiterbevölkerung tritt.“ [7]
Unter solchen Bedingungen zerbröckelte die Klassenbasis der Bolschewistischen Partei – nicht weil die Bolschewisten in ihrer Politik irgendwelche Fehler gemacht hätten, nicht aufgrund der einen oder anderen Konzeption der Partei in ihrer Beziehung zur Klasse – sondern aufgrund mächtigerer historischer Faktoren. Die Arbeiterklasse hatte sich „de-klassiert“.
Es ist wahr, daß Lenin im Mai 1921 aus Verzweiflung sagte: „Selbst wenn das Proletariat durch eine Periode der Deklassierung gehen muß, so kann es seine Aufgabe, die Macht zu erobern und festzuhalten, immer noch erfüllen.“
Aber was für eine „substitutionistische“ Formulierung ist das! Klassenherrschaft der deklassierten Arbeiter – das Grinsen der Cheshire-Katze bleibt zurück, nachdem die Katze selbst schon verschwunden ist!
Der Substitutionismus der Narodniki war im wesentlichen eine Folge, nicht Ursache der allgemeinen Apathie und Gleichgültigkeit des Volkes, die selber Resultate objektiver gesellschaftlicher Bedingungen waren. Auch jetzt war der Substitutionismus der Bolschewiki nicht ein Produkt aus Lenins Kopf, nicht eine Minerva aus dem Kopfe des Zeus, sondern ein Kind der objektiven Entwicklung, d. h. vor allem eines langen Bürgerkrieges in einem vorwiegend agrarischen Land, der dazu geführt hatte, daß eine zahlenmäßig schwache Arbeiterklasse noch mehr geschwächt wurde, sich in einzelne Fragmente auflöste und in den Bauernmassen unterging.
Ein Vergleich mag klären helfen, wie der Substitutionismus nach der Oktoberrevolution entstanden war. Man stelle sich nur einmal einen Massenstreik vor, der nach einer längeren Periode des Kampfes die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiter verloren hat, da diese müde und demoralisiert sind. Nur eine Minderheit der Streikenden besetzt noch die Streikposten – angegriffen von den Bossen und zurückgewiesen von der Mehrheit der Arbeiter. Diese tragische Situation wiederholt sich auf den Schlachtfeldern des Klassenkampfes wieder und wieder. Angesichts der „Weißen Garden“ im Bewußtsein, daß dem Volk ein schreckliches Blutbad drohte, falls sie den Kampf aufgäben, und im Bewußtsein ihrer eigenen Isolierung konnten die Bolschewiki keinen anderen Ausweg aus einer historischen Sackgasse finden.
Von dieser Situation bis zur Abschaffung der innerparteilichen Demokratie und bis zur Errichtung der Funktionärsherrschaft innerhalb der Partei war es nur noch ein kleiner Schritt.
Ganz im Gegensatz zu jeder stalinistischen Mythologie, aber auch im Gegensatz zur Mythologie der Menschewiki und anderer Gegner der Bolschewiki – war die Bolschewistische Partei niemals eine monolithische (oder gar totalitäre) Partei. Interne Demokratie war immer von größter Bedeutung für das Parteileben, aber aus diesem oder jenem Grund wird in einem Großteil der Literatur zu diesem Thema darüber hinweggesehen.
Es ist daher der Mühe wert, sich ein paar Fälle vor Augen zu führen, die den Grad der innerparteilichen Demokratie und das Fehlen monolithischer Strukturen in der Geschichte der Bolschewiki beleuchten. Nach der endgültigen Niederlage der ersten Revolution machte die Partei etwa 1907 eine politische Krise über die Frage der Beteiligung an den zaristischen Duma-Wahlen durch. Auf dem 3. Parteitag der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands), der im Juli 1907 stattfand und an dem sowohl die Menschewiki als auch die Bolschewiki als Fraktionen teilnahmen, entstand eine merkwürdige Situation: alle bolschewistischen Delegierten mit der Ausnahme Lenins stimmten für einen Boykott der Duma-Wahlen. Lenin stimmte mit den Menschewiki. Drei Jahre später verabschiedete ein Plenum des Zentralkomitees der Bolschewiki eine Resolution, in der die Einheit mit den Menschewiki gefordert wurde. Wieder war Lenin der einzige Dissident.
Als der 1. Weltkrieg ausbrach, stimmte nicht eine einzige Parteizelle für die von Lenin vertretene Position des revolutionären Defätismus, wie er sich in der Losung „Für eine Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg“ ausdrückte. [8] Und in einem Prozeß gegen einige bolschewistische Führer im Jahre 1915 distanzierten sich Kamenew und zwei weitere bolschewistische Duma-Abgeordnete von Lenins Position des revolutionären Defätismus vor Gericht. [9]
Nach der Februar-Revolution war die große Mehrheit der Parteiführer gegen eine revolutionäre Räteregierung und für die Unterstützung der provisorischen Koalitionsregierung. Die bolschewistische Fraktion besaß am 2. März 1917 40 Mitglieder in der Petersburger Sowjet-Regierung. Als über eine Resolution abgestimmt wurde, in der die Übertragung der politischen Macht auf die bürgerliche Koalitionsregierung gefordert wurde, stimmten nur 19 der 40 Bolschewiki dagegen. [10]
Auf einem Treffen des Petersburger Parteikomitees am 5. März 1917 erhielt eine Resolution für die Bildung einer revolutionären Räteregierung nur eine Stimme. [11] Die Prawda, zu dieser Zeit von Stalin herausgegeben, bezog ebenfalls eine Position, die man in keiner Weise als revolutionär bezeichnen kann. Die Prawda sprach ihre entschlossene Unterstützung für die Provisorische Regierung aus, „insofern sie gegen Reaktion und Konterrevolution kämpft“ (Prawda, 15. März 1917). Als Lenin Anfang April 1917 nach Rußland zurückgekehrt war und der Partei seine berühmt gewordenen Aprilthesen vorlegte, die als Wegweiser zur Oktoberrevolution dienten, erhielt er Unterstützung nur von einer schwachen Minderheit.
Die Prawda kommentierte die Aprilthesen mit der Bemerkung, daß sie „Lenins persönliche Meinung“ darstellten und daß sie „völlig unannehmbar“ seien (Prawda, 8. April 1917). Auf einer Sitzung des Petersburger Parteikomitees am 8. April 1917 erhielten die Thesen nur 2 Stimmen gegen 13, bei einer Enthaltung. [12] Auf dem Parteitag vom 14. bis zum 22. April gewannen die Thesen jedoch eine Mehrheit von 71 gegen 39 Stimmen, bei 8 Enthaltungen. [13] Der gleiche Parteitag überstimmte Lenin in einer anderen Frage: ob die Partei an der bevorstehenden Konferenz der Sozialistischen Parteien in Stockholm teilnehmen solle. Gegen seine Ansicht entschloß sich der Parteitag für eine volle Teilnahme. [14]
Für den 14. September hatte Kerenskij eine „Demokratische Konferenz“, einberufen. Lenin war für einen Boykott dieser Konferenz. Das Zentralkomitee unterstützte seine Position mit 9 : 8 Stimmen; da die Abstimmung jedoch so knapp ausgefallen war, überließ man die letzte Entscheidung darüber dem Parteitag, der sich aus der bolschewistischen Fraktion dieser Demokratischen Konferenz konstituieren sollte. Diese Sitzung beschloß mit 77 gegen 50 Stimmen, die Konferenz nicht zu boykottieren. [15]
Als die bedeutendste aller Fragen, die Frage des Oktoberaufstandes, auf der Tagesordnung stand, war die Führung wiederum scharf gespalten. Eine starke Fraktion, angeführt von Sinowjew, Rykow, Kamenew, Pjatanow, Miljutin und Nogin war gegen den Aufstand. Trotzdem wurden Sinowjew und Kamenew vom Zentralkomitee ins Politbüro gewählt.
Nach der Machtübernahme blieben die Differenzen innerhalb der Parteispitze so scharf wie zuvor. Einige Tage nach dem Aufstand sprach sich eine Anzahl von Parteiführern für eine Koalition mit anderen sozialistischen Parteien aus. Zu den offensten Befürwortern dieser Koalition gehörten Rykow (Volkskommissar für Inneres), Miljutin (Volkskommissar für Industrie und Handel), Lunatscharsky (Kommissar für Arbeit), Kamenew (Präsident der Republik) und Sinowjew. Sie gingen so weit, ihre Ämter niederzulegen, und zwangen so Lenin und seine Anhänger zu offenen Verhandlungen mit den anderen Parteien. (Die Verhandlungen brachen zusammen, weil die Menschewiki auf dem Ausschluß Lenins und Trotzkis aus einer Koalitionsregierung bestanden.) In der Frage, ob die Wahlen für eine konstituierende Versammlung (im Dezember 1917) durchgeführt oder verschoben werden sollten, befand sich Lenin in einer Minderheit im Zentralkomitee, und die Wahlen wurden gegen seinen Willen durchgeführt. [16] Etwas später wurde er wiederum in der Frage der Friedensverhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk niedergestimmt. Er war für einen sofortigen Frieden. Aber auf einer Sitzung des Zentralkomitees am 21. Januar 1918 erhielt seine Resolution nur 15 Stimmen gegen die der Bucharin-Anhänger mit 32 und die der Trotzki-Anhänger mit 16 Stimmen. (Bucharin war für einen revolutionären Verteidigungskrieg, Trotzki vertrat die Position „Weder Krieg noch Frieden“.)
Auf einer Sitzung des Zentralkomitees am nächsten Tag wurde Lenin erneut überstimmt. Aber schließlich konnte er sich unter dem Druck der Ereignisse durchsetzen, so daß die Mehrheit der Mitglieder des Zentralkomitees für seine Position eintrat. Auf der Sitzung des Zentralkomitees vom 24. Februar wurde seine Resolution für einen sofortigen Frieden mit sieben gegen vier Stimmen bei vier Enthaltungen angenommen. [17]
Die innerparteiliche Demokratie zerbrach jedoch unter dem Druck der objektiven Verhältnisse des Bürgerkriegs, wie sie oben angedeutet wurden. In der Situation der Isolation fürchtete sich die Partei immer mehr, laut zu denken, Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen. Es war, als befände sie sich in einem kleinen Ruderboot inmitten eines Sturmes. Die Atmosphäre der freien Diskussion erstarrte notwendigerweise. Die Verletzungen der innerparteilichen Demokratie wurden schlimmer und schlimmer. K. Jurenew schilderte auf dem 9. Parteitag 1920 die Methoden, mit denen die Kritiker unterdrückt wurden: „Einer geht nach Christiania, der andere wird in den Ural geschickt, ein dritter – nach Sibirien.“ [18] Er sagte, daß sich das Zentralkomitee der Partei nicht wie ein „verantwortungsbewußter Diener, sondern als unverantwortlicher Herrscher“ erwiesen hätte. Auf demselben Kongreß stellte V.N. Maximowski den „bürokratischen Zentralismus“, für dessen Aufkommen die Führung verantwortlich sei, dem „demokratischen Zentralismus“ gegenüber. Sein Kommentar dazu war: „Man sagt, daß Fische am Kopf zu stinken beginnen. Die Partei beginnt an ihrer Spitze unter einem bürokratischen Zentralismus zu leiden.“ [19] Und Sapranow erklärte: „Wieviel Ihr auch immer über das Recht der Wählbarkeit, über die Diktatur des Proletariats, über die Sorge des ZK um die Herrschaft der Partei reden mögt, in Wirklichkeit läuft alles auf die Diktatur der Parteibürokratie hinaus!“ [20] Auf dem 11. Kongreß sagte Rjasanow: „Unser Zentralkomitee ist überhaupt eine ganz besondere Institution. Vom englischen Parlament sagt man, es sei allmächtig, es sei bloß nicht in der Lage, einen Mann in eine Frau zu verwandeln. Unser Zentralkomitee ist mächtiger: es hat bereits mehr als einen Revolutionär in ein altes Weib verwandelt. Und die Zahl dieser alten Weiber ist unglaublich rasch gestiegen.“ [21] V. Kosior nannte eine Reihe von Fällen, wo örtliche Führungsgremien der Partei und der Gewerkschaften durch Entscheidungen des Politbüros und des Organisationsbüros aufgelöst worden waren. Auf dem 12. Parteitag beschwerte sich Preobrashensky, daß 30 Prozent aller Sekretäre der Bezirksparteikomitees auf „Vorschlag“ des Zentralkomitees der Partei in ihre Ämter eingesetzt worden waren. [22] Von hier bis zur uneingeschränkten Herrschaft des Generalsekretärs war es nur noch ein kleiner Schritt.
Ohne Zögern läßt sich sagen, daß die stellvertretende Machtausübung der Marxistischen Partei an Stelle der Arbeiterklasse selbst die Folge einer anderen Form des Substitutionismus ist: Überall dort, wo eine schwache Arbeiterklasse die historische Aufgabe einer kapitalistischen Klasse zu übernehmen gezwungen ist, d. h. überall dort, wo der Kapitalismus noch in seinen Anfängen steckt und die Mehrheit der Bevölkerung aus Kleinkapitalisten (Bauern) besteht, ist auch die Gefahr der Verselbständigung der Marxistischen Partei von ihrer ursprünglichen Klassenbasis groß. Und diese Form des Substitutionismus führt zu weiteren: nämlich zur Herrschaftsausübung des Parteibeamtentums an Stelle der Partei und schließlich zur individuellen Diktatur des Generalsekretärs.
Marx und Engels haben sich mehr als einmal mit der Frage auseinandergesetzt, was geschähe, wenn die Arbeiterklasse die Macht ergriffe, bevor die historischen Voraussetzungen für eine Ablösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch sozialistische gegeben seien. Sie kamen zu dem Schluß, daß in einem solchen Falle die Arbeiterklasse den Weg für die Entwicklung des Kapitalismus bereiten würde. Engels schrieb:
„Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert [...] Er findet sich notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muß im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigene Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, daß die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren.“ [23]
Nur die Ausdehnung der Revolution hätte den Bolschewismus vor diesem tragischen Schicksal bewahren können. Und von dieser Möglichkeit machten die Bolschewiki ihr Schicksal abhängig. Nur Enthaltsamkeitsapostel und Feiglinge konnten den Bolschewiki raten, die revolutionären Fähigkeiten des russischen Proletariats nicht bis zur äußersten Grenze auszuschöpfen, etwa aus Furcht, sich in eine Sackgasse zu begeben. Das Handeln der Bolschewiki war geleitet von revolutionärer Tatkraft und internationalen Perspektiven.
Aber wenn wir sagen, daß der von den Bolschewiki aufgebaute Staat nicht nur den Willen der Partei, sondern die Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sich die Bolschewiki nach der Machtübernahme befanden, widerspiegelt, so läßt sich daraus nicht schließen, daß es zwischen bolschewistischem Zentralismus – dessen Basis eine Hierarchie von Berufsrevolutionären war – und dem zukünftigen Stalinismus überhaupt keine ursächlichen Beziehungen gab.
Untersuchen wir diese Frage eingehender: Die Notwendigkeit für eine revolutionäre Partei leitet sich her aus der Tatsache, daß die verschiedenen Sektionen und Gruppen von Arbeitern ein unterschiedliches kulturelles Niveau und Bewußtsein erreichen. Wenn die Arbeiterklasse ideologisch eine homogene Klasse wäre, dann wäre eine homogene revolutionäre Führung überflüssig. Aber die Revolution läßt nicht auf sich warten, bis die Massen insgesamt ein gewisses intellektuelles Niveau oder Niveau des Klassenbewußtseins erreicht haben. Unter der materiellen und geistigen Unterdrückung im Kapitalismus erreichen die verschiedenen Arbeiterschichten einen unterschiedlichen Grad an Selbständigkeit von der herrschenden Klasse. Gäbe es nicht dieses Bewußtseinsgefälle innerhalb der Arbeiterklasse – die kapitalistischen Klassen würden in den entwickelten Ländern kaum mehr eine soziale Basis für die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Herrschaft finden. Unter solchen Bedingungen könnte der Klassenkampf geradlinig und ohne große Sprünge fortschreiten. Ja, von Klassenkampf könnte kaum die Rede sein: der Antagonismus innerhalb der Arbeiterklasse – die Bedrohung durch Streikbrecher (Arbeiter) und Polizisten und Soldaten (Arbeiter in Uniform) – bestünde nicht. Wäre die Arbeiterklasse in sich homogen, bedürfte es auch keines Arbeiterstaates: Macht durch Zwangsausübung nach der Revolution wäre überflüssig. Aber die Revolution wird nicht die Form solcher anarchistischer Tagträume annehmen. Proletarische Disziplin im Kapitalismus und unmittelbar nach einer sozialistischen Revolution wird einmal ermöglicht durch die organisatorische Trennung von bewußten und unbewußten Arbeitern, d. h. durch die Existenz einer Führung, zum anderen durch die kombinierte Anwendung von Zwang und Überzeugung – die Arbeiterklasse kann sich nicht mit einem Federstrich von den Geburtsmalen der kapitalistischen Barbarei freimachen.
Unter dem Kapitalismus erlebt der Arbeiter Disziplin als eine äußerliche, ihm aufgezwungene Macht, als eine Macht, die das Kapital ihm gegenüber besitzt. Im Sozialismus wird die Disziplin ein Ergebnis des Bewußtseins sein, sie wird zur Lebensart eines freien Volkes. In der Übergangsperiode wird sie als Resultat zweier Faktoren wirken – des Bewußtseins und des Zwangs. Kollektiver Besitz der Produktionsmittel durch die Arbeiter, d. h. durch den Arbeiterstaat, ermöglicht Arbeiterdisziplin als Element der Bewußtheit. Zur gleichen Zeit wird die Arbeiterklasse als Kollektiv durch ihre Institutionen – Räte, Gewerkschaften etc. -, insofern diese der Disziplinierung des Einzelarbeiters dienen, als Zwangsgewalt auftreten.
Dieser Konflikt zwischen Einzelnen und Kollektiv, die Notwendigkeit, Überzeugung mit ihrem häßlichen Gegenteil, Zwang, zu verbinden, ist nur eine Bestätigung dafür, daß die Arbeiter sich im Kapitalismus geistig nicht befreien können und daß es einer großen historischen Epoche bedarf, bis die Deformationen des Bewußtseins durch den Kapitalismus überwunden sein werden.
Wir stimmen mit den Anarchisten überein, daß der Staat und auch der Arbeiterstaat ein häßlicher Sproß der Klassengesellschaft ist. Aber der Beginn der eigentlichen Geschichte, ebenso wie das Absterben des Staates überhaupt, setzt die Existenz eines gefestigten Arbeiterstaates voraus.
Die Notwendigkeit einer Partei oder von Parteien ist selbst Beweis für die Zersplitterung der Arbeiter. Die intellektuelle Kluft zwischen Klasse und Partei wird um so größer sein, je zurückgebliebener die Arbeiterklasse kulturell ist und je geringer ihre Fähigkeiten zur Selbstverwaltung ausgebildet sind. Aus diesem Bewußtseinsgefälle innerhalb der Arbeiterklasse entsteht die große Gefahr einer Verselbständigung der Partei und ihres Apparates, die darin enden kann, daß sie Herrscher und nicht Diener der Klasse ist. Dieses Bewußtseinsgefälle ist die Hauptquelle der Gefahr des „Substitutionismus“.
Die Geschichte des Bolschewismus bis zur Revolution spricht Bände über Lenins Kampf gegen diese Gefahr. Wie oft wandte er sich an die Massen der Arbeiter – insbesondere in den stürmischen Monaten des Jahres 1917! Wie oft wandte er sich gegen die schwankende, kompromißlerische Parteiführung und ihren Apparat.
Trotzki analysierte das Verhältnis zwischen Lenin, den Massen und dem Parteiapparat in den knappen Sätzen:
Lenins Position war nicht nur deshalb so stark, weil er die Gesetze des Klassenkampfes verstand, sondern auch, weil er ein scharfes Gespür für alle Regungen der in Bewegung geratenen Massen besaß. Er repräsentierte nicht so sehr den Parteiapparat als die Vorhut des Proletariats. Er war überzeugt, daß Tausende von gerade jenen Arbeitern ihn unterstützen würden, die in der Phase der Illegalität und des Krieges die Partei unter großen Opfern unterstützt hatten. Die Massen waren zu diesem Zeitpunkt revolutionärer als die Partei, und die Partei war revolutionärer als der Parteiapparat. Schon seit März 1917 war die tatsächliche Haltung der Arbeiter und Soldaten in vielen Situationen stürmisch hervorgebrochen und entsprach weitgehend nicht mehr den Losungen der Parteien, die Bolschewiki eingeschlossen [...] Auf der anderen Seite war der Parteiapparat als eine konservierende, hemmende Kraft eben erst im Begriff zu entstehen [...] Lenin hatte auf die Partei nicht so sehr Einfluß als Einzelperson, sondern weil er den Einfluß der Klasse auf die Partei und der Partei auf den Parteiapparat verkörperte. [24]
Menschen machen Geschichte, und wenn die in einer Partei organisierten Menschen auch einen größeren Einfluß auf den Gang der Ereignisse besitzen als ihre relative Zahl es vermuten ließe, so muß immerhin festgestellt werden, daß sie ihre Geschichte nicht nach persönlichem Gutdünken gestalten. Ihr größeres spezifisches Gewicht ist nicht eine Funktion ihrer Persönlichkeiten und Charaktere, ebensowenig wie der Gang der allgemeinen Geschichte ihrer Klasse, ja ihrer eigenen Rolle darin.
Letzten Endes ist die Aktivität der Klasse selbst und der dadurch erzeugte Druck nicht nur auf den Klassenfeind, sondern auf den eigenen Agenten, d. h. die revolutionäre Partei, die einzige Waffe, mit der eine „Substitution“ der Partei für die Klasse und damit die Verwandlung der Partei in eine konservative Kraft verhindert werden kann.
Es ist nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes zu zeigen, wie weit Trotzki im einzelnen dabei ging, die Not zur Tugend zu machen, in welche extreme Verallgemeinerungen er verfiel, um antidemokratische, gegen die Herrschaft der Klasse gerichtete Maßnahmen zu rechtfertigen. Es mag ausreichen, seine Argumente für eine „Militarisierung der Arbeit“ zu erwähnen, d. h. für eine vom Staat auferlegte Zwangsarbeit, aus dem Jahre 1921. Die Gewerkschaften, so forderte er, sollten verstaatlicht werden.
[Wir brauchen] einen neuen Typ von Gewerkschafter, den energiegeladenen, einfallsreichen ökonomischen Organisator, der Wirtschaftsfragen nicht von der Seite der Verteilung und des Konsums aus betrachtet, sondern allein vom Gesichtspunkt der Produktion; der nicht daran gewöhnt ist, durch die Brille derjenigen zu sehen, die der Sowjetregierung immer nur fordernd und verhandelnd gegenübertreten, sondern der alles mit den Augen eines ökonomischen Organisators betrachtet. [25]
Was bedeutet da noch „Verteidigung der Arbeiter vor dem Staat“ gar vor dem Arbeiterstaat? Kann die Gewerkschaft dies vernachlässigen? Trotzki beantwortet diese Frage nicht, er formuliert sie nicht einmal! „Militarisierung“, sagte er auf dem 9. Parteitag, „ist undenkbar ohne die Militarisierung der Gewerkschaften selbst, d. h. ohne die Errichtung eines Regimes, in der jeder Arbeiter sich als Soldat der Arbeit versteht, der nicht frei über sich verfügen kann; wenn der Befehl kommt, daß er versetzt werden soll, so muß er ihn ausführen; führt er ihn nicht aus, wird er wie ein Deserteur behandelt und bestraft werden. Wer besorgt das? Die Gewerkschaft. Sie bildet das neue Regime. Das ist die Militarisierung der Arbeiterklasse.“ [26]
1924 ging Trotzki noch einen Schritt weiter. Er sagte:
Keiner von uns wünscht oder ist dazu in der Lage, den Willen der Partei anzuzweifeln. Die Partei hat letztlich immer recht, weil die Partei das einzige historische Instrument ist, mittels dessen das Proletariat seine grundlegenden Probleme lösen kann. Ich habe bereits festgestellt, daß es nichts Einfacheres gibt, als sich vor seine Partei hinzustellen und Fehler zu reklamieren, nichts Einfacheres, als zu sagen: „Da, seht! All meine Kritik! Meine Worte! Meine Warnungen! Meine Proteste! Das Ganze war einfach ein Fehler!“ Genossen, genau das kann ich jedoch nicht sagen, weil ich es nicht denke! Ich weiß, daß man nicht gegen die Partei recht haben darf. Man kann nur im Recht sein mit der Partei und durch die Partei, denn die Geschichte kennt keinen anderen Weg, Recht zu bekommen. Die Engländer kennen ein Sprichwort, das heißt: „Right or wrong – my country“. Mit viel größerer historischer Berechtigung können wir sagen: „Recht oder Unrecht – meine Partei“ [...] Und wenn die Partei einen Beschluß gefaßt hat, den der eine oder andere nicht für gerechtfertigt hält, muß er sagen: richtig oder falsch, es handelt sich um einen Beschluß meiner Partei und ich unterstütze die Folgerungen dieses Beschlusses bis zu ihrem logischen Ende. [27]
Als Ausgangspunkt für eine Analyse des Verhältnisses zwischen revolutionärer Partei und Arbeiterklasse soll uns ein Satz aus dem Kommunistischen Manifest dienen:
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.
Aufgrund des wesentlich höheren kulturellen Niveaus der Arbeiter in den modernen Industrieländern, ihrer größeren Selbständigkeit und Organisationsfähigkeit, ihrer relativ ausgeprägteren sozialen Homogenität (nicht umzingelt von Bauernmassen!) im Vergleich zur russischen Arbeiterklasse von 1917 können wir zu dem Schluß kommen, daß das Bewußtseinsgefälle der Massen vor, während und nach der Revolution viel geringer sein wird als in Rußland, auch wenn es nicht völlig verschwunden sein wird.
Daraus läßt sich eine Reihe weiterer Schlüsse ziehen: erstens im Hinblick auf die Größe der revolutionären Partei im Verhältnis zur Arbeiterklasse insgesamt. Im Oktober 1906 zählte die Sozialdemokratische Partei Rußlands (beide Fraktionen, Bolschewiki und Menschewiki) 70.000 Mitglieder. Zur gleichen Zeit zählte der jüdische „Bund“ 33.000, die polnischen Sozialdemokraten 23.000, die lettischen Sozialdemokraten 13.000 Mitglieder. Insgesamt betrug die Zahl der in den illegalen sozialistischen Parteien Organisierten ca. 144.000. [28] Im August 1917 hatten die Bolschewiki 200.000 Mitglieder. Im Durchschnitt waren 5,4 % der Industriearbeiter in 25 Städten Mitglieder der Bolschewistischen Partei. [29]
Wenn das Verhältnis von Parteimitgliedschaft zur Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern dem in Rußland von 1905 oder 1917 entspräche, müßte die Partei Millionen von Mitgliedern haben. Aufgrund der geringeren Differenzierung des Bewußtseins und des kulturellen Niveaus müßte die relative Stärke der Partei sogar noch größer als in Rußland sein. (Die Legalität der Arbeiterparteien verstärkt diese Tendenz noch.) Wer immer unter dem Eindruck der aktuellen Größe der reformistischen Parteien zu gegensätzlichen Ergebnissen kommt, versteht nicht die Rolle der Massen im revolutionären Kampf. Die reformistische Partei ist hauptsächlich ein Apparat zur Sammlung von Stimmen für Parlaments- und sonstige Wahlen. Daher ist sie auch nicht auf die aktive Teilnahme der Massen angewiesen. Alles in allem erachten es die Anhänger einer solchen Partei nicht für notwendig, sich aktiv in das Parteileben einzuschalten. Oft genug lesen sie nicht einmal ihre Presse. Die aktive Unterstützung einer revolutionären Partei durch größere Massen muß dazu führen, daß sich eine vergleichsweise größere Anzahl von Arbeitern einer solchen Partei anschließt. Daraus wird deutlich, daß kleine Gruppen in keiner Weise ein Ersatz für die revolutionäre Massen-Partei und erst recht nicht für die kämpferische Masse der Arbeiter selbst sein können. [30]
Was läßt sich nun über das Verhältnis zwischen revolutionärer Partei und Klasse sagen?
Jede Partei, ob reformistisch oder revolutionär, ob konservativ oder liberal, wird versuchen, Anhänger und Unterstützung zu gewinnen, um sie zu diesem oder jenem Ziel zu führen. Die revolutionäre Partei versucht das auch. Aber hier hört die Ähnlichkeit auf. Die Methoden, mit der eine revolutionäre Führung aufgebaut wird, und der Charakter dieser Führung selbst sind dem Modell bürgerlicher oder reformistischer Parteien diametral entgegenzusetzen.
Wir können uns drei Arten von Führung vorstellen, die wir aus Mangel an besseren Begriffen folgendermaßen bezeichnen wollen: die des Lehrers, die des Vorarbeiters und des Vorgesetzten und die des Kampfgenossen. Kleine Sekten verstehen sich oft als „Lehrer der Arbeiterklasse“. Sie huldigen dem Schulmeistersozialismus. Didaktische Methoden treten an die Stelle der Teilnahme am Kampf selbst. Die zweite Art der politischen Führung, das Verhältnis Vorarbeiter – Arbeiter, Offizier – Soldat finden wir bei allen reformistischen und stalinistischen Parteien: die Führung sitzt in einem Vorstand und beschließt, ohne aktive Teilnahme der Arbeiter selbst, die jeweilige „Linie“. Beiden Arten der politischen Führung gemeinsam ist, daß die Direktiven nur in eine Richtung gehen: die Führer halten den Massen gegenüber einen Monolog. Die dritte Art der Führung können wir mit einem Streikkomitee vergleichen. Die revolutionäre Partei muß einen ständigen Dialog mit den außerhalb der Partei stehenden Arbeitern führen. Die Partei wird dementsprechend ihre Taktiken nicht frei erfinden, sondern es sich zur wichtigsten Aufgabe machen, von den Erfahrungen der Massenbewegung zu lernen, und von diesen zu verallgemeinern. Die großen Ereignisse in der Geschichte der Arbeiterbewegung stellen die Richtigkeit dieses Weges über allen Zweifel. Die Arbeiter der Pariser Kommune 1871 errichteten einen neuen Staat, einen Staat ohne stehende Armee, ohne Bürokratie, einen Staat, in dem alle Beamten und öffentlichen Funktionsträger jederzeit abwählbar waren und den Durchschnittslohn eines Arbeiters erhielten usw., bevor noch Marx damit begann, verallgemeinernde Aussagen über die Natur und die Struktur eines Arbeiterstaates aufzustellen. Ein anderes Beispiel ist das der Petersburger Arbeiter, die 1905 unabhängig von der bolschewistischen Partei, ja sogar gegen den Willen der lokalen bolschewistischen Parteiführung einen Arbeiterrat bildeten. Lenin nahm eine argwöhnische, wenn nicht sogar ablehnende Stellung zum Petersburger Arbeiterrat ein. Wir müssen Rosa Luxemburg beipflichten, wenn sie 1904 schreibt: „Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht erfunden, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußtsein, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger.“ [31]
Die Aufgabe der Marxisten ist es, die lebendige, sich ständig weiter entwickelnde Erfahrung des Klassenkampfes zu verallgemeinern, um dem instinktiven Drang der Arbeiterklasse, die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage zu reorganisieren, bewußten Ausdruck zu verleihen.
Weil die Arbeiterklasse alles andere als ein monolithischer Block ist und weil der Weg, der zum Sozialismus führt, keineswegs erkundet ist, können und müssen große Differenzen über Strategie und Taktik innerhalb der revolutionären Partei existieren. Die Alternative hierzu ist eine bürokratische Partei oder die Sekte mit ihren „Führern“. Wenn daher Trotzki in Bausch und Bogen behauptet, „daß jeder ernsthafte Fraktionskampf in einer Partei letztlich immer eine Widerspiegelung des Klassenkampfes ist“ [32], so können wir das nur bedauern. Das grenzt an vulgär-materialistische Interpretationen des menschlichen Denkens, das als geradliniges Produkt der jeweiligen materialistischen Bedingungen hingestellt wird. Der Druck welcher Klassen trennte Lenin von Luxemburg (1904), Trotzki von Lenin (1903–1917), welche Verschiebungen des Klassenmilieus liegen dem Zick-Zack-Kurs eines Plechanow zugrunde: 1903 mit Lenin, 1903 gegen Lenin, 1905 gegen Lenin, dann wieder mit Lenin und schließlich, das ist richtig, sein endgültiger Bruch mit Lenin und mit der revolutionären Bewegung überhaupt. Lassen sich die Differenzen in den Imperialismustheorien Lenins und Luxemburgs aus einer Analyse ihrer Stellung in der Klassengesellschaft ableiten? Der wissenschaftliche Sozialismus lebt und entwickelt sich aus der Kontroverse. Und Wissenschaftler, die von gleichen Grundannahmen ausgehen, können zu unterschiedlichen Hypothesen gelangen. Dies nicht nur im wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auf allen Gebieten der Forschung.
Damit die Partei mit der Masse einen Dialog führen kann, muß sie nicht nur Vertrauen in die unerschöpflichen Fähigkeiten der handelnden Arbeiterklasse haben. Die Partei muß auch die Situation innerhalb eines Landes richtig einschätzen, und sie muß auch die materiellen und moralischen Verhältnisse, in denen sich die Arbeiterklasse zu jedem Zeitpunkt befindet, kennen. Jede Selbsttäuschung der Partei muß den Dialog abschneiden und ihn in einen langweiligen Monolog verwandeln.
Die Partei muß sich dem Ganzen unterordnen. Und deshalb muß die innere Organisation und Diskussion der Partei dem Verhältnis der Partei zur Klasse entsprechen. Der Manager einer Fabrik kann und muß seine Pläne im geheimen entwickeln, um dann die Arbeiter vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die revolutionäre Partei, die sich anschickt, den Kapitalismus zu stürzen, kann nicht einen Begriff der innerparteilichen Diskussion teilen, der die aktive Teilnahme der Arbeitermassen ausschließt. Die Ergebnisse derartiger Diskussionen sind meist „einstimmige“ Beschlüsse, die der Klasse dann als vollendete Tatsache vorgesetzt werden. Da die revolutionäre Partei keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen haben kann, sind alle Probleme, die die Partei hat, auch Probleme der Klasse. So sollten sie deshalb der Klasse stets offen dargelegt werden.
Die offene, freie Diskussion, wie sie oft in Streikversammlungen zu beobachten ist und die darauf abzielt, einen Beschluß herbeizuführen, der die Einheit in der Aktion ermöglicht, sollte auch in der revolutionären Partei vorherrschen. Das bedeutet, daß die Diskussionen über alle wichtigen Fragen in hellem Tageslicht geführt werden sollten, in den allen zugänglichen Presseorganen der Partei. Die Masse der Arbeiter soll an den Diskussionen teilnehmen können, soll Druck auf die Partei, ihren Apparat, ihre Führung ausüben. [33]
Die revolutionäre Partei sollte sich vor allem am Kommunistischen Manifest orientieren, wenn es dort heißt:
In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt? Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.
1. Dieser Aufsatz wurde anläßlich des zwanzigsten Jahrestages der Ermordung Trotzkis verfaßt. Er erschien zuerst in der englischen Zeitschrift International Socialism, Herbst 1960. Übersetzt von Volkhard Mosler.
2. Leo Trotzki, Naschi Politischeskie Sadatschi, Genf 1904, S. 54.
3. Ebd., zit. nach Isaac Deutscher: Trotzki, 1: Der bewaffnete Prophet 1879–1921, Stuttgart 1962, S. 98.
4. W. I. Lenin: LW, Bd. 8, Berlin 1966, S. 284.
5. Ebd., Bd. 9, S. 14 f.
6. Vgl. L. Kritsma, Garoicheskij Period Velikoi Russkoi Revolutsij, S. 133–136.
7. Wotoroj Wserossiskij Seds Professionalnyk Soyusow 1921, S. 138.
8. Vgl. Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Bd. 1, Frankfurt 1973, S. 41 f.
9. Vgl. ebd., ebenso: Lenin, Werke, Bd. 21, a. a. O., S. 41 f.
10. Vgl., A. Schljapnikow, Das Jahr 17 (russisch), Bd. 1, Moskau 1924, S. 197.
11. Vgl. A. S. Bubnow u. a., VPK (b), Moskau-Leningrad 1931, S. 113.
12. Vgl. Bubnow u. a., a. a. O., S. 114.
13. Vgl. VKP (b) v Resoluziach, 4. Ausgabe, Bd. 1, a. a. O., S. 258.
14. Vgl. Lenin, Werke, Bd. 25, a. a. O., S. 311.
15. Vgl. ebd., Bd. 26, S. 26 f.
16. Vgl. Leo Trotzki: Stalin, London 1947, S. 341 f.
17. Vgl. ebd., S. 512.
18. IX. Sesd RKP (b), S. 52.
19. Ebd., S. 62.
20. Ebd., S. 56 f.
21. Ebd., S. 83.
22. XIII. Sesd RKP (b), S. 133.
23. Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin (O) 1955, S. 111 f.
24. Trotzki: Stalin, a. a. O., S. 204. – Bedauerlicherweise muß festgestellt werden, daß Trotzki die Gefahren des bürokratischen Konservativismus innerhalb der trotzkistischen Organisationen mit einem Federstrich beiseite schob und sich in vulgär-materialistische Interpretationen des Bürokratismus flüchtete. Als J.P. Cannon, der Führer der amerikanischen Trotzkisten, bürokratischer, konservativer Verhaltensweisen beschuldigt wurde, wandte Trotzki ein, diese Beschuldigungen basierten auf einer „rein psychologischen Abstraktion, da diesem Konservatismus keine spezifischen gesellschaftlichen Interessen sichtbar zugrunde liegen“ (Trotzki, In Defense of Marxismus, New York 1942, S. 81). Welche sozialen Interessen vertrat dann jener Parteiapparatschik, als dessen Archetyp Stalin gilt, in der Periode vor 1917?
25. Trotzki, zit. nach I. Deutscher, Soviet Trade Unions, London 1950, S. 42.
26. IX. Sesd RKP (b), S. 101.
27. XIII. Sesd RKP (b), Moskau 1924, S. 165 f. – Trotzkis und Lenins Haltung gegenüber dem Kronstädter Aufstand werden oft von Menschewiki, Anarchisten und anderen linken Kritikern als Beispiel der bürokratischen Unterdrückung genannt. In Wirklichkeit war der Kronstädter Aufstand zunächst ein Aufstand der Bauern und Halbbauern gegen die Städte. Daher nahm die gesamte innerparteiliche Opposition – Schljapnikows und Kollontais „Arbeiteropposition“ eingeschlossen – aktiv an seiner Niederschlagung teil; und in seinen Fußstapfen folgte die Politik der Konzessionen an den Kleinkapitalismus, an die Bauernschaft, die NEP (Neue ökonornische Politik). Die Frage des Kronstädter Aufstands, ebenso wie die Geschichte der frühen Oppositionsgruppen, ist ein faszinierendes Thema, das eine besondere Untersuchung verdient.
28. Vgl. W. I. Lenin, Sotschinenija, X, S. 483.
29. VI. Sesd RKP (b), Moskau 1958, S. 390.
30. Niemand in Rußland zweifelte 1917 darin, daß Trotzkis politische Gruppe allein – die Meschrajonzi, die vor ihrem Anschluß an die Bolschewiki etwa 4.000 Mitglieder hatte – viel zu klein war, als daß sie einen ernsthaften Einfluß auf den Gang der Ereignisse hätte ausüben können. Ähnlich kann man Trotzkis Äußerung von 1921 über die KAPD verstehen: „Nicht mehr als 30–40.000 Mitglieder“. Trotzki wollte damit die geringe politische Bedeutung der KAPD kennzeichnen. (Trotzki, The First Five Years of the Communist International, London 1953, Bd. II, S. 26)
31. In: Die Neue Zeit, 1904, S. 491.
32. Trotzki: In Defense of Marxism, a. a. O., S. 60.
33. In einigen Fällen ist die Geheimhaltung gerechtfertigt, und jeder klassenbewußte Arbeiter wird das verstehen. So wie bei Streikversammlungen die Kapitalisten und ihre Zeitungsleute und andere Agenten ausgeschlossen werden können, so gibt es Momente im Leben der revolutionären Partei, die geheim gehalten werden müssen. Aber in allen solchen Fällen sollte die Partei dazu in der Lage sein, dies vor den Arbeitern zu vertreten und sie davon zu überzeugen, daß keine grundlegenden politischen Entscheidungen vor ihnen verborgen werden sollen.
Zuletzt aktualisiert am 3. April 2019