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Weltreiche gab es schon vor dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus, ja bevor der Kapitalismus überhaupt existierte. Jedoch hat der Imperialismus in einer jeden Epoche unterschiedliche Triebkräfte und unterschiedliche Folgen. Die Verwendung ein und desselben Begriffs zur Kennzeichnung ganz verschiedener Erscheinungen
kann deshalb unter Umständen mehr Verwirrung als Klarheit stiften. Lenin verwandte den Begriff für das höchste Entwicklungsstadium des Kapitalismus, für den niedergehenden Kapitalismus, bei dem die proletarische Revolution auf der Tagesordnung steht. Doch selbst die Weltreiche ein und derselben Geschichtsperiode haben sehr verschiedenen Charakter. Sinowjew schreibt in seinem Artikel Was ist Imperialismus?:
Wenn wir das tun (wenn wir definieren, was der moderne Imperialismus tatsächlich ist), dürfen wir nicht vergessen, daß es verschiedene Typen des Imperialismus gibt. Der englische Imperialismus unterscheidet sich vom deutschen usw.; es gibt einen europäischen, einen asiatischen und einen amerikanischen Imperialismus; es gibt einen weißen und einen gelben Imperialismus. Der japanische Imperialismus ähnelt nicht dem französischen Typ. Der russische Imperialismus ist eine ziemlich einzigartige Erscheinung, da er ein rückständiger Imperialismus ist (man kann ihn nicht einmal mehr asiatisch nennen), der sich auf einer außerordentlich rückständigen Grundlage entfaltet. [426]
Hält man sich an Lenins Imperialismusbegriff, dann scheint es falsch, das zaristische Rußland als imperialistisch zu bezeichnen; denn nach Lenin besteht das typische Merkmal des Imperialismus in der Suche nach Gebieten für den Kapitalexport, während das typische Merkmal des Frühkapitalismus die Suche nach Märkten war. Aber alle Marxisten, einschließlich Lenin und Trotzki, nannten das zaristische Rußland imperialistisch. Und sie hatten recht. Denn im Zusammenhang der Weltwirtschaft und angesichts der zwischen Rußland und den hochentwickelten Ländern herrschenden Beziehungen – und beides gehört zu den Definitionskriterien – war das zaristische Rußland imperialistisch im Leninschen Sinne. Lenins Imperialismusbegriff nennt die folgenden 5 grundlegenden Merkmale:
- Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen;
- Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“;
- der Kapitalexport, im Unterschied zum Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung;
- es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und
- die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. [427]
Für den Staatskapitalismus trifft sicherlich das erste Merkmal zu, da er aus einem einzigen allgemeinen staatlichen Monopol besteht. Was das zweite Merkmal betrifft, so erreicht die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital die höchste Stufe, wenn der Staat Industrie- und Bankkapitalist zugleich ist. Was das vierte Merkmal angeht, so zwingt die wachsende Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten den Staat – besonders deutlich in Deutschland und Japan –, den internationalen kapitalistischen Monopolen zuvorzukommen. Ganz offensichtlich ist es fast ausgeschlossen, daß ein internationales kapitalistisches Monopol in eine staatskapitalistische Wirtschaft mit ökonomischen Mitteln eindringt. (Natürlich sind einige ausländische Konzessionen vorstellbar.) Das dritte und das fünfte Merkmal, also die Bedeutung des Kapitalexports und der territorialen Aufteilung der Erde für den russischen Staatskapitalismus, müssen näher erläutert werden.
Abgesehen vom stalinistischen Rußland war Japan das Land auf der Welt mit dem höchsten Zentralisationsgrad des Kapitals. Man hat geschätzt, daß die „Großen Vier“ Zaibatsu (Familien-Monopol-Unternehmen) 60% des investierten Kapitals aller japanischen Aktiengesellschaften kontrollierten; die Mitsui-Gruppe soll allein 25% des gesamten Aktienkapitals kontrolliert haben. 1938 verfügten die sechs größten Zaibatsus über 57% aller bei Banken, Treuhandgesellschaften und Versicherungsgesellschaften deponierten Guthaben (im Vergleich zu 45% im Jahr 1929).
(Das gibt einen Hinweis darauf, warum es theoretisch nicht ausgeschlossen ist, daß sich das gesamte nationale Kapital in der Hand eines Trusts konzentriert; allerdings besteht kein Grund zu der Annahme, daß das praktisch geschehen könnte.)
Doch obwohl die Zentralisation des Kapitals in Japan höher ist als in irgendeinem anderen kapitalistischen Lande, ausgenommen das stalinistische Rußland, bleiben die Produktivkräfte Japans weit hinter denen der westlichen Länder zurück. Diese Verbindung aus hochzentralisiertem Kapital und großer Rückständigkeit des Landes insgesamt erklärt den besonderen Charakter des japanischen Imperialismus. Dieser unterscheidet ihn von anderen Imperialismen, macht ihn aber dem Stalinschen Imperialismus in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Ein Abriß der besonderen Merkmale des japanischen Imperialismus ist deshalb recht nützlich, um einige Aspekte des stalinistischen Imperialismus zu klären.
Die Industrieproduktion Japans stieg in diesem Jahrhundert rapide an. In den Jahren 1913-1928 waren die Zuwachsraten dreimal so hoch wie die Englands in der Zeit zwischen 1860 und 1913; das bedeutete, daß Japan durchschnittlich jedes Jahr 6% mehr als im jeweiligen Vorjahr produzierte. Zwischen 1927 und 1936 stieg die japanische Industrieproduktion um fast 100%. E.B. Schumpeter konnte zu Recht feststellen:
Man kann nicht mehr behaupten, wie ein sorgfältiger und gut informierter Autor das 1930 tat, daß Japan auf Grund mangelnder Öl- und Eisenvorräte, die in Kriegs- und Friedenszeiten unentbehrlich sind, nie eine bedeutende Industrienation werden könnte. Japan ist eine bedeutende Industrienation geworden. Der Aufstieg der Schwerindustrie war das hervorstechendste Merkmal der letzten Jahre. Vor der Depression waren die Textil-, Keramik-, Papier- und Lebensmittel verarbeitenden Industrien vorherrschend. 1935 entfiel dagegen knapp die Hälfte, 1937 55% und 1938 61% des Gesamtwerts der Industrieproduktion auf Metall-, Chemie-, technische und Maschinenbauprodukte. Das hieß, daß Japan seine Schiffe und viele seiner Flugzeuge selbst baute, Autos und Einzelteile dagegen importierte. Für einen großen Teil seines Stahl-, Düngemittel-, Waffen-, Munitions- und Maschinenbedarfs war Japan nicht mehr von der Außenwelt abhängig, wenngleich es nach wie vor einen bedeutenden Teil der für diese Produktion notwendigen Rohstoffe einführen mußte; seit 1937 hat Japan große Anstrengungen unternommen, um die Rohstoffvorkommen des Yen-Blocks und angrenzender Regionen im Pazifik-Gebiet zu entwickeln. [428]
Zwischen 1920 und 1930 stieg die Roheisenproduktion um das Vierfache, die Stahlproduktion um das Achtfache, und die Kilowatt-Kapazität der Elektrizitätswerke erhöhte sich um das 5½fache. Der Hauptzuwachs der Industrieproduktion entfiel auf den Produktionsmittelsektor. Der Wert der Chemie-, Metall- und Maschinenproduktion stieg von 2 Mrd. Yen 1926 auf mehr als 9 Mrd. Yen 1937, d.h. um das 4½fache. Der Produktionsausstoß aller anderen Industrien stieg von rund 5,15 Mrd. Yen auf 7,42 Mrd., nahm also um 44% zu. Im gleichen Zeitraum stiegen die Preise um 40%, so daß man schließen kann, daß sich die Produktion von Produktionsmitteln verdreifachte, während die Produktion von Verbrauchsgütern unverändert blieb.
Während des rapiden industriellen Aufstiegs Japans, der das Ergebnis seiner allgemeinen Rückständigkeit einerseits und seiner hohen Kapitalkonzentration andererseits war, gab es kein „überflüssiges“ Kapital, und die Profitrate blieb hoch. Ein anderer wichtiger Faktor, der diese hohe Profitrate ermöglichte, war das extrem niedrige Lohnniveau.
Die durchschnittlichen Konzerngewinne betrugen 1936/37 zwischen 16 und 20% des eingezahlten Kapitals. Die Dividenden lagen bei durchschnittlich 8-9%. [429]
Angesichts dieser Tatsachen wäre es falsch zu behaupten, der japanische Imperialismus habe nach Möglichkeiten zur Kapitalanlage gesucht aufgrund von Kapital“überfluß“ sowie einer niedrigen Profitrate in Japan selbst. Daß die Profitrate hoch war und Japan nicht an Kapitalüberfluß, sondern an Kapitalmangel litt, ist jedoch nur Ausdruck seiner Rückständigkeit. Das hatte eine sehr interessante dialektische Entwicklung zur Folge: Gerade die Rückständigkeit trieb Japan zum Kapitalexport in größtem Maßstab und zur Eroberung eines riesigen Weltreichs. Mit den Worten Fritz Sternbergs:
England wie Frankreich waren, als sie ihre imperialistischen Empire organisierten, führende Industriestaaten. Für sie spielten ihre Kolonialreiche niemals die Rolle, durch eigene industrielle Entwicklung die Position der Mutterländer zu stärken.Japan war in einer völlig anderen Position. Das Ziel des japanischen Kapitalismus, der sich später entwickelte als der der großen europäischen Industriestaaten, war, ein Entwicklungstempo zu organisieren, das den Abstand zu ihnen verringerte, so daß Japan allmählich mindestens ebenso stark werden sollte wie die älteren kapitalistischen Staaten, sie sogar, wenn möglich, überholen sollte. [430]
Japans gewaltiger Kapitalexport konzentrierte sich vor allem auf die Mandschurei, die bis zum chinesisch-japanischen Krieg Japans einzige bedeutende Kolonie war.
Japanische Investitionen in der Mandschurei [431] |
|||
1932 |
97,2 |
1937 |
348,3 |
---|---|---|---|
1933 |
151,2 |
1938 |
439,5 |
1934 |
271,7 |
1939 |
1,103,7 |
1935 |
378,6 |
1940-43 |
2,340,0 |
1936 |
263,0 |
|
Der Fünf-Jahres-Plan für die Mandschurei (1937-1941) sah zunächst Investitionen im Wert von 2,8 Milliarden Yen und später von 6 Mrd. Yen vor. Infolge der Kapitalknappheit und auf Grund des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften konnte diese Ziffer nicht erreicht werden. Die Investitionen erreichten die Planziele in der festgesetzten Planperiode nur zur Hälfte. Sie bewirkten trotzdem einen sehr hohen Produktionsanstieg, wie die folgende Tabelle zeigt:
Ausstoß einiger Produkte der Mandschurei [432] |
||||
---|---|---|---|---|
Jahr |
Kohle |
Eisenerz |
Roheisen |
Elektrizität |
1932 |
7,1 |
0,7 |
368,2 |
593 |
1936 |
13,6 |
1,3 |
633,4 |
1.351 |
1940 |
21,0 |
– |
1.061,2 |
3.250 |
1944 |
30,0 |
5,3 (1943) |
1.174,9 |
– |
Die 1935 aufgebaute Stahlindustrie produzierte bereits nach wenigen Jahren jährlich mehr als 1 Million Tonnen Stahl. Maschinenfabriken wurden errichtet, die den größten Teil der Maschinenausrüstung der Mandschurischen Industrie herstellten. 1939 baute Japan eine Autoindustrie auf, die mehr als 100.000 Arbeiter beschäftigen sollte. Dazu kam eine große Flugzeugfabrik; der Schiffsbau wurde in Angriff genommen. Zwischen 1932 und 1943 wuchs das Eisenbahnnetz der Mandschurei um fast das Dreifache und übertraf das gesamte Streckennetz Chinas.
Sternberg bemerkte dazu:
In den zehn Jahren von 1931 bis 1941, in denen Japan die Industrialisierung der Mandschurei forderte, hat es dort bei einer Bevölkerung, die etwa 10% der von Britisch-Indien ausmacht, ebensoviel Industrie, wenn nicht mehr, geschaffen, als die Engländer in einem Jahrhundert in Indien ... es ist eben das Charakteristische, daß seine bestimmten historischen Bedingungen den japanischen Kapitalismus veranlaßten, die Industrialisierung in seinem Empire zu forcieren, während andere historische Bedingungen die europäischen Imperialisten veranlaßten, die Industrialisierung in ihren Weltreichen zu stoppen bzw. zu verlangsamen. [433]
Die Industrialisierung der Mandschurei blieb nicht der blinden Aktivität verschiedener japanischer Unternehmen überlassen, sondern wurde planmäßig von gemischten Gesellschaften durchgeführt, an denen die Monopole und der Staat beteiligt waren. Diese Organisationsform erschien als notwendige Voraussetzung für eine rasche Industrialisierung.
Die Privilegien der russischen Bürokratie sind wie die der Bourgeoisie an den unaufhörlichen Fortgang der Akkumulation gebunden. Der russische Staatskapitalismus unterscheidet sich allerdings auf seiner „Tugan-Baranowskischen Entwicklungsstufe“ von den westlichen Kapitalisten darin, daß er keineswegs an Kapital“überfluß“ leidet, d.h. unter jener Einschränkung der Akkumulationsmöglichkeiten, die in privatkapitalistischen Ländern durch die antagonistische Verteilungsweise hervorgerufen wird. Ebensowenig bedrohen Lohnerhöhungen seine Profitrate. In dieser Hinsicht ähnelt der russische Staatskapitalismus eher dem japanischen Imperialismus vor dessen Niederlage im zweiten Weltkrieg als den westlichen imperialistischen Ländern. Da in Rußland nahezu alle Produktionsmittel dem Staat gehören, stellt sich die industrielle Entwicklung der russischen Kolonialgebiete, das heißt der Gebiete der von der russischen Bürokratie unterdrückten Nationen, als direkter Bestandteil der industriellen Entwicklung Rußlands selber dar. Der japanische Staat betrachtete die Mandschurei als „Erweiterung des Mutterlandes“. Das gleiche gilt für den stalinistischen Staat hinsichtlich der Ukraine, des Kaukasus, Bulgariens, Rumäniens usw.; auf Grund seiner ökonomischen Monopolstellung wird Rußland die Entwicklung dieser Gebiete noch wirksamer vorantreiben als der japanische Imperialismus die Entwicklung der Mandschurei. Aus der Sicht des japanischen Imperialismus war die Entwicklung der Mandschurei notwendig, um den Abstand zu den fortgeschrittenen westlichen Mächten zu überbrücken. Aus dem gleichen Grunde wird die stalinistische Bürokratie zu einer imperialistischen Politik getrieben.
Dieselbe relative Rückständigkeit treibt Rußland dazu, in den Ländern der unterdrückten Nationen Industrien aufzubauen und – als Kehrseite der Medaille – Kapital zu rauben, wo immer das möglich ist. Auch der japanische Imperialismus plünderte China im großen Maßstab. Ähnlich auch der deutsche Imperialismus:
In den eroberten Gebieten haben deutsche Unternehmen das Vermögen einheimischer Konzerne nicht mit Hilfe gewöhnlicher Geschäftsmethoden übernommen, sondern gestützt auf das Recht des Eroberers. [434]
Das stalinistische Rußland plünderte die osteuropäischen Länder und die Mandschurei. Das geschah durch die Überführung von Fabriken nach Rußland und – wie unter der imperialistischen Herrschaft Nazi-Deutschlands – durch den Abschluß ruinöser Handelsabkommen mit seinen Vasallen.
Der japanische und deutsche Monopolkapitalismus wie der russische Staatskapitalismus zeichnen sich daher durch ein Merkmal aus, das für die Periode der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals charakteristisch war: die Ununterscheidbarkeit von Handel und Raub. Wenn Alfred Marshall über jene Zeit sagen konnte, daß „Zucker und Silber selten ohne einen Blutfleck nach Europa gelangten“, so klebt an dem heute geplünderten Eigentum noch viel mehr Blut; und nicht Silber und Zucker werden geraubt, sondern Produktionsmittel.
Ein anderer Faktor, der Rußland zur Expansion trieb, ist der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften. In hochentwickelten Ländern stellt der Kapitalexport eine Reaktion auf Lohnsteigerungen dar, die die Profitrate beschneiden. Er wird in Gebiete gelenkt, in denen die Arbeitskraft billig ist und daher mit der gleichen Kapitalmenge eine größere Arbeitsmenge ausgebeutet werden kann. Dasselbe Resultat erzielte Nazi-Deutschland auf andere Art und Weise dadurch, daß es Millionen Arbeiter aus den eroberten Ländern, besonders im Osten, nach Deutschland verschleppte. jedoch gibt es in Europa keine billigere Arbeitskraft als die des russischen Arbeiters, besonders des Sklavenarbeiters; daher kann die russische Annexion neuer Gebiete nicht vom Bedürfnis nach billigeren Arbeitskräften diktiert sein, sehr wohl aber vom Bedürfnis nach zusätzlichen Arbeitskräften. Obwohl die Pro-Kopf-Kapitalausstattung in Rußland sehr niedrig ist, leidet Rußland noch immer unter Arbeitskräftemangel. Das läßt sich durch den auf Grund des Kapitalmangels verschwenderischen Gebrauch der Arbeitskraft erklären; Kapitalmangel und Arbeitskräftemangel gehen daher Hand in Hand, sie sind auch der Grund für die Sklavenarbeit und die niedrige Produktivität in der Landwirtschaft. Jeder Faktor, der die Arbeitsproduktivität behindert – einschließlich der Bürokratie – steigert die Verschwendung von Arbeitskraft. So hält es die Regierung trotz der riesenhaften Bevölkerung Rußlands für nötig, durch Sondermaßnahmen wie das Abtreibungsverbot, Sonderabgaben für Junggesellen und Prämien für kinderreiche Familien das Bevölkerungswachstum zu fördern. Dadurch kommt ein Teufelskreis in Gang: der Kapitalmangel führt zur Verschwendung von Arbeitskraft, was umgekehrt wieder die Akkumulation von Kapital in ausreichenden Mengen erschwert usw. Die Einbeziehung der 100-Millionen-Bevölkerung der osteuropäischen Länder stellt deshalb ein wichtiges Motiv für die Expansion des russischen Imperialismus dar und das Gegenstück zum Kapitalexport hochentwickelter kapitalistischer Länder. Strategische Überlegungen bilden ein weiteres Motiv für die Expansion des stalinistischen Rußland.
Die traditionellen imperialistischen Länder beuteten ihre Kolonien auf drei verschiedene Arten aus: sie kauften die Produkte der Kolonien zu niedrigen Preisen; sie verkauften die Produkte der „Mutterländer“ an die Kolonien zu hohen Preisen, und sie bauten Unternehmen auf, die den Kapitalisten der „Mutterländer“ gehörten und die „Eingeborene“ beschäftigten. Der russische Staatskapitalismus bedient sich derselben drei Methoden zur Ausbeutung seiner Kolonien. Wie sah das unter Stalin aus?
Aus zahlreichen Statistiken geht hervor, daß Rußland für die Güter, die es von seinen Satelliten kauft, sehr niedrige Preise bezahlt. Einige Beispiele können das verdeutlichen: Das russisch-polnische Abkommen vom 16. August 1945 legte fest, daß Polen von 1946 an folgende Kohlemengen zu einem Sonderpreis (angeblich 2 Dollar pro Tonne) an Rußland liefern mußte: 1946: 8 Millionen t; von 1947-1950 Jährlich 13 Millionen t und danach bis zum Ende der Besetzung Deutschlands jährlich 12 Millionen t. Die Kohle wird mit russischen Produkten bezahlt, aber in Form von Reparationen, die Rußland aus Deutschland herauszieht. Soweit bekannt ist, bekam Polen überhaupt nichts. Aber wie dem auch sei: auch bei 12-13 Millionen t Kohle zum Preis von 2 Dollar pro t streicht Rußland bei einem Weltmarktpreis von 12-15 Dollar pro t Kohle einen Nettoprofit von 10-14 Dollar pro t oder insgesamt 120-180 Millionen Dollar pro Jahr ein (eine Summe, vergleichbar mit den höchsten jährlichen Profiten, die die englischen Kapitalisten aus ihren indischen Investitionen zogen).
Am 31. März 1949 schrieb die jugoslawische Tageszeitung Borba, daß während der „Flitterwochen“ zwischen Stalin und Tito eine Tonne Molybdän, deren Herstellung Jugoslawien 500.000 Dinar kostete, für 45.000 Dinar an Rußland verkauft wurde (Molybdän wird zur Stahlerzeugung gebraucht).
Die früheren Bata-Unternehmen in der Tschechoslowakei mußten an Rußland Schuhe (deren Leder aus Rußland stammte) zum Preis von 170 tschechischen Kronen liefern, obwohl der tatsächliche Kostenpreis pro Paar bei 300 Kronen lag. Der bulgarische Tabak stellt einen besonders empörenden Fall imperialistischer Ausbeutung dar: Rußland kaufte ihn für einen halben Dollar und verkaufte ihn für 1½-2 Dollar in Westeuropa [436]. Was für Rußlands Handelsbeziehungen mit seinen europäischen Satelliten kennzeichnend ist, gilt auch für seine Handelsbeziehungen mit China. Chinesische Schweineborsten und chinesisches Tungöl, die einen beträchtlichen Teil der chinesischen Exporte ausmachen, werden gegenwärtig [1955 – d. Hg.] auf westeuropäischen Märkten zu Preisen gehandelt, die unter denen in Schanghai und Tientsin, den Hauptexporthäfen für diese Produkte, liegen. Rußland ist der exklusive Verkaufsagent für chinesische Produkte auf westlichen Märkten. Wenn Rußland es sich leisten kann, die Produkte zu Preisen zu verkaufen, die unter denen in China selbst liegen – und es steht außer Frage, daß Rußland bei dieser Transaktion Profit macht –, dann muß es extrem niedrige Einkaufswerte zahlen. Das erklärt jedenfalls teilweise, warum China solche Anstrengungen unternimmt, direkte Handelsbeziehungen zum Westen zu schaffen und so den russischen Zwischenhandel auszuschalten.
Soweit nur, was die Unterbezahlung betrifft. Was die überhöhten Preise angeht, die die Satelliten für russische Produkte zahlen müssen, sprechen folgende Beispiele eine deutliche Sprache. Rußland fordert von China für seine Waren viel höhere Preise, als sie z.B. von Händlern aus dem kapitalistischen Westen im nahegelegenen Hongkong verlangt werden. So wurde zum Beispiel ein russischer Vier-Tonnen-Lastwagen des Typs Zis für umgerechnet 50.000 Hongkong-Dollar verkauft, wohingegen ein vergleichbarer Sechstonner westlicher Herkunft in Hongkong für 15.000 Hongkong Dollar zu haben ist. Über Rußland importiertes tschechoslowakisches Sacharin wird in Tientsin für umgerechnet 106,40 Hongkong Dollar pro Pfund verkauft, während deutsches Sacharin der gleichen Qualität in Hongkong für 6½ Hongkong Dollar angeboten wird. [437]
Die Errichtung von in russischem Besitz befindlichen Unternehmen in Osteuropa enthüllt die dritte Methode kapitalistischer Ausbeutung, die Rußland anwendet: nämlich die Ausbeutung „Eingeborener“, die in Unternehmen beschäftigt sind, die ausländischem Kapital gehören.
In der russischen Besatzungszone Deutschlands überführte der russische Staat sofort ungefähr ein Drittel der Industrie in sein Eigentum. Besitzer sind die sogenannten Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG). Ihre Bedeutung ist sehr groß. Fast alle großen Unternehmen sind in ihrer Hand. Jede SAG beschäftigte 1950 durchschnittlich 2.400 Arbeiter; vergleichsweise arbeiteten in den VEB (den sogenannten „volkseigenen Betrieben“ der DDR) durchschnittlich 139-146 und in der Privatindustrie ungefähr 10 Beschäftigte.
Die Bedeutung der SAGen tritt noch stärker hervor, wenn man berücksichtigt, daß sie die gesamte Schwerindustrie kontrollierten. In den SAGen produzierten die deutschen Arbeiter Mehrwert, der von der russischen Bürokratie angeeignet wurde.
In Rumänien, Ungarn und Bulgarien bestehen gemischte Gesellschaften, an denen Rußland zu 50% beteiligt ist, die aber in Wirklichkeit voll unter russischer Kontrolle stehen. Eine solche Gesellschaft kontrolliert zum Beispiel in Rumänien die reichsten Ölfelder; andere kontrollieren die Stahl- und Maschinenbauindustrie, den Bergbau, die Werft-, Luftfahrt- und Baustoffindustrie, die Holz-, Chemie- und Traktorenproduktion, die Ausbeutung natürlicher Gasvorkommen, Banken, Versicherungsgesellschaften usw. – alles in allem mehr als die Hälfte der rumänischen Industrie und des rumänischen Transport-, Banken- und Versicherungswesens. Auch in Ungarn und Bulgarien bestehen gemischte Gesellschaften, allerdings ist ihre Bedeutung weit geringer.
Ist das nicht ein klarer Fall kolonialer Ausbeutung, wenn die Hälfte der Profite der gemischten Gesellschaften nach Rußland fließt, wo doch alle dort beschäftigten Arbeiter „Eingeborene“ sind?
Nur rund die Hälfte der Bevölkerung der UdSSR besteht aus Russen. Auf dem Papier sind die verschiedenen Sowjetrepubliken souverän. Der sowjetische Staatsapparat ist zwar nach föderativen Prinzipien organisiert, doch die kommunistische Partei der Sowjetunion, „der führende Kern aller öffentlichen und staatlichen Organisationen der Werktätigen“ (Art. 126 der Sowjetverfassung) ist keine Föderation selbständiger Parteien, sondern eine vereinte zentralisierte Partei mit einem einzigen Zentralkomitee, das für die gesamte Parteiarbeit im Territorium der UdSSR zuständig ist. [438]
Die kommunistischen Parteien der Republiken sind ihrerseits nichts anderes als regionale Organisationen der KPdSU. Sie führen alle Direktiven der höheren Parteiorgane nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ durch, das für Partei- wie für Regierungsorganisationen gilt.
Schon 1923 erklärte der georgische Delegierte Makharadze in einer Rede auf dem 12. Kongreß der russischen kommunistischen Partei zur Lage der nicht-russischen Sowjetrepubliken mit aller Deutlichkeit:
Es ist hier von unabhängigen und souveränen Republiken die Rede gewesen. In bezug auf diesen Punkt ist größte Vorsicht geboten, um Übertreibungen jeder Art zu vermeiden. Genossen, uns allen ist klar, was für eine Art Souveränität, was für eine Art Unabhängigkeit gemeint ist. Schließlich haben wir eine einzige Partei, ein einziges Zentralorgan, das letztendlich für alle Republiken, sogar für all die winzigen Republiken, absolut alles entscheidet, von allgemeinen Direktiven bis hin zum Recht, die verantwortlichen Führer in dieser oder jener Republik zu ernennen – all das wird von diesem einen Organ abgeleitet; unter diesen Bedingungen von Souveränität und Unabhängigkeit zu reden, ist eine wirklich außerordentlich unverständliche Behauptung. [439]
Die mächtigsten Personen der nationalen Republiken werden von Moskau durch die „Abteilung Parteiorgane für die Republiken der Union“ des Zentralkomitees ernannt. In allen fünf zentralasiatischen Republiken ist der Polizeichef (Vorsitzender des Komitees für Staatssicherheit) ein Russe oder Ukrainer. Das gleiche trifft für den Obersten Staatsanwalt zu, den dem Gesetz nach höchsten Beamten, der laut Verfassung nur Moskau verantwortlich ist und keiner Kontrolle irgendeines Republikorgans untersteht.
Dasselbe gilt auch für die Militärkommandanten der bedeutendsten Hauptstädte. Darüber hinaus wird gewöhnlich jedem asiatischen Beamten ein europäischer Stellvertreter zugeordnet. Unter Stalin waren dementsprechend die zweiten Sekretäre aller Parteizentralkomitees und viele stellvertretende Ministerpräsidenten und stellvertretende Minister der zentralasiatischen Republiken Europäer.
Abgesehen von der rein formalen Natur ihrer „Souveränität“ wird die Unabhängigkeit der nicht-russischen Republiken weitgehend durch die zentralisierte Wirtschaftsplanung eingeengt, über die der Kreml finanzielle Regelungen, Wirtschaftspläne usw. für die gesamte UdSSR vorschreibt.
Durch einen Erlaß vom 13. März 1938 wurde Russisch-Unterricht für alle Schulen nationaler Minderheiten obligatorisch. Eine Folge des Erlasses war die Revision der bis dahin anerkannten Lateinisierungspolitik. In den zwanziger Jahren wurden das arabische und das mongolische Alphabet wie andere Alphabete der nicht-russischen Völker der UdSSR durch das lateinische Alphabet ersetzt. In den Jahren 1938-1940 mußten alle Nationalitäten, die vorher das lateinische Alphabet benutzt hatten, das russische (kyrillische) Alphabet übernehmen. (Für Armenier, Georgier und Juden sowie für Volksstämme, die das lateinische Alphabet bereits vor der Lateinisierungswelle benutzt hatten, wie die Letten, Litauer, Esten und Finnen, wurden allerdings einige Ausnahmen gemacht.)
Die stalinistische Sprachwissenschaft russifizierte die Sprachen der Sowjetunion. Durch die weitgehende Einführung russischer Wörter und die Säuberung dieser Sprachen von Elementen, die sie mit Sprachen außerhalb der UdSSR gemeinsam hatten, wurde ihr Satzbau und ihre Rechtschreibung verändert. Arabische, türkische und persische Wörter wurden durch russische ersetzt. Selbst dort, wo das eingeführte russische Wort ursprünglich westeuropäischen Sprachen entlehnt war, mußten die zentralasiatischen Völker diese Wörter in der russischen Umformung, der russischen Schreibweise und Aussprache, akzeptieren. So konnte anhand einer Auswahl usbekischer Zeitungen festgestellt werden, daß der Prozentsatz arabischer und persischer Wörter von 37,4% 1923 auf 25% 1940 zurückgegangen war, während der Prozentsatz russischer Wörter von 2 auf 15% gestiegen war. [440]
Der nicht-russischen Bevölkerung wird recht unverblümt klargemacht, daß die gute Kenntnis der russischen Sprache ein unabdingbarer Passierschein für höhere Posten ist:
Wer die Sprache des großrussischen Volkes nicht einwandfrei beherrscht, kann eine höhere Ausbildungsstätte nicht erfolgreich durchlaufen und kein vollwertiger Sowjet-Spezialist werden. [441]
Tatsächlich deckt sich die Spaltung zwischen den Kindern, die die russische Schule besuchen, und den Kindern, die die nationalen Schulen besuchen, weitgehend mit der Klassenspaltung in den nationalen Republiken zwischen der Bürokratie auf der einen und den Arbeitern und Bauern auf der anderen Seite. So heißt es zum Beispiel:
In der russischen 10-Jahres-Schule in Alma Ata waren alle befragten kasachischen Kinder (etwa 25) Kinder von Akademikern, die zu Hause russisch sprachen, wenngleich sie in der Schule als zweite Sprache Kasachisch lernen. Im Gegensatz dazu schien die Mehrzahl der Kinder auf der Kasachen-Schule in Alma Ata und der Tartarenschule in Kazan aus Arbeiter- und Bauernfamilien zu stammen. Die Nationalitätenpolitik hat so unbeabsichtigterweise zur Russifizierung der gesellschaftlich Mobilen geführt, wohingegen die Pflege und Kultivierung ethnisch-nationaler Eigenheiten zum Hemmschuh für soziale Chancen zu werden droht. [442]
Die Auflösung einer Reihe nationaler Republiken der UdSSR und die Verschleppung ihrer gesamten Bevölkerung stellten die schlimmsten Exzesse nationaler Unterdrückung dar. Ein Jahr vor dem Krieg, als es Spannungen zwischen Rußland und Japan an der mandschurischen Grenze gab, wurde die gesamte koreanische Bevölkerung, die auf der russischen Seite der Grenze lebte, nach Kasachstan und Usbekistan umgesiedelt. Am 28. August 1941 wurde die gesamte Bevölkerung der Wolga-Deutschen Republik östlich des Urals angesiedelt. Diese deutsche Republik war eine der ältesten nationalen Republiken Rußlands. Bereits am 19. Oktober 1918 wurde die Arbeiterkommune der Wolga gegründet, die sich am 19. Dezember 1923 zur autonomen Sozialistischen Sowjet-Republik umbildete. Sie war eine der ersten Republiken mit fast vollständiger Kollektivierung. In einem Kominternbericht heißt es:
Die deutsche Sowjetrepublik an der Wolga ist ein lebendiger Beweis für den kulturellen und nationalen Fortschritt, den der Sieg des Sozialismus mit sich bringt, und eine lebendige Widerlegung der Lügen und Verleumdungen, die die faschistischen Feinde des Proletariats verbreiten. [443]
Genau zwei Jahre vor ihrer Vertreibung erschien in den Moskauer Nachrichten ein Artikel mit der Überschrift:
Die Wolga-Deutschen-Republik – eine lebendige Illustration sowjetischer Nationalitätenpolitik, wie sie in der Praxis aussieht.
Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet 1938 stimmten 99,7% (!) der Wolga-Deutschen für das Regime. Dann, nachdem die Wolga-Deutschen jahrelang für ihre einmütige Unterstützung des Regimes gelobt worden waren, erschien das Dekret zur Auflösung ihrer Republik mit folgender Begründung:
Nach zuverlässigen Informationen höchster militärischer Stellen befinden sich unter der deutschen Bevölkerung der Wolga Tausende und Zehntausende von Abweichlern und Spionen, die bereit sind, auf ein Zeichen Deutschlands hin in diesen Gebieten Explosionen auszulösen. Kein Deutscher, der im Wolga-Distrikt lebt, berichtete jemals den sowjetischen Behörden von der Existenz einer derart großen Zahl von Abweichlern und Spionen. Daher deckt die deutsche Bevölkerung der Wolga-Region die Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht. [444]
Zusammen mit Millionen von Deutschen, die anderswo in der UdSSR lebten und nicht vom Vormarsch der Nazis überrannt worden waren, wurden die 400.000 Wolga-Deutschen 1941 ordnungsgemäß verbannt.
In Gebieten der UdSSR, die vormals von deutschen Truppen besetzt waren, wurden noch eine Reihe weiterer Republiken aufgelöst. Ein Erlaß des Obersten Sowjets vom 27. Dezember 1943 liquidierte die autonome sozialistische Sowjetrepublik der Kalmücken; die gesamte Bevölkerung (250.000) verfrachtete man nach Sibirien.
Im Juni 1946 wurde ein Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR veröffentlicht, der die „Aufhebung der autonomen sozialistischen Sowjetrepublik Tschetscheno-Ingusch und die Reorganisation der autonomen sowjetisch-sozialistischen Krimrepublik in eine Krimprovinz“ verkündete. In dem Erlaß hieß es:
Während des Großen Vaterländischen Krieges, als die Völker der UdSSR in heroischem Kampf die Ehre und Unabhängigkeit ihres Heimatlandes gegen die deutschen faschistischen Invasoren verteidigten, führten viele Tschetschenen und Krimtartaren auf Anstiftung deutscher Agenten hin einen bewaffneten Kampf gegen Einheiten der Roten Armee ... in Verbindung damit wurden die Tschetschenen und Krimtartaren in andere Gebiete der UdSSR umgesiedelt. [445]
Es gab 700.000 Menschen in der ASSR Tschetscheno-Ingusch. Vergleichen wir das Zitat oben mit dem, was die Iswestija sieben Jahre vorher schrieb: „Unter der Sonne der Stalinverfassung blühte die Kultur der Bevölkerung Tschetscheno-Inguschs, der Form nach national, dem Inhalt nach sozialistisch, üppig auf.“ [446]
Drei andere Völker erlitten ein ähnliches Schicksal. Die 250.000 Krimtartaren, die 190.000 Karatschi und die Baikars – drei kleine mohammedanische Nationen. Das Verschwinden der beiden letztgenannten Nationalitäten war von einem großen Geheimnis umgeben und nicht einmal Gegenstand eines Regierungserlasses. Ihr Schicksal wurde offenbar, als die autonomen Republiken und Regionen nicht mehr auf den Sowjet-Landkarten verzeichnet waren und sie auf der Abgeordnetenliste zum Nationalitätenrat nicht mehr auftauchten. Während im Nationalitätenrat von 1940 noch 10 Abgeordnete der Wolga-Deutschen-Republik, 4 Tschetschen und 1 Ingusch aus der Tschetschen-Ingusch-Republik sowie 4 Baikars und 3 Karatscha saßen, war nach den Wahlen von 1950 keiner von ihnen mehr im Nationalitätenrat vertreten. [447]
In der Ukraine gab das damalige Oberhaupt der ukrainischen Regierung, Chruscht­schow, im August 1946 bekannt, daß während der vergangenen 18 Monate die Hälfte der führenden Persönlichkeiten der ukrainischen Partei ausgeschlossen worden seien. Selbst für die großrussische Bürokratie wäre es ein bißchen zu viel, 30 Millionen Ukrainer auszuschließen und ihre „Republik“ aufzulösen.
Die stalinistische Bürokratie kann ihrem Vorgänger bei der Errichtung eines Weltreiches, dem zaristischen Imperialismus, nur Anerkennung zollen. Generationen lang hielten russische Sozialisten und Demokraten Rußland für ein „Gefängnis des Volkes“ und die zaristisch-imperialistische Unterdrückung der Polen, Finnen, Litauer, Esten, Ukrainer, Georgier, Armenier, Uzbeken, Kasachen usw. für eine höchst reaktionäre Sache. Das stalinistische Rußland lehrt dagegen etwas anderes. So schrieb eine russische Zeitschrift:
Für die kaukasischen und transkaukasischen Völker war die russische Annexion der einzige Weg zu ihrer sozio-ökonomischen und kulturellen Entwicklung wie für die Bewahrung ihrer nationalen Existenz ... die Annexion durch Rußland war für sie das einzige Mittel, als Nationalität zu überleben, ihre alte Kultur zu bewahren und sich wirtschaftlich und kulturell zu entwickeln. [448]
Eine andere Zeitschrift schrieb, die feudalen Monarchien Persiens und der Türkei hätten einen langen und hartnäckigen Kampf geführt, um verschiedene Gebiete des Kaukasus unter ihre Herrschaft zu bringen. Viele kaukasische Volksstämme, die auf Grund ihrer Zersplitterung der ausländischen Aggression nicht standhalten konnten, „suchten Rettung und Fürsprache beim russischen Staat, an den sie sich um Hilfe und Schutz wandten“. [449]
Mitte des 16. Jahrhunderts ersuchten die circasianischen (karbadianischen) Prinzen lwan den Vierten dringend darum, ihnen die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen und sie vor den Überfällen und Plünderungen der Türkei und des türkischen Vasallen, des Krim-Khan, zu beschützen. Die Transkaukasier gingen Ende des 15. Jahrhunderts Verbindungen mit Rußland ein, die sich mit der wachsenden militärischen Bedrohung durch die Türkei und den Iran weiter festigten. Bei ihrem Vorgehen gegen die Türkei und den Iran „retteten die russischen Truppen die Kaukasier oft vor militärischer Bedrohung“. Wie schön: Die zaristischen Truppen, die den Kaukasus besetzten, retteten die Kaukasier vor militärischer Bedrohung!
Eine russische Literaturzeitschrift schrieb:
Die Annexion Kasachstans durch Rußland, die im 18. Jahrhundert erfolgte, war von durch und durch fortschrittlicher Bedeutung. Diese historische Tat war durch wirtschaftliche und politische Umstände bedingt, ja durch den gesamten Verlauf der historischen Entwicklung des kasachischen Volkes, das von unaufhörlichen Überfällen der Feudalstaaten des islamischen Ostens gepeinigt wurde. So wurden die Bedingungen für den mächtigen Einfluß der russischen Wirtschaft und Kultur in Kasachstan geschaffen. Das Volk von Kasachstan traf eine weise und richtige Wahl. Damals hätten die Kasachstaner neben Rußland unter die Knechtschaft der zentralasiatischen Khanaten fallen können, die von England unterstützt wurden. Vor keinem Mittel zurückscheuend, hatte es das englische Kapital auf das Land und die Reichtümer Kasachstans abgesehen und spekulierte auf hohen Gewinn. [450]
... die Werktätigen von Kasachstan wußten auf Grund ihrer täglichen Erfahrung die Vorteile zu schätzen, die das Leben in einem mächtigen russischen Staat mit sich brachte. [451]
Auch die Prawda betonte:
Die Werktätigen von Kasachstan hatten am Anschluß Kasachstans an Rußland ein vitales Interesse. [452]
Die Nationen, die vom großrussischen Imperialismus unterdrückt oder unmittelbar bedroht werden, antworten darauf mit einem nationalen Unabhängigkeitskampf von immer größerer Heftigkeit.
Der zahlenmäßig stärkste nicht-russische Bevölkerungsteil der UdSSR sind die Ukrainer. Ihre nationalen Bestrebungen sind durch eine Kette von Säuberungen ständig unterdrückt worden. 1930 wurde die ukrainische Akademie der Wissenschaften aufgelöst und ihre Mitglieder wegen „nationaler Abweichungen. verhaftet. 1933 beging Skrypnik, der bekannteste Führer der ukrainischen kommunistischen Partei, ein Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros, Selbstmord, um seiner Verhaftung zu entgehen. Im selben Jahr wurden Kostubinski, Vizepräsident des Rats der Volkskommissare für die Ukraine (die ukrainische Regierung), der Kommissar für die Landwirtschaft, Kownar und etliche hohe Beamte als Nationalisten erschossen. Um weitere Abweichungen zu verhindern, schickte Moskau 1933 Postyschew in die Ukraine, um die Partei und die staatliche Verwaltung zu reorganisieren. Auf dem 12. Kongreß der ukrainischen kommunistischen Partei 1933 berichtete er:
In der Ukraine sind unsere führenden Parteimitglieder und der Genosse Stalin selber besonders verhaßt. Der Klassenfeind hat in diesem Land eine gute Schule durchgemacht und gelernt, wie man gegen die Sowjetmacht kämpft. In der Ukraine haben sich die Überreste vieler konterrevolutionärer Organisationen und Parteien niedergelassen. Charkow ist allmählich zum Anziehungspunkt für alle Arten von Nationalisten und andere konterrevolutionäre Organisationen geworden. Sie alle werden von diesem Zentrum angezogen und haben ihr Netz über die ganze Ukraine ausgedehnt, indem sie unser Parteisystem für ihre Zwecke einspannen. Sie erinnern sich daran, Genossen, wie 20 Sekretäre des regionalen Parteikomitees zu erklären wagten, es sei unmöglich, den Ernteplan zu erfüllen. [453]
Postyschew schloß über ein Viertel der Mitglieder der ukrainischen kommunistischen Partei aus. Drei Jahre später ereilte ihn ein ähnliches Schicksal. Er wurde ausgeschlossen und verhaftet. Kosior aus Moskau übernahm seine Stelle. Auch er wurde im weiteren Verlauf der Ereignisse verhaftet. 1937 beging der Vorsitzende des ukrainischen Rats der Volkskommissare, Ljubschenko, Selbstmord, um seiner Verhaftung zu entgehen. Die Kommissare Petrowski und Eiche wurden liquidiert. Ljubschenkos Nachfolger wurde zwei Monate nach seiner Ernennung wegen nationalistischer Tendenzen verhaftet; sein Nachfolger wiederum wenige Monate später liquidiert. Im April 1937 bestand das ukrainische Politbüro aus 13 Mitgliedern; im Juni 1938 war keines dieser Mitglieder mehr übriggeblieben.
Andere Republiken haben eine ähnliche Geschichte. Golodjed, 10 Jahre lang Vorsitzender des Rats der Volkskommissare in der weißrussischen Republik, wurde 1937 als Trotzkist verhaftet. Wenige Monate später beging sein Nachfolger Tscherwiakow Selbstmord, um seiner Verhaftung zu entgehen. Er war 17 Jahre lang Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees für Weißrußland, das heißt Präsident der Republik gewesen.
In Tadschikistan fiel der Vorsitzende des Exekutivkomitees einer Säuberung als Nationalist zum Opfer. Sein Nachfolger konnte sich drei Jahre auf seinem Posten halten und erlitt dann ein ähnliches Schicksal.
Die folgende kurze Liste enthält die Namen einiger der höchsten Persönlichkeiten der nationalen Republiken, die in den Säuberungen der 30er Jahre als „Nationalisten“ liquidiert wurden:
Präsidenten |
|
Republik |
---|---|---|
Petrowski |
ukrainisch |
|
Tscherwjakow |
weißrussisch |
|
Kung |
wolgadeutsch |
|
Luft |
wolgadeutsch |
|
Gyllig |
karelisch |
|
Arkupow |
karelisch |
|
Chodschibajew |
tadschikisch |
|
Schotemur |
tadschikisch |
|
Maksum |
tadschikisch |
|
Dolgat |
daghestisch |
|
Samurski |
daghestisch |
|
Lordkipanidse |
adjarisch |
|
|
||
Ministerpräsidenten |
Republik |
|
Ljubschenko |
ukrainisch |
|
Bondarenko |
ukrainisch |
|
Tschubar |
ukrainisch |
|
Golodjed |
weißrussisch |
|
Welsch |
wolgadeutsch |
|
Rachimbajew |
tadschikisch |
|
Rachinow |
tadschikisch |
|
Mgalobischwili |
georgisch |
|
Chodjajew |
usbekisch |
|
Abdurachmanow |
kirgisisch |
|
Owakabelaschwili |
transkaukasisch |
Das sind nur einige der Opfer. Insgesamt wurden in der großen Säuberung 1937/38 30 nationale Regierungen vollständig oder mehrheitlich liquidiert. Hauptanklagepunkt gegen sie war ihr Wunsch nach Abtrennung von der UdSSR. Den klarsten Beweis dafür, daß Rußlands Nationalitätenpolitik keine harmonischen und brüderlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern hervorbringt, bietet die Auflösung einer Anzahl nationaler Republiken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sich der nationale Unabhängigkeitskampf gegen den russischen Imperialismus auf die neugebildeten Kolonien Osteuropas aus. Das bekannteste Beispiel war die erfolgreiche Revolte Jugoslawiens gegen den Kreml. Auch in den anderen Volksdemokratien Europas entstanden „titoistische“, d.h. nationale Widerstandsbewegungen gegen die russische Herrschaft, die aber hauptsächlich wegen des Drucks der russischen Truppen erfolglos blieben.
Die meisten Führer der kommunistischen Parteien der Volksdemokratien wurden vom Kreml als „Titoisten“ angeklagt; das ist ein Beweis für die Breite dieser nationalen Widerstandsbewegungen. Von den sechs Personen, die unmittelbar nach der Bildung der „Volksdemokratien“ den Posten des Generalsekretärs der Partei innehatten, wurden die folgenden vier des Titoismus beschuldigt: Tito, Generalsekretär der jugoslawischen Partei; Kostov, Generalsekretär der bulgarischen Partei (hingerichtet); Gomulka, Generalsekretär der polnischen Partei (verhaftet), und Slansky, Generalsekretär der tschechoslowakischen Partei (hingerichtet).
Die folgenden vier von sechs Außenministern wurden des gleichen Verbrechens beschuldigt: Kardelj/Jugoslawien; Anna Pauker/Rumänien (verhaftet); Clementis/Tschechoslowakei (hingerichtet); Rajk/Ungarn (hingerichtet). Die Liste könnte noch beträchtlich verlängert werden. [454] Der nationale Unabhängigkeitskampf gegen den russischen Imperialismus wird solange weitergehen, wie der russische Imperialismus besteht. Dieser Kampf ist einer der bedeutsamsten Faktoren, die das Schicksal des stalinistischen Regimes besiegeln könnten.
Anhang
Chris Harman: Der staatskapitalistische Block
Seine Geschichte und seine Bedeutung
Verzeichnis Kapitel 4
426. New International (Marxistische Monatshefte, New York), Februar 1942.
427. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Werke, Bd.22, S.270-271.
428. G.C. Allen, M.S. Gordon, E.F. Penrose, E.B. Schumpeter: The Industrialization of Japan and Manchukuo, 1930-1940, New York 1940, S.10-11.
429. Ebda., S.26-27.
430. F. Sternberg: The Coming Crisis, London 1947, S.73.
431. Schumpeter, a.a.O., S.399; A.J. Grajdanzev: Manchuria, An Industrial Survey, Pacific Affairs, Dezember 1945.
432. K.L. Mitchell: Industrialization of the Western Pacific, New York 1942, S.75-78; Allan Rodgers: The Manchurian Iron and Steel Industry and its Resource Base, Geographical Review (New York), Januar1948; A.J. Grajdanzev, a.a.O.
433. Sternberg, a.a.O., S.73, 74.
434. R.A. Brady: Business as a System of Power, New York 1943, S.3.
435. Anmerkung der Herausgeber: Die hier angeführten Fakten beziehen sich alle auf den Zeitraum bis 1955, dem Erscheinungsjahr der 1. Ausgabe dieses Buches. Spätere Entwicklungen sind hier nicht berücksichtigt.
436. Gluckstein, a.a.O., S.66-67.
437. Far Eastern Economic Review, 27. November 1952.
438. Fragen der Organisationsstruktur der Bolschewistischen Partei, Moskau 1945, Russisch, S.30.
439. 12. Parteitag der KPR (Bolschewiki), Stenografischer Bericht, Russisch, Moskau 1955, S.264.
440. T.N. Kary-Niiazov: Ein Abriß der Kulturgeschichte von Sowjet-Usbekistan, Russisch, Moskau 1955, S.264.
441. Kommunist Tadjikistana, 8. Oktober 1954.
442. G.Z.F. Bereday: Class Tensions in Soviet Education, in The Politics of Soviet Education, hrsg. von Z.F. Bereday und J. Pennar, London 1960, S.77.
443. International Press Correspondence, 18. April 1936.
444. Vedomosti Verkhovnogo Soveta SSSR, No.38, 2.9.1941.
445. Iswestija, 26. Juni 1946.
446. Iswestija, 15. Januar1950.
447. Iswestija, 15. Juni 1950.
448. Prenodavaniye istorii v Shkolye, 1950, No.6.
449. Voprosy Istorii, 1950, No.10.
450. Literaturnaja Gazeta (Wochenzeitung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes), Moskau, 10. Juli 1952.
451. Ebda.
452. Prawda, 26. Dezember 1950.
453. Proletarian (Charkow 1934), No.15-21. Zit. nach W.E.D. Allen: The Ukraine, Cambridge 1940, S.326.
454. Weitere Angaben bei Gluckstein, a.a.O., S.281-310.
Zuletzt aktualisiert am 17.9.2002