Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

 

IX. Rosa Luxemburgs historische Bedeutung

Franz Mehring, Marx’ Biograph, hat nicht übertrieben, als er Rosa Luxemburg den genialsten Kopf seit Marx nannte. Aber sie stellte nicht nur ihre Intelligenz in den Dienst der Arbeiterbewegung: Sie gab alles – ihr Herz, ihre Leidenschaft, ihren starken Willen, selbst ihr Leben.

Vor allem anderen war Rosa Luxemburg eine revolutionäre Sozialistin. Und unter den großen revolutionären Führern und Lehrern des Sozialismus nimmt sie eine besondere historische Stellung ein.

Als der Reformismus die sozialistische Bewegung niederzog, indem er sich mit dem Kapitalismus arrangierte und lediglich auf den „Wohlfahrtsstaat“ hoffte, war es von größter Bedeutung, an diesem Agenten des Kapitalismus revolutionäre Kritik zu üben. Es ist richtig, daß neben Rosa Luxemburg auch andere marxistische Theoretiker – Lenin, Trotzki, Bucharin u.a. – einen revolutionären Kampf gegen den Reformismus geführt haben. Aber sie hatten nur an einer vergleichsweise schmalen Front zu kämpfen. In ihrem Lande, in Rußland, waren die Wurzeln dieses Unkrauts so schwach und dürftig, daß ein bloßes Zupfen genügte, um sie auszureißen. Wo jedem Sozialisten oder Demokraten Sibirien oder der Galgen drohte, konnte sich niemand der Anwendung von Gewalt durch die Arbeiterbewegung prinzipiell widersetzen. Wer hätte im zaristischen Rußland von einem parlamentarischen Weg zum Sozialismus geträumt? Wer hätte eine Politik der Koalitionsregierung vorschlagen können, wenn es niemanden gab, mit dem man koalieren konnte? Wer konnte Gewerkschaften für das Kernstück der Arbeiterbewegung halten, wo sie kaum existierten? Lenin, Trotzki und die anderen russischen bolschewistischen Führer brauchten die Argumente des Reformismus nicht durch eine sorgfältige und exakte Analyse zu widerlegen. Sie brauchten nur einen Besen, um den Reformismus auf den Kehrichthaufen der Geschichte zu fegen.

In Mittel- und Westeuropa hatte der konservative Reformismus viel tiefere Wurzeln geschlagen, hatte einen wesentlich weitreichenderen Einfluß auf Gedanken und Stimmungen der Arbeiter. Die Argumente der Reformisten muten mit besseren Argumenten beantwortet werden, und hier brillierte Rosa Luxemburg. In diesen Ländern ist ihr Skalpell eine weit nützlichere Waffe als Lenins Schmiedehammer. Im zaristischen Rußland waren die Arbeitermassen nicht in Parteien oder Gewerkschaften organisiert. Dort bestand nicht – wie in der gutorganisierten deutschen Arbeiterbewegung – die Gefahr, daß eine aus der Arbeiterklasse hervorgegangene Bürokratie mächtige Herrschaftsbereiche aufbaute; und es war begreiflich, daß Rosa Luxemburg die Rolle der Arbeiterbürokratie viel früher und klarer durchschaute als Lenin oder Trotzki. Lange vor ihnen erkannte sie, daß die Initiative der Arbeiter die einzige Macht ist, die die Ketten der Bürokratie zerbrechen kann. Ihre Schriften zu diesem Thema können den Arbeitern in den fortgeschrittenen Industrieländern neue Hoffnung geben; zum Kampf um die Befreiung der Arbeiter von der schädlichen Ideologie des bürgerlichen Reformismus tragen ihre Schriften mehr und wertvolleres bei als die jedes anderen Marxisten.

In Rußland, wo die Bolschewiki stets einen großen und wichtigen Teil der organisierten Sozialisten ausmachten, auch wenn sie nicht immer (wie ihr Name besagt) die Mehrheit stellten, war die Stellung einer kleinen marxistischen Minderheit zur konservativ geführten Massenorganisation niemals ein wirkliches Problem. Es blieb weitgehend Rosa Luxemburg überlassen, den richtigen Ansatz zur Lösung dieser entscheidenden Frage zu entwickeln. Ihr Leitsatz hieß: Arbeite mit den Massen und versuche, ihnen zu helfen. Daher widersetzte sie sich jeder Abkehr vom Hauptstrom der Arbeiterbewegung, wie immer deren Entwicklungsniveau sein mochte. Ihr Kampf gegen das Sektierertum ist für die Arbeiterbewegung des Westens von überaus großer Bedeutung, vor allem in der Gegenwart, angesichts der alles durchdringenden Ideologie vom Wohlfahrtsstaat. Gerade die britische Arbeiterbewegung kann sich nach den leidvollen Erfahrungen mit dem Sektierertum Hyndmans und der SDF, dann der BSP und SLP und schließlich der KP (besonders in ihrer „dritten Periode“) von Rosa Luxemburg zu einem grundsätzlichen Kampf gegen den Reformismus inspirieren lassen, der nicht in Flucht vor dem Reformismus ausartet. Sie lehrt, daß ein Revolutionär weder mit dem Strom des Reformismus schwimmen noch am Rande sitzen und in die andere Richtung schauen, sondern kräftig gegen den Strom schwimmen muß.

Rosa Luxemburgs lange Zugehörigkeit zur deutschen Sozialdemokratie verlieh ihrer eigenen Organisation einen sehr passiven Charakter. Die deutsche Linke beschränkte sich weitgehend auf die Kommentierung von Ereignissen und Strategien. Daher rührt ihre organisatorische, strategische und taktische Schwäche in der revolutionären Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.

Während man von Rosa lernen soll, nicht in Sektierer- und Abenteurertum zu verfallen, darf man andererseits auch den Bogen nicht überspannen und zu Passivität neigen, nicht „hinter den Massen zurückbleiben“. Rosa Luxemburgs Konzeption von der Struktur revolutionärer Organisationen – daß sie konsequent demokratisch von unten nach oben aufgebaut werden sollten – entspricht den Bedürfnissen der Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen Ländern weit besser als die Leninsche Konzeption von 1902–04, die voll den Stalinisten in aller Welt kopiert und bürokratisch verzerrt worden ist. Allerdings weist Rosa Luxemburg zu wenig auf die Gefahr hin, daß diejenigen, die in einer reformistischen Partei eine oppositionelle Tendenz vertreten, sehr leicht dem immanenten Trend unterliegen, die Ereignisse nur passiv zu kommentieren, statt sich aktiv zu bemühen, sie zu beeinflussen.

Rosa Luxemburgs Mischung aus revolutionärem Elan und klarem Verständnis für den Charakter der Arbeiterbewegung in West- und Mitteleuropa hat ihre Grundlage in ihrer Biographie – Geburt im zaristischen Kaiserreich, der lange Aufenthalt in Deutschland und der unbedingte Einsatz für die polnische wie für die deutsche Arbeiterbewegung. Ein Mensch von geringerem Format hätte sich einem der beiden Milieus angepaßt, nicht aber Rosa Luxemburg. Nach Deutschland brachte sie den „russischen“ Elan, den Elan der revolutionären Aktion. Polen und Rußland brachte sie den „westlichen“ Geist des Selbstvertrauens in die Demokratie und die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse.

Ihre Akkumulation des Kapitals ist ein unschätzbarer Beitrag zur marxistischen Theorie. In ihrer Analyse der Beziehungen zwischen industriell fortgeschrittenen und rückständig-agrarischen Ländern entwickelte sie den wichtigen Gedanken, daß der Imperialismus, der den Kapitalismus auf lange Sicht stabilisiert, zugleich droht, die Menschheit unter seinen Trümmern zu begraben.

Rosa Luxemburgs vitale, energische und keinesfalls fatalistische Auffassung der Geschichte, die sie als Ergebnis menschlichen Handelns begriff, und ihre Analyse der tiefen Widersprüche des Kapitalismus, ließen sie den Sieg des Sozialismus nicht als unvermeidlich ansehen. Der Kapitalismus, meinte sie, könne entweder die Vorstufe zum Sozialismus oder aber die Schwelle zur Barbarei sein. Wir, die wir im Schatten der H-Bombe leben, müssen diese Warnung begreifen und sie als Ansporn zum Handeln verstehen.

Im späten neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert versank die deutsche Arbeiterbewegung nach Jahrzehnten des Friedens in der Illusion, dieser Zustand werde ewig dauern. Wir, die wir in den Fesseln der Diskussion über kontrollierte Abrüstung, über Vereinte Nationen, über Gipfeltreffen etc. gefangen sind, können nichts Besseres tun, als aus Rosa Luxemburgs klarer Analyse der unauflöslichen Verbindung von Krieg und Kapitalismus zu lernen, und ebenso aus ihrer Einsicht, daß der Kampf um den Frieden vom Kampf für den Sozialismus nicht zu trennen ist.

Ihre Leidenschaft für die Wahrheit ließ Rosa Luxemburg vor jedem dogmatischen Denken zurückschrecken. In einer Epoche, in der der Stalinismus den Marxismus weitgehend in ein Dogma verwandelt hat und im Reich der Gedanken Verzweiflung verbreitet, wirken Rosa Luxemburgs Schriften anfeuernd und belebend. Nichts war ihr unerträglicher als die Verneigung vor „unfehlbaren Autoritäten“. Als wirkliche Schülerin von Marx konnte sie unabhängig von ihrem Lehrer denken und handeln. Sie hatte den Geist seiner Lehre erfaßt; darum verlor sie auch nicht ihre kritischen Fähigkeiten über der einfachen Wiederholung seiner Worte, abgesehen davon, ob diese nun der veränderten Situation entsprachen oder nicht, ob sie falsch oder richtig waren. Rosa Luxemburgs intellektuelle Unabhängigkeit ist für Sozialisten überall und jederzeit die stärkste Inspiration.

Niemand hätte mehr als sie selbst jeden Versuch bekämpft, sie „heilig“ zu sprechen, sie zu einer „unfehlbaren Autorität“ zu machen, zum Haupt einer Schule des Denkens oder Handelns. Sie liebte den Konflikt der Ideen als ein Mittel, der Wahrheit näherzukommen.

In einer Zeit, in der so viele, die sich als Marxisten ausgeben, den Marxismus seines tiefen humanen Inhalts berauben, kann niemand mehr als Rosa Luxemburg dazu beitragen, uns von den Ketten des leblosen mechanistischen Materialismus zu befreien. Für Marx war der Kommunismus (oder Sozialismus) „realer Humanismus“, „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ [1]

Rosa Luxemburg war die Verkörperung dieser humanistischen Leidenschaft. Sympathie für die Erniedrigten und Unterdrückten war das zentrale Motiv ihres Lebens. Ihr tiefes Gefühl und Verständnis für das Leiden der Menschen und alles Lebenden drückte sich in allem aus, was sie tat oder schrieb, in ihren Briefen aus dem Gefängnis ebenso wie in ihren bedeutendsten theoretischen Arbeiten.

Rosa Luxemburg wußte aber sehr genau, daß keine Tränen helfen, wo das menschliche Elend epische Maße annimmt. Ihr Motto hätte das von Spinoza sein können: „Nicht weinen, nicht lachen, verstehen“, obwohl ihr weder Tränen noch Lachen fremd waren. Ihre Methode bestand darin, die Entwicklungstendenzen des gesellschaftlichen Lebens aufzudecken, um der Arbeiterklasse zu helfen, ihre Möglichkeiten entsprechend der objektiven Entwicklung auf die umfassendste Weise zur Geltung zu bringen. Sie sprach eher die Vernunft als die Gefühle der Menschen an.

Tiefes menschliches Mitgefühl und ein ernstes Verlangen nach Wahrheit, unbändiger Mut und ein hervorragender Intellekt verbanden sich in Rosa Luxemburg und machten sie zu einer großen revolutionären Sozialistin. Ihre engste Freundin, Clara Zetkin, schrieb in ihrem Nachruf:

Die sozialistische Idee war in Rosa Luxemburg eine alles beherrschende mächtige Leidenschaft des Kopfes und Herzens, eine Leidenschaft, die verzehrte und sich schöpferisch auswirkte. Die Revolution vorbereiten, die die Bahn für den Sozialismus freilegt, war die Aufgabe und der eine große Ehrgeiz dieser seltenen Frau. – Die Revolution erleben, ihre Schlachten mitschlagen, war höchstes winkendes Glück. Mit einer Willenskraft, Selbstlosigkeit, Hingabe, für die Worte zu schwach sind, hat Rosa Luxemburg für den Sozialismus alles eingesetzt, was sie war, was sie in sich trug. Sie hat sich selbst ihm als Opfer dargebracht, nicht nur mit ihrem Tode, sondern täglich, stündlich mit der Arbeit und dem Kampf vieler Jahre ... Sie war das Schwert, die Flamme der Revolution. [2]

 

Anmerkungen:

1. Marx u. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S.482.

2. Clara Zetkin, (1919), zit. nach Paul Frölich: Rosa Luxemburg, a.a.O., S.229.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003