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Kein marxistischer Theoretiker hat jemals daran gezweifelt, daß ein Wirtschaftssystem selbst dann noch ein kapitalistisches bliebe, wenn die Konzentration des Kapitals einen so hohen Grad erreichte, daß ein Kapitalist oder ein Kollektiv von Kapitalisten oder der Staat selbst das gesamte nationale Kapital in seinen Händen vereinigen würde. Dieses unter der Voraussetzung andauernder Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig betonten alle marxistischen Theoretiker die politische Unwahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung. Lange bevor die Konzentration des Kapitals eine so hohe Stufe erreichen könnte, würde dieser Prozeß auf die eine oder andere Weise unterbrochen werden. Sei es, daß der Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie eine siegreiche proletarische Revolution hervorbrächte, sei es, daß die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Staaten in einen so verheerenden imperialistischen Krieg hineinführten, daß ein allgemeiner Verfall menschlicher Gesellschaft die Folge wäre. Während der Staatskapitalismus so als theoretische Möglichkeit erscheint, bleibt doch unbezweifelbar, daß der Privatkapitalismus sich in Wirklichkeit niemals auf evolutionärem Weg soweit konzentrieren kann, daß alles gesellschaftliches Kapital in einer Hand zusammenfällt. Trotzki hat klar ausgesprochen, warum eine solche Entwicklung nicht eintreten würde:
Theoretisch kann man sich zwar eine Lage vorstellen, wo die Bourgeoisie als Ganzes sich als Aktiengesellschaft etabliert, die vermittels ihres Staates die ganze Volkswirtschaft verwaltet. Die ökonomische Ordnung eines solchen Regimes birgt kein Geheimnis. Der einzelne Kapitalist erhält bekanntlich als Profit nicht den unmittelbar von den Arbeitern seines Betriebes erzeugten Teil des Mehrwerts, sondern nur eine seinem Kapital entsprechende Rate des im ganzen Lande erzeugten Gesamtmehrwerts. Bei integralem Staatskapitalismus, käme das Gesetz der gleichmäßigen Profitrate nicht auf Umwegen, d.h. durch Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, zur Anwendung, sondern direkt und unmittelbar durch die Staatsbuchhaltung. Ein solches Regime hat jedoch nie existiert und wird infolge der schweren Gegensätze unter den Besitzenden auch nie existieren – um so weniger, als der Staat als Universalvertreter des kapitalistischen Eigentums für die soziale Revolution ein allzu verlockendes Objekt wäre. [333]
Die „Gegensätze unter den Besitzenden“, und der Tatbestand, daß „der Staat als Universalvertreter des kapitalistischen Eigentums ein allzu verlockendes Objekt für die soziale Revolution wäre“, erklären, warum es unwahrscheinlich ist, daß der traditionelle Privatkapitalismus sich allmählich zu einem 100prozentigen Staatskapitalismus entwickeln wird. Aber kann man eine solche Entwicklung auch für den Fall ausschließen, daß eine bereits herrschende Arbeiterklasse wieder entmachtet und niedergeworfen wird? Das revolutionäre Proletariat hat in diesem Fall bereits die Produktionsmittel in die Hände einer Körperschaft zusammengezogen und so die „Gegensätze unter den Besitzenden“ als ein Hindernis für eine staatskapitalistische Entwicklung beseitigt. Was das zweite Hindernis betrifft, so macht jegliche Art der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter durch den Staat diesen immer zu „einem verlockenden Objekt ... für die soziale Revolution“; die politische ist daher identisch mit der ökonomischen Enteignung der Arbeiterklasse.
Das einzige Argument, das gegen die Möglichkeit eines Staatskapitalismus angeführt werden könnte, ist die Behauptung, daß eine Wirtschaft aufhört, kapitalistisch zu sein, wenn der Staat zum Universalvertreter allen Kapitals wird; mit anderen Worten, daß der Staatskapitalismus theoretisch eine Unmöglichkeit ist. Dieses Argument wurde in der Tat von Burnham, Dwight MacDonald und anderen angeführt. So schreibt z.B. Burnham:
Der Ausdruck Staatskapitalismus, scheint auf einem Mißverständnis zu beruhen, welches wir schon untersucht haben. Solange der Staat nur einen kleinen Teil der Wirtschaft zu eigen besitzt, während die übrige Wirtschaft dem kapitalistischen Privatunternehmer verbleibt, könnten wir bezüglich dieses kleinen, dem Staate gehörenden Teils mit Recht von „Staatskapitalismus“, sprechen; denn wir haben gesehen, daß die Wirtschaft letztlich kapitalistisch bleibt und daß sogar der dem Staat gehörende Teil hauptsächlich zugunsten der Kapitalisten genutzt werden kann. Aber der „Kapitalismus“ des Staats-“Kapitalismus“ entspringt nicht dem staatlich, sondern dem kapitalistisch kontrollierten Teil der Wirtschaft. Wenn dieser verschwindet oder bedeutungslos wird, so verschwindet auch der Kapitalismus. Es ist nicht paradox, daß 10 mal 10% Staatskapitalismus keineswegs gleich 100%, sondern gleich 0% Kapitalismus ist. Multipliziert wird der Staat, nicht der Kapitalismus. Obwohl es mathematisch viel komplizierter aussehen würde, kann man eher sagen, daß ebenso wie 10% Staatskapitalismus nur 90% Kapitalismus bedeuten, so auch 100% (oder selbst 80% oder 70%) Staatswirtschaft den Kapitalismus völlig beseitigen würden. [334]
Wenn freilich der Staatskapitalismus eine begriffliche Unmöglichkeit ist, dann ist die begriffliche Bestimmung eines Gesellschaftssystems, das durch ein Höchstmaß von Kapitalkonzentration einerseits und durch Fortdauern der Weltkonkurrenz, der Warenproduktion und der Lohnarbeit andererseits gekennzeichnet ist, erst recht ein willkürlicher Akt. Man kann es als ein Managerregime oder als Herrschaft des bürokratischen Kollektivismus bezeichnen und dementsprechend die Gesetzmäßigkeiten, nach denen eine solche Gesellschaft sich entwickelt, nach Belieben bestimmen. Bruno Rizzi verkündet so, daß der bürokratische Kollektivismus automatisch zum Kommunismus überleitet. Burnham stellt fest, daß das Regime der Manager durch ununterbrochenes wirtschaftliches Wachstum (S.161-162) gekennzeichnet ist, daß es unter ihm keine Überproduktionskrisen gibt (S.159), daß es keine Arbeitslosigkeit kennt (S.160-161), daß die Managergesellschaft sich zunehmend demokratisiert (S.200) und daß sie auf Grund alldessen bei den Massen auf Begeisterung stößt (S.222). Dagegen beteuert uns Schachtmann, daß der bürokratische Kollektivismus in die Barbarei führt.
Wenn Adam Smith die Gelegenheit hätte, unsere heutige mit seiner Welt zu vergleichen, so fiele es ihm sicherlich sehr schwer, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen einer Wirtschaft wie z.B. der des nationalsozialistischen Deutschlands, mit ihrer hochmonopolistischen Organisation, ihrer staatlichen Kontrolle der Rohstoffverteilung und des Arbeitsmarkts, einer Staatsnachfrage für über die Hälfte des Sozialprodukts usw. und der des Manufaktursystems des frühen 19. Jahrhunderts zu finden, einer Wirtschaft also, die durch kleine Produktionsstätten, freier Konkurrenz zwischen den Unternehmen gekennzeichnet und die frei von kapitalistischen Überproduktionskrisen war. Es wird uns leichterfallen, zu sehen, was beiden Wirtschaftssystemen gemeinsam ist und daß beide Systeme kapitalistisch sind, wenn wir die schrittweise Entfaltung des Kapitalismus von einer Stufe seiner Entwicklung zur nächsten verfolgen. Der Unterschied zwischen der nationalsozialistischen und der russischen Wirtschaft ist weit geringer als der zwischen der nationalsozialistischen und der zu Lebzeiten eines Adam Smith. Allein das Fehlen eines allmählichen Übergangs durch das Stadium des Monopolkapitalismus macht es schwierig, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem russischen Wirtschaftssystem und dem des traditionellen Kapitalismus einerseits und dem eines Arbeiterstaats andererseits zu begreifen.
Indem der Staatskapitalismus die äußerste Grenze erreicht, bis zu der sich der Kapitalismus theoretisch entwickeln kann, entfernt er sich notwendig auch am weitesten vom traditionellen Kapitalismus. Es handelt sich hier um eine Negation des Kapitalismus noch auf der Basis des Kapitalismus selbst. Ebenso trägt der Arbeiterstaat als niedrigste Stufe einer neuen sozialistischen Gesellschaft notwendig viele dem Staatskapitalismus ähnliche Züge. Was beide kategorisch unterscheidet, ist der fundamentale, wesenhafte Unterschied zwischen einem kapitalistischen und einem sozialistischen System. Ein Vergleich des Staatskapitalismus mit dem traditionellen Kapitalismus einerseits und mit dem Arbeiterstaat andererseits soll zeigen, daß der Staatskapitalismus eine Übergangsstufe zum Sozialismus diesseits der sozialistischen Revolution, der Arbeiterstaat dagegen eine Übergangsstufe zum Sozialismus jenseits der sozialistischen Revolution ist.
Die staatliche Regulierung wirtschaftlicher Entwicklungen stellt in sich schon eine partielle Negation des Wertgesetzes (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel VII) dar, auch dann, wenn der Staat noch nicht zum „Universalvertreter“, aller Produktionsmittel geworden ist. Das Wertgesetz geht von einer Regulierung wirtschaftlicher Funktionen auf anarchische Weise aus. Es bestimmt die Austauschverhältnisse zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen und erklärt, warum die Beziehungen zwischen den Menschen nicht als kristallklares, sondern als mystisch verschleiertes Verhältnis erscheinen. Nun kann das Wertgesetz nur unter der Bedingung der freien Konkurrenz, d.h. bei freier Bewegungsmöglichkeit von Kapital, Waren und Arbeitskraft, uneingeschränkt wirken. Aus diesem Grunde negieren bereits die ersten Ansätze einer monopolistischen Struktur in gewisser Weise das Wertgesetz. Sicherlich handelt es sich um eine partielle Negation des Kapitalismus, wenn der Staat den Fluß von Kapital und Arbeitskräften lenkt oder die Warenpreise beeinflußt. Das trifft in noch weit stärkerem Maße zu, wenn der Staat zu einem wichtigen Käufer von Produkten wird. Über diese Frage sagte Lenin:
Wenn die Kapitalisten für die Landesverteidigung, d.h. für den Staat, arbeiten, so liegt auf der Hand, daß dies schon kein reiner Kapitalismus mehr ist, sondern eine besondere Art der Volkswirtschaft. Der reine Kapitalismus ist Warenproduktion. Warenproduktion ist Arbeit für einen nicht bekannten, freien Markt. Der für die Landesverteidigung „arbeitende“ Kapitalist aber „arbeitet“ gar nicht für den Markt, sondern auf Bestellung des Staates, in der Regel sogar mit dem Geld, das er vom Staat vorgestreckt bekommt. [335]
Mit der wachsenden Monopolisierung der Wirtschaft wird auch die partielle Negation des Wertgesetzes stärker. Lange vor dem industriellen nimmt das Bankkapital eine gesellschaftliche Form an. Dazu sagt Marx:
(Mit dem Banksystem) ... ist allerdings die Form einer allgemeinen Buchführung und Verteilung der Produktionsmittel auf gesellschaftlicher Stufenleiter gegeben, aber auch nur die Form. [336]
Dieses um so mehr, wenn der Staat zum bedeutendsten Anlagefeld für das Geldkapital wird. Die Vergesellschaftung des Bankkapitals erreicht ihren Höhepunkt, sobald der Staat das Bankwesen in seine eigenen Hände nimmt.
Kapitalistisches Privateigentum wird auch durch das Entstehen monopolistischer Strukturen im industriellen Sektor partiell negiert. War der Kapitalist des freien Konkurrenzkapitalismus der uneingeschränkte Eigentümer seines privaten Besitzes, so verliert der einzelne Kapitalist im Monopolkapitalismus und vor allem unter dessen extremster Erscheinungsform, dem Staatskapitalismus, sein unbeschränktes Eigentum an den Produktionsmitteln. In der Aktiengesellschaft erhält das Kapital „direkt die Form von Gesellschaftskapital ... Es ist die Aufhebung des Privateigentums innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.“ [337]
Die Vergesellschaftung des Kapitals erreicht ein noch höheres Stadium, wenn der Staat die Kapitalströme lenkt. In diesem Fall hat der private Eigentümer seine Vertragsfreiheit verloren. Das Kapital hört auf, im strengen Sinn privates zu sein, während die individuelle Aneignung noch fortbesteht. Die äußerste Grenze wird in dem Augenblick erreicht, wo der Staat selbst die Produktionsmittel übernimmt. Der einzelne Anteilseigner verliert jede Kontrolle über seinen Teil des Gesellschaftskapitals.
Darüber hinaus führt der Staatskapitalismus zur partiellen Negation des Warencharakters der Arbeitskraft. Damit die Arbeitskraft als „reine“ Ware auf den Markt treten kann, müssen zwei Bedingungen gegeben sein: Einmal muß der Arbeiter „frei“ von Produktionsmitteln sein, und zweitens muß er von allen gesetzlichen Beschränkungen frei sein, die ihn beim Verkauf seiner Ware einengen. Dort, wo der Arbeitsmarkt wie etwa im Faschismus vom Staat kontrolliert und reguliert wird, verliert der Arbeiter die Möglichkeit, seine Arbeitskraft frei zu verkaufen. Ergreift der Staat selbst dann noch Besitz von allen Produktionsmitteln, so entsteht ein absolutes Nachfragemonopol auf dem Arbeitsmarkt, das die freie Wahl des Arbeitgebers ganz, die des Arbeitsplatzes weitgehend beseitigt. Seine Freiheit wird noch weiter eingeschränkt, wenn der Staatskapitalismus den Arbeitsmarkt durch Lohnstopp und Zwangsarbeit reguliert.
Die partielle Negation des Wertgesetzes befreit jedoch die Wirtschaft nicht von diesem Gesetz. Im Gegenteil, die Wirtschaft ist ihm als Ganze noch mehr unterworfen. Der Unterschied liegt lediglich in der Form, in der sich das Wertgesetz Gültigkeit verschafft. Wenn ein Monopol seine Profitrate im Vergleich zu anderen Industriezweigen erhöht, so steigt nur sein Anteil am gesamten Mehrwert, es sei denn, das Monopol erhöht die Ausbeutungsrate in den eigenen Betrieben, indem es seine Arbeiter zu erhöhter Mehrwertproduktion antreibt. Wenn ein Industriezweig Subventionen vom Staat erhält und so seine Waren unter den Produktionskosten verkaufen kann, wird einfach ein Teil der Produktionskosten von einer auf eine andere Branche übertragen. Auch dann, wenn der Staat die Preise reguliert, bleiben die Produktionskosten der Bezugspunkt für die Preispolitik. Trotz aller Einschränkungen und Modifizierungen der Form, in der das Wertgesetz auftritt, bleiben der Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital, die Mehrwertproduktion und die Verhandlung von Mehrwert in Kapital bestehen. Die zur Reproduktion der Arbeiterklasse aufgewendete Gesamtarbeitszeit bestimmt die Ausbeutungsrate, die Mehrwertrate. Die zur Produktion neuer Produktionsmittel verwandte Gesamtarbeitszeit bestimmt ihrerseits die Akkumulationsrate. Obwohl der Preis der einzelnen Ware nicht genau ihren Wert ausdrückt – dies war selbst unter privatkapitalistischen Verhältnissen nur zufällig und manchmal der Fall –, bleibt die Aufteilung des gesamten Sozialprodukts unter die verschiedenen Klassen, seine Verwendung zum Zweck der Akkumulation oder Konsumtion weiter durch das Wertgesetz bestimmt. Die Bestimmung durch das Wertgesetz erhält ihre reinste, direkteste und absolute Form, wenn der Staat zum Besitzer aller Produktionsmittel geworden, die Arbeiter weiter ausgebeutet werden, die Weltwirtschaft währenddessen insgesamt aber noch ungeeint und atomisiert ist.
Jede Zentralisierung der Produktionsmittel führt auch zur Zentralisierung der Arbeiterklasse. Der Staatskapitalismus führt die Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitern zum höchsten unter kapitalistischen Bedingungen möglichen Grad.
Die partielle Negation des Kapitalismus noch auf der Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse zeigt, daß die durch den Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte dem bestehenden System über den Kopf wachsen. Im Interesse der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems ist die kapitalistische Klasse gezwungen, zu systemfremden, „sozialistischen“ Mitteln zu greifen.
Er [der Kapitalismus, d. Übers.] zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet. [338]
Die Produktivkräfte erweisen sich als zu stark für den Kapitalismus, „sozialistische“ Elemente durchdringen daher die Ökonomie (Engels sprach von der „hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft“). Aber sie bleiben der Bewahrung des Kapitalismus untergeordnet. Ähnlich sieht sich die Arbeiterklasse in einem Arbeiterstaat im Interesse des Aufbaus des Sozialismus gezwungen, kapitalistische Maßnahmen anzuwenden (z.B. die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach kapitalistischem Gesetz), weil die Entwicklung der Produktivkräfte für den Sozialismus noch nicht weit genug entwickelt ist.
Staatskapitalismus und Arbeiterstaat sind zwei Übergangsstufen vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Staatskapitalismus ist das extreme Gegenteil des Sozialismus – beide stehen sich diametral gegenüber und sind dialektisch miteinander verbunden.
Während im Staatskapitalismus die Lohnarbeit partiell dadurch negiert wird, daß der Arbeiter den Käufer seiner Arbeitskraft nicht mehr frei wählen kann, ist sie unter der Diktatur des Proletariats partiell dadurch negiert, weil die Arbeiterklasse als Kollektiv aufhört, „frei“ von Produktionsmitteln zu sein. Gleichzeitig verliert die Lohnarbeit unter einem Arbeiterstaat ihren Warenchrakter. Der „Verkauf“ der Arbeitskraft unterscheidet sich von Verkauf im Kapitalismus, indem im Arbeiterstaat nicht mehr der einzelne Arbeiter seine Arbeitskraft verkauft, sondern die Arbeiterklasse als Kollektiv die Arbeitskraft in ihrem eigenen Interesse anwendet. Die Arbeitskraft verliert in Wirklichkeit ihren Warencharakter, da der Tausch nun zwischen den Arbeitern als einzelnen und den gleichen Arbeitern als Kollektiv stattfindet und nicht mehr zwischen zwei entgegengesetzten Parteien, die lediglich durch den Akt des Tausches miteinander verbunden sind. Während der Staatskapitalismus die Gewerkschaften mit dem Staat soweit verschmilzt, daß die Gewerkschaften schließlich aufhören, zu existieren, gewinnen die Gewerkschaften im Arbeiterstaat ein Maximum an Einfluß. Während der Staatskapitalismus historisch als totalitärer Staat auftritt, ist der Arbeiterstaat durch das Höchstmaß von Demokratie gekennzeichnet, das jemals eine Gesellschaft gekannt hat. Der Staatskapitalismus ist die extreme Form der Unterdrückung der Arbeiterklasse durch eine die Produktionsmittel kontrollierende kapitalistische Klasse. Ein Arbeiterstaat bedeutet Unterdrückung der Kapitalisten durch eine Arbeiterklasse, die die Kontrolle über die Produktionsmittel ausübt.
Lenin formulierte die Beziehung zwischen Staatskapitalismus und Sozialismus sehr klar durch folgende Worte:
[Deshalb] ist das, was die deutschen Plechanow (Scheidemann, Lensch u.a.), „Kriegssozialismus“ nennen, in Wirklichkeit staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus oder, einfacher und klarer ausgedrückt, ein militärischer Schutz für die Profite der Kapitalisten.
Nun versuche man einmal, an Stelle des junkerlich-kapitalistischen Staates den revolutionär-demokratischen Staat zu setzen, d.h. einen Staat, der in revolutionärer Weise alle Privilegien abschafft, der sich nicht davor fürchtet, auf revolutionärem Wege den Demokratismus voll und ganz zu verwirklichen. Man wird sehen, daß der staatsmonopolistische Kapitalismus in einem wirklich revolutionär-demokratischen Staate unweigerlich einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin bedeutet!
... Denn der Sozialismus ist nichts anderes als der nächste Schritt vorwärts, über das staatskapitalistische Monopol hinaus. Oder mit anderen Worten: Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird, und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein. [339]
Bucharin, der sich ausführlich mit der Frage des Staatskapitalismus beschäftigt hat, faßte die Beziehung zwischen Staatskapitalismus und Arbeiterstaat sehr klar:
Im System des Staatskapitalismus ist das wirtschaftende Subjekt der kapitalistische Staat, der kollektive Gesamtkapitalist. Bei der proletarischen Diktatur ist das wirtschaftende Subjekt der proletarische Staat, die kollektiv organisierte Arbeiterklasse, das Proletariat, als „Staatsmacht organisiert“. Beim Staatskapitalismus ist der Produktionsprozeß ein Prozeß der Produktion von Mehrwert, der in die Hände der Kapitalistenklasse gerät, mit der Tendenz, diesen Wert in Mehrprodukt umzuwandeln. Bei der proletarischen Diktatur dient der Produktionsprozeß als Mittel zur planmäßigen Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Das System des Staatskapitalismus ist die vollkommenste Form der Ausbeutung der Massen durch eine Handvoll Oligarchen. Das System der proletarischen Diktatur macht jedwede Ausbeutung überhaupt undenkbar, denn es verwandelt das kollektiv-kapitalistische Eigentum und seine privat-kapitalistische Form in kollektiv-proletarisches „Eigentum“. Also ist hier dem Wesen nach, trotz der formalen Ähnlichkeit, der diametrale Gegensatz gegeben.
Dieser Gegensatz bestimmt auch den Gegensatz aller Funktionen der betrachteten Systeme, auch wenn sie formal ähnlich sind. So z.B. bedeutet die allgemeine Arbeitspflicht im System des Staatskapitalismus eine Knechtung der Arbeitermassen, dagegen im System der proletarischen Diktatur ist sie nichts anderes als die Selbstorganisation der Arbeit durch die Massen; die Mobilmachung der Industrie ist im ersteren Fall eine Verstärkung der Macht der Bourgeoisie und eine Festigung des kapitalistischen Regimes, während sie im zweiten Fall eine Festigung des Sozialismus ist; alle Formen des staatlichen Zwanges stellen bei der staatskapitalistischen Struktur eine Pression dar, die den Ausbeutungsprozeß sichert, ausdehnt und vertieft, während der staatliche Zwang bei der proletarischen Diktatur eine Methode des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft darstellt. Kurzum, die funktionelle Gegensätzlichkeit der formal ähnlichen Erscheinungen wird hier total bestimmt durch eine funktionelle Gegensätzlichkeit der Organisationssysteme, durch deren entgegengesetzte Klassencharakteristik. [340]
Wesentlich früher als Lenin und Bucharin hatte Engels ähnliche Vorstellungen in seiner Schrift Anti-Dühring entwickelt:
Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. [341]
Nächstes Kapitel:
Weitere Betrachtung der stalinistischen Gesellschaft, Politik und Ökonomie
Verzeichnis Kapitel 5
333. Leo Trotzki: Verratene Revolution, Zürich 1957, S.239.
334. James Burnham: Das Regime der Manager, Stuttgart 1949, S.145-146. Die im Text angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die hier angegebene deutsche Ausgabe. (Anmerkung d. Übersetzer)
335. W.I. Lenin: Werke, Bd.25, Ost-Berlin 1960, S.57-58.
336. Karl Marx: Das Kapital, Bd.3, zit. nach MEW, Berlin 1964, S.620.
337. Ebda., S.452
338. W.I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, zit. nach Werke, Bd.22, Ost-Berlin 1960, S.209.
339. W.I. Lenin: Werke, Bd.25, a.a.O., S.368-369.
340. Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode, Hamburg 1970, S.116-118.
341. F.Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, zit. nach Marx-Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Ost-Berlin 1953, S.137.
Zuletzt aktualisiert am 18.9.2002