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Im vorigen Kapitel wurden die wichtigsten Gesichtspunkte der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen im stalinistischen Rußland beschrieben. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den politischen Aspekten – dem Staat und der Partei.
Marx und Engels über den Charakter eines Arbeiterstaates |
Marx und Engels gebrauchten den ziemlich unheilvoll klingenden und weithin mißverstandenen Begriff der „Diktatur des Proletariats“, um den Inhalt, nicht die Form des Staates zu beschreiben, der den kapitalistischen Staat ersetzen sollte, das heißt, um die herrschende Klasse zu definieren. Für sie bedeutet in diesem Zusammenhang Diktatur einfach dasselbe wie Herrschaft, und deshalb waren der Stadtstaat von Athen, das Römische Weltreich, die Herrschaft Napoleons, die parlamentarische Regierung Großbritanniens, das Bismarck’sche Deutschland und die Pariser Kommune allesamt Diktaturen, da in ihnen allen eine Klasse oder eine Anzahl von Klassen von einer anderen Klasse beherrscht wurden. In den Schriften von Marx und Engels über den Charakter der Diktatur des Proletariats wird sie als eine äußerst demokratische Staatsform verstanden. So steht im Kommunistischen Manifest:
... der erste Schritt in der Arbeiterrevolution ist die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie. [229]
Mehr als vierzig Jahre später schrieb Engels:
Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. [230]
Die Vorstellungen von Marx und Engels über die demokratische Gestalt der Diktatur des Proletariats wurden in der Pariser Kommune verwirklicht.
Engels schrieb:
Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats. [231]
Und Marx betonte:
Das erste Dekret der Kommune war daher die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk. Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrheit bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse ... Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller anderen Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst ... Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit ... Wie alle übrigen öffentlichen Diener sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein. [232]
Noch ein Zitat von Engels:
Gegen diese in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht aller Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andere Arbeiter empfingen. Das höchste Gehalt, das sie überhaupt zahlte, waren 6.000 Franken. Damit war der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sicherer Riegel vorgeschoben, auch ohne die gebundenen Mandate bei Delegierten zu Vertretungskörpern, die noch zum Überfluß hinzugefügt wurden. [233]
Marx erklärte, daß mit dem allgemeinen Wahlrecht, dem Recht auf Abberufung von jedem im öffentlichen Bereich Beschäftigten, dem Arbeiterlohn für alle Beamten, maximaler lokaler Selbstverwaltung, dem Fehlen von bewaffneten Streitkräften, die sich über das Volk erheben und es unterdrücken, die Pariser Kommune eine vollendete Demokratie, darstellte.
Die Antithese des Arbeiterstaates war die monströse Bürokratie und die Armee jedes der kapitalistischen Staaten, die nach Engels Worten, „die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht“. [234]
Das sind, kurz gesagt, die Vorstellungen von Marx und Engels über einen Arbeiterstaat als einer beständigen und äußerst konsequenten Demokratie. Gemessen an diesen Vorstellungen wollen wir jetzt die Realität im stalinistischen Rußland untersuchen.
Der Hauptfaktor im Staat sind die bewaffneten Streitkräfte. Um Lenins Formulierung zu gebrauchen, besteht der Staat aus
besonderen, über die Gesellschaft gestellten und sich ihr entfremdeten Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse usw. zu ihrer Verfügung haben. [235]
Deshalb muß eine Analyse des gegenwärtigen russischen Staatsapparates, besonders aus marxistischer Sicht, bei der Struktur der Streitkräfte ansetzen. So schrieb Trotzki richtig:
Das Heer ist ein Abbild der Gesellschaft und leidet an all ihren Krankheiten, meistens mit erhöhter Temperatur. [236]
Die Bildung einer Volksmiliz war eine traditionelle Forderung sozialistischer Parteien. [237] Demnach war eine der ersten Handlungen der bolschewistischen Führer nach der Machtübernahme die Herausgabe eines Erlasses, der folgende Forderungen umfaßte:
2. Die gesamte Macht innerhalb einer Armee-Einheit oder in Verbänden von Einheiten liegt in den Händen ihrer Soldatenkomitees und -räte.
4. Das Wahlprinzip für Armeekommandeure wird hiermit eingeführt. Alle Kommandeure bis hin zum Regimentskommandeur werden durch allgemeine Wahlen (durch die verschiedenen Einheiten) gewählt. Kommandeure höheren Ranges, einschließlich des Obersten Befehlshabers, werden durch einen Kongreß ... der Komitees von Armee-Einheiten [die von der Wahl des Kommandeurs betroffen sind] gewählt.[238]
Am nächsten Tag wurde dieser Beschluß um einen weiteren ergänzt:
In der Erfüllung des Willens des revolutionären Volkes, das sich um die sofortige und entschlossene Ausrottung jeglicher Ungleichheit bemüht, beschließt der Volkskommissariatsrat hiermit:
- Die Abschaffung aller Ränge und Titel vom Gefreiten bis zum General ...
- Die Abschaffung aller Privilegien und äußerlichen Kennzeichen, die früher mit den verschiedenen Rängen und Titeln verbunden waren;
- Die Abschaffung des militärischen Grußes;
- Die Abschaffung aller Orden und anderen Merkmale der Auszeichnung;
- Die Abschaffung aller Offiziersorganisationen;
- Die Abschaffung von Offiziersburschen in der Armee ... [239]
Aber der Wunsch der Bolschewiki nach einer tiefgreifenden Demokratisierung der Armee, einer Umwandlung in eine Volksmiliz, wurde durch die objektiven Gegebenheiten vereitelt. In der ersten Zeit nach der Oktoberrevolution bestanden die revolutionären Streitkräfte aus kleinen Gruppen von Freiwilligen. Die Masse des Volkes war kriegsmüde und nicht bereit, sich freiwillig der neuen revolutionären Armee anzuschließen. Unter dem Druck, der Herausforderung durch die Weißen Armeen, die durch starke ausländische Kräfte unterstützt wurde, begegnen zu müssen, waren die Bolschewiki gezwungen, das Prinzip der Freiwilligkeit durch die Wehrpflicht zu ersetzen. Da sie zusätzlich Mangel an erfahrenen Kommandeuren hatten, waren sie gezwungen, Zehntausende von Offizieren der früheren zaristischen Armee zu rekrutieren. Daran wird deutlich, warum das Wahlprinzip für die Wahl der Kommandeure aufgegeben werden mußte: man konnte kaum von den Bauern und Arbeitern in Uniform erwarten, daß sie die Offiziere zu ihren Befehlshabern wählen würden, die sie so sehr als Vertreter des alten Regimes haßten. Die Zwänge des Krieges bewirkten notwendigerweise ebenfalls die Aufgabe des Ideals einer Armee, die auf territorialer Basis – durch die Bewaffnung des Volkes – aufgebaut ist, und die Rückkehr zu ihrer Kasernierung.
Die bolschewistischen Führer verleugneten niemals auch nur für einen Augenblick, daß diese Maßnahmen eine Abweichung vom sozialistischen Programm darstellten. (Man vergleiche z.B. die Resolution des 8. Parteikongresses im März 1919. [240]) Darüber hinaus widersetzten sie sich energisch jedem Versuch, die Maßnahmen dauerhaft zu machen. Als zum Beispiel ein früherer General der Zarenarmee, der während des Bürgerkrieges auf der Seite der Bolschewiki kämpfte, erklärte, die Armee eines sozialistischen Landes sollte nicht auf die Miliz aufgebaut werden, sondern auf dem Kasernensystem, antwortete der Volkskommissar für das Kriegswesen, Trotzki, mit Bestimmtheit:
... die Kommunistische Partei kam nicht an die Macht, um die dreifarbigen Kasernen durch rote zu ersetzen. [241]
Die Bolschewiki wiederholten immer wieder ihre Absicht, das Milizsystem so schnell wie möglich einzuführen. So erklärte Trotzki auf dem 7. Sowjetkongreß im Dezember 1919:
Es ist notwendig, mit der Übergangsphase zur Verwirklichung des Milizsystems durch die Bewaffnung der Sowjetrepublik zu beginnen. [242]
Der 9. Parteikongreß beschloß, diese Absicht durch den Aufbau von Einheiten einer Arbeitermiliz Seite an Seite mit der regulären Armee zu konkretisieren, und man hoffte, daß sie sich ständig weiterentwickeln würden, um eines Tages die herkömmliche Armee vollständig zu ersetzen. [243] Jedoch wurde dieser Beschluß nie ausgeführt. Jeder Plan zur Einführung einer Volksmiliz wurde von den objektiven Gegebenheiten vereitelt: Rußlands zurückgebliebene Produktivkräfte, das niedrige kulturelle Niveau des Volkes und die Tatsache, daß das Proletariat nur eine Minderheit der Bevölkerung darstellte. Dies wird deutlich durch 1. Smilga ausgedrückt, einem führenden Bolschewiken innerhalb der Armee, der 1921 sagte:
Das Milizsystem, dessen grundlegender Charakter im territorialen Prinzip besteht, sieht sich bei seiner Einführung in Rußland mit einem unüberwindlichen politischen Widerstand konfrontiert. Angesichts des zahlenmäßig schwachen Proletariats in Rußland sind wir nicht in der Lage, die proletarische Führung in den territorialen Milizeinheiten zu gewährleisten ... Noch größere Schwierigkeiten ergeben sich vom strategischen Blickwinkel her. Bei der Schwäche unseres Eisenbahnsystems sind wir im Kriegsfalle nicht fähig, Streitkräfte in den bedrohten Gebieten zu konzentrieren ... Weiterhin hat die Erfahrung des Bürgerkrieges unbestreitbar gezeigt, daß territoriale Formationen völlig ungeeignet sind, die Soldaten desertieren und wollen ihre Dörfer nicht verlassen, gleichgültig, ob bei einem Angriff oder auf dem Rückzug. Deshalb wäre die Rückkehr zu dieser Organisationsform ein grober, nicht zu rechtfertigender Irrtum. [244]
Die Rückständigkeit der Produktivkräfte, verbunden mit dem bäuerlichen Charakter des Landes, waren zwei entscheidende Faktoren, nicht die Miliz, sondern die Rote Armee zur regulären Armee zu machen (obwohl viele Elemente von Demokratie und Gleichheit, die gewöhnlich in regulären Streitkräften nicht zu finden sind, in der Roten Armee vorhanden waren). Der wirtschaftliche Entwicklungsstand eines jeden Landes ist nach wie vor der entscheidende historische Faktor. So sagte Marx:
Unsere Theorie, daß die Arbeitsorganisation bedingt ist durch die Produktionsmittel, scheint nirgendwo brillanter bekräftigt zu werden als in der „menschenschlachtenden Industrie“. [245]
Die materielle und kulturelle Rückständigkeit Rußlands offenbart sich ebenso in den Beziehungen zwischen Offizieren und Mannschaften: von Anbeginn an sahen sich die Bolschewiki, ungeachtet ihrer früheren Agitation für die Ersetzung aller ernannten Offiziere durch von den Soldaten gewählte, mit der unvermeidlichen Notwendigkeit konfrontiert, ehemalige zaristische Offiziere einzustellen. Es war unmöglich, den Krieg gegen die Weißen Armeen ohne erfahrene Kommandeure zu führen, und wenn die Wahl den Soldaten überlassen worden wäre, hätten sie niemals Offiziere aus der Zarenzeit gewählt.
Von Anfang an fand ein Streit zwischen den Politischen Kommissaren auf der einen Seite und den Parteikollektiven innerhalb der Armee auf der anderen statt. Dieser Konflikt überschnitt sich mit einem anderen zwischen zentralistischen und dezentralistischen Tendenzen. Aus diesen beiden Kämpfen gingen die Politkommissare gegenüber den Parteikollektiven siegreich hervor, und das Zentrum überwand die Guerilla-Tendenzen. Das Zusammentreffen dieser beiden Kämpfe spiegelte eine verstärkte bürokratische Tendenz wider.
Es dauerte nicht lange, bis die früheren zaristischen Offiziere die neue Kommandeure proletarischer Herkunft zu beeinflussen begannen. Der Bolschewik Petrowski bemerkte:
Innerhalb der Mauern der Militärschule begegneten wir den vom alten Regime überkommenen Ansichten der Bauern über die Rolle des Offiziers gegenüber der Masse der einfachen Soldaten. Wir bemerkten ebenso eine bestimmte Tendenz zu den Kadettentraditionen der Oberklasse der zaristischen Militärschulen ... Das Berufssoldatentum ist die Geißel, die die Offiziersmoral zu allen Zeiten und in allen Ländern schlug ... Sie (die Kommandeure der Roten Armee) wurden Mitglieder einer neuen Offiziersclique, und weder irgendwelche Agitation noch die schönsten Reden über die Notwendigkeit des Kontaktes zu den Massen konnten dagegen angehen. Die Bedingungen der Realität waren stärker als alle frommen Wünsche. [246]
Die Kommandeure, die Politkommissare und andere Autoritäten in der Roten Armee begannen, ihre Positionen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen. Trotzki zog sie deshalb scharf zur Verantwortung, als er z.B. am 31. Oktober 1920 an die Revolutionären Militärischen Front- und Armeeräte schrieb und die Verwendung von Regierungsfahrzeugen durch solche Führer verurteilte, „welche gerade vor den Augen der erschöpften Soldaten der Roten Armee Freudenfeste abhielten“. Er sprach zornig von „Kommandeuren, die sich besonders elegant kleideten, während die Kämpfer halbnackt waren“, und attackierte Trinkgelage, die sich Kommandeure und Politkommissare leisteten. Und er schloß:
... solche Dinge können nichts anderes als Verbitterung und Unzufriedenheit unter den Soldaten der Roten Armee hervorrufen.
Im selben Brief erläuterte er sein Ziel, nämlich „das Bemühen um den Abbau aller Sonderprivilegien in der Armee auf das heute notwendige Minimum, ohne sich das unerreichbare Ziel zu setzen, sie alle sofort abzuschaffen“. [247]
Diese realistische revolutionäre Konzeption zeigt deutlich die unendlichen Schwierigkeiten in dieser Situation.
Trotz all dieser Mißstände garantierte jedoch die Existenz der Bolschewistischen Partei mit ihren Zellen in allen Teilen der Armee, gekoppelt mit dem revolutionären Enthusiasmus und dem Aufopferungswillen der einfachen Soldaten und mit Trotzki an ihrer Spitze, die Beibehaltung des proletarischen Charakters der Roten Armee während des Bürgerkrieges.
Mit dem Teilsieg der Bürokratie im Jahre 1923 wurden Arroganz und diktatorische Verhaltensweisen der Offiziere gegenüber den Truppen eher die Regel als die Ausnahme. Die Schlüsselpositionen innerhalb der Parteizellen der Armee wurden allmählich von den Kommandeuren selbst eingenommen, bis im Jahre 1926 von der Politischen Abteilung in der Armee festgestellt wurde, daß 2/3 aller Positionen im Parteiapparat der Armee sich in den Händen der Kommandeure befanden. [248] Mit anderen Worten wurden die Offiziere die politischen Führer, deren Aufgabe es sein sollte, die Soldaten gegenüber ihren Offizieren zu verteidigen!
Trotzdem handelte es sich noch nicht um eine vollkommen unabhängige Offizierskaste. Zum einen waren die Lebensbedingungen der Kommandeure hart und unterschieden sich nicht sehr von denen der Soldaten. Nach White heißt es:
Im Jahr 1925 wohnte nur 30% des kommandierenden Personals unter Bedingungen, die von Frunse (Volkskommissar für das Kriegswesen) als überhaupt erträglich angesehen wurden. 70% lebte in Wohnverhältnissen unter diesem Niveau. Frunse sprach von verschiedenen Orten, wo sich mehrere Kommandeure mit ihren Familien in einen Raum teilten. Mit anderen Worten: jede Familie hatte nur einen Teil eines Raumes zu ihrer Verfügung. Wenn die Reservekommandeure zu Umschulungen außerhalb der Armee abgeordert wurden, wurden sie für ihre Arbeit auf einer Basis entlohnt, die nicht einmal für einen chinesischen Kuli attraktiv gewesen wäre. Diejenigen, die der Bauernschaft angehörten oder für sie abgestellt waren, bekamen für die Zeit, in der sie mit ihren Studien beschäftigt waren, 5 Kopeken in der Stunde. [249]
Wollenberg, der selbst Kommandeur in der Roten Armee war, macht folgende Angaben:
Im Jahre 1924 betrug die Bezahlung eines Korps-Kommandeurs 150 Rubel im Monat, das entsprach etwa dem, was ein gutbezahlter Metallarbeiter verdiente. Dieser Betrag lag 25 Rubel unter dem „Parteimaximum“, d.h. dem höchsten Monatsgehalt, das zu verdienen einem Parteimitglied zu dieser Zeit gestattet war ... Es gab damals kein besonderes Offizierskasino. Die Mahlzeiten von Offizieren und Mannschaften wurden in denselben Küchen zubereitet. Kommunistische Offiziere trugen selten ihre Rangabzeichen außerhalb des Dienstes und legten sie oft auch während des Dienstes ab. Zu dieser Zeit akzeptierte die Rote Armee ein Verhältnis von Vorgesetzten und Untergeordneten nur für den Ablauf des militärischen Dienstes, und in jedem Falle kannte jeder Soldat seinen kommandierenden Offizier mit oder ohne Rangabzeichen. Offiziersburschen waren abgeschafft.[250]
Darüber hinaus waren die Soldaten berechtigt, sich über ihre Offiziere beim Militär-Anklagebüro zu beschweren, wovon sie in der Tat auch Gebrauch machten. Im Jahr 1925 gab es monatlich durchschnittlich 1892 Beschwerden, 1926 war die Durchschnittszahl 1923 und 1927 2082. Bis in die Jahre 1931-1933 bestanden „natürliche und einfache Beziehungen zwischen Offizieren und Mannschaften“. [251] White setzt den Wendepunkt zur Konsolidierung der Offizierskaste etwas früher an. Die Armeestatuten von 1928 beschreibt er als „eine echte Wendung“ und was danach kam als „die Entwicklung eines Trends, der sich bereits klar abgezeichnet hatte“. [252] Durch diese Statuten wurde den Armeeoffizieren eine Lebenskarriere eröffnet, und White beschreibt sie berechtigterweise als die „Magna Charta des kommandierenden Personals“, als „so etwas Ähnliches wie eine Petrinische Gesetzestafel der Ränge“. [253]
Im Jahre 1929 begann „die schrittweise Umwandlung der Häuser der Roten Armee in Offiziersklubs“. [254] Obwohl der Sold der Soldaten sehr niedrig blieb, begannen die Offiziersgehälter zu steigen, wie die folgende Tabelle zeigt: [255]
Anstieg der monatlichen Offiziersgehälter |
|||
---|---|---|---|
1934 |
1939 |
Zuwachs |
|
Zugführer |
260 |
625 |
240 |
Kompaniechef |
285 |
750 |
263 |
Bataillonskommandeur |
335 |
850 |
254 |
Regimentskommandeur |
400 |
1.200 |
300 |
Divisionskommandeur |
475 |
1.600 |
377 |
Truppenkommandeur |
550 |
2.000 |
364 |
Es ist geschätzt worden, daß im Jahr 1937 der durchschnittliche Jahreslohn von einfachen Soldaten und Unteroffizieren zusammengenommen 150 Rubel betrug, der der Offiziere hingegen 8.000 Rubel. [256] Während des Zweiten Weltkrieges erhielten einfache Soldaten einen Sold von 10 Rubeln im Monat, ein Leutnant 1.000 Rubel und ein Oberst 2.400 Rubel. In scharfem Kontrast zu diesen großen Unterschieden – wir zitieren dies nicht in zustimmender Weise, sondern nur zum Vergleich – bekamen einfache Soldaten in der US-Armee 50 Dollar im Monat, ein Leutnant 150 und ein Oberst 333 Dollar monatlich. [257]
Obwohl während der Regierung Stalins der Wert des Rubels sehr stark fiel, beeinträchtigte dies die Offiziere viel weniger als die Zivilisten, da sie in der Lage waren, verbilligt im „Wojenntorch“ (Militärmarkt), einer exklusiven Kooperativorganisation, einzukaufen, die Läden, Restaurants, Wäschereien, Schneidereien und Schuhmachereien betrieb. Es wurden für sie spezielle Häuser mit allem Komfort gebaut, sie konnten mit ihren Familien gratis Eisenbahnen, Busse, Schiffsverbindungen usw. benutzen. (Der einfache Soldat hatte keinen dieser Vorteile, die einzige Konzession, die man ihm machte, waren portofreie Briefe, die er verschickte, und für seine Familie portofreie Briefe an ihn. [258])
Ein Erlaß vom 22.9.1935 führte folgende Ränge in der Armee und der Luftwaffe ein: Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann, Major, Oberst, Brigadegeneral, Divisionskommandeur, Kommandeur eines Armeekorps, Armeekommandeur 2. Grades, Armeekommandeur 1. Grades und schließlich Marschall der Sowjetunion. [259] Ähnliche Ränge wurden in der Marine eingeführt und zusätzliche Ränge im technischen Militärdienst vergeben. Am 7. Mai 1940 wurden in der Armee und der Luftwaffe weitere Ränge eingeführt: Generalmajor, Generalleutnant, Generaloberst, Armee-General, sowie in der Marine: Konteradmiral, Vizeadmiral, Admiral, Admiral der Flotte und schließlich am 26. Juni 1945 der Rang des Oberbefehlshabers der Sowjetunion.
Ab dem 3. September 1940 galten wieder die Rangabzeichen nach altem zaristischem Vorbild, wie goldbesetzte Schulterstücke, Sternembleme aus Gold, Platin und mit Diamanten besetzt (die von Marschällen getragen wurden). Darin zeigte sich, wie fern inzwischen die Tage des Bürgerkrieges waren, als die Weißen noch mit dem Schimpfnamen „Goldepauletten“ bedacht wurden. Ein Band der „Kleinen Sowjetischen Enzyklopädie“ aus dem Jahre 1930 gibt an, daß Schulterstücke
durch die Novemberrevolution von 1917 als Symbole der Klassenunterdrückung in der Armee abgeschafft wurden.
In krassem Gegensatz dazu schrieb die Zeitung der Roten Armee im Jahre 1943 nach der Einführung der Schulterstücke:
Die Einführung der traditionellen Schulterstücke für Soldaten und Offiziere ... betont und symbolisiert die Kontinuität des Ruhms russischer Waffen durch die gesamte russische Geschichte hindurch bis in unsere Tage.
Jede Verbrüderung zwischen Offizieren und einfachen Soldaten wurde verboten. Sogar die Reservisten wurden in dieselben Ränge unterteilt wie die Armee und hatten das Recht, ihre Militäruniformen zu jeder Zeit zu tragen.
„Heutzutage“, so schrieb John Gibbons, der Korrespondent des Daily Worker, in Moskau 1943, „müssen einfache Soldaten und Unteroffiziere im Bus, der U-Bahn oder dem Zug von ihren Sitzplätzen aufstehen, sollten Personen höheren Ranges stehen.“
Um zu demonstrieren, daß sie etwas Besseres sind, war es den Offizieren nicht gestattet, größere Pakete auf der Straße zu tragen oder bei einem Theaterbesuch Filzstiefel zu tragen. Hohe Offiziere durften nicht die U-Bahn oder die Straßenbahn benutzen. Es gab besondere Offizierskasinos und -klubs. Sogar außer Dienst war es einem Offizier verboten, in der Öffentlichkeit mit Untergeordneten an einem Tisch zu sitzen. Jeder Offizier hatte seinen ständigen Burschen. Für die Kinder von Offizieren wurden vom Kindergarten aufwärts besondere Schulen eingerichtet. Ein früherer Graf und Offizier der Leibwache des Zaren, Generalleutnant Alexeij Ignatjew, wurde sogar Direktor für Umgangsformen und Etikette in Stalins Armee. An der Militärschule wurden Tanzstunden zur Pflicht. Es ist zu bezweifeln, daß Offiziere irgendeiner anderen Armee in der Geschichte über größere Disziplinargewalt verfügten als die russischen. Am 12.10.1940 wurden Verordnungen eingeführt, in denen es heißt:
... In Fällen von Ungehorsam hat der Kommandeur das Recht, alle Zwangsmaßnahmen einschließlich des Einsatzes von Gewalt und Schußwaffen zu ergreifen. Der Kommandeur trägt keine Verantwortung für die Folgen, falls er es für notwendig hält, Gewalt oder Schußwaffen anzuwenden, um einen Gehorsamsverweigerer zu zwingen, einem Befehl zu gehorchen und um Ordnung und Disziplin wiederherzustellen ... Ein Kommandeur, der in solchen Fällen nicht alle notwendigen Mittel einsetzt, um einen Befehl durchzusetzen, wird vor ein Kriegsgericht gestellt.
W. Ulrich, der bei den Moskauer Prozessen den Vorsitz innehatte, kommentierte diese Verordnungen folgendermaßen:
Die Disziplinarverordnungen dehnen das Recht des Kommandeurs beträchtlich aus in bezug auf den Gebrauch von Gewalt und Schußwaffen ... Kameradschaftliche Beziehungen zwischen Soldaten und Offizieren bestehen nicht mehr ... Der vertrauliche Geist in den Beziehungen zwischen einem Kommandeur und einem Untergebenen kann keinen Platz innerhalb der Roten Armee finden. Diskussionen jeder Art unter Untergebenen sind absolut verboten.
Ein Artikel in der Prawda zur selben Zeit beleuchtet noch einen anderen Aspekt dieser Verordnungen:
Beschwerden können nur persönlich und individuell vorgetragen werden. Das Vorbringen von Gruppenbeschwerden für andere ist verboten. Keine Gruppenerklärungen, keine gemeinsamen Diskussionen mehr, die entweder einen Befehl, schlechtes Essen oder irgendwelche ähnliche Themen betreffen. All dies fällt unter „Ungehorsam“ und dafür kann ein Soldat auf der Stelle ohne Kriegsgericht, Anhörung oder Untersuchung erschossen werden, wenn ein höherer Offizier darüber allein und persönlich entscheidet.
Auf diese Weise entwickelte sich das Offizierstum in eine Militärhierarchie, die in ihren Abstufungen und Abgrenzungen in nichts den Vergleich mit irgendeiner anderen Armee in der Menschheitsgeschichte zu scheuen braucht.
Offiziell sind die Sowjets die institutionellen Träger der staatlichen Souveränität der UdSSR. An ihrer Spitze steht der Oberste Sowjet (bis 1937 der Sowjetkongreß). Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß es diese Körperschaften viele Jahre hindurch nur auf dem Papier gegeben hat, während die wirkliche Macht anderswo lag.
In der Anfangszeit sah es noch anders aus. Im Jahre 1918 traf sich zum Beispiel der Kongreß fünfmal. Zwischen 1919 und 1922 trat er einmal im Jahr zusammen, jedoch von da an verlängerten sich die Intervalle zwischen den Treffen beträchtlich. Im Jahre 1923 schlossen sich andere Einheiten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) an und bildeten die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Der erste Sowjetkongreß der UdSSR fand im Dezember 1922 statt, der zweite im Januar 1924, der dritte im Mai 1925 und von da ab alle zwei Jahre bis 1931. Der 7. Kongreß tagte im Januar/Februar 1935, vier Jahre nach dem vorangegangenen. Dieses sowjetische „Parlament“ tagte in den Jahren 1917-1936 nur 104 Tage, das sind weniger als 6 Tage im Jahr. Die Zahlen für die späteren Jahre sind sogar noch niedriger, und es ist bezeichnend, daß in den Jahren 1931-1935, der Periode der größten und schnellsten Umwandlungen in Rußland, überhaupt kein Kongreß zusammengerufen wurde. Viele größere Schritte, wie der Fünf-Jahres-Plan, die Kollektivierung und die Industrialisierung, wurden entschieden, ohne die „höchste Autorität im Lande“ zu Rate zu ziehen.
Während der Zeit von 1917-1936 lag die gesetzgebende Gewalt formal in den Händen des Sowjetkongresses und seines gewählten zentralen Exekutivkomitees. Seit dem Siege Stalins jedoch trat das Zentrale Exekutivkomitee durchschnittlich nicht mehr als 10 Tage im Jahr zusammen. Rußland hat sich weit von jener Zeit entfernt, als der Vorsitzende des Zentralen Exekutivkomitees sagen konnte:
Das Zentrale Exekutivkomitee bestimmt als das höchste Organ der Sowjetrepublik die Politik, ... die der Rat der Volkskommissare auszuführen hat ...
Was das Präsidium des Obersten Sowjet angeht, ist nicht bekannt, wann es zusammentrat oder worüber in seinen Sitzungen diskutiert wurde, da niemals Berichte über seine Beratungen erschienen. Seit dem Ende der zwanziger Jahre wurde jede Entscheidung des Sowjetkongresses und später des Obersten Sowjet einstimmig gefällt. Nicht nur gab es gegen keinen der unterbreiteten Vorschläge jemals auch nur eine Gegenstimme, sondern es gab auch nie eine Stimmenthaltung, einen Abänderungsvorschlag oder auch nur eine oppositionelle Rede.
Der rein zeremonielle Charakter des Obersten Sowjet zeigt sich deutlich an seiner Beratungsweise. Als nämlich der größte Umschwung in der Außenpolitik stattfand – von der Allianz mit Frankreich und England zur Zusammenarbeit mit Hitler –, entschied der Oberste Sowjet, daß es „wegen der Klarheit und Folgerichtigkeit der Außenpolitik der sowjetischen Regierung“ nicht nötig war, über dieses Problem zu diskutieren.
Der jährliche Haushaltsplan wurde manchmal dem Obersten Sowjet zur Kenntnisnahme unterbreitet, nachdem die Mittel bereits mehrere Monate lang in Umlauf waren. So wurde z.B. vom Finanzminister Swerew der Haushaltsplan von 1952, der bereits vom 1. Januar an in Kraft war, erst am 6. März 1952 bekanntgegeben. Das Budget für 1954 wurde am 11. April 1954 „beraten“ Ähnlich trat bereits am 1. Oktober 1928 der 1. Fünf-Jahres-Plan in Kraft, der jedoch erst im April 1929 befürwortet wurde. Der 2. Fünf-Jahres-Plan trat am 1. Januar 1933 in Kraft, wurde aber erst 22 Monate später, am 17.11.1934, gebilligt. Die entsprechenden Daten für den 3. Fünf-Jahres-Plan waren der 1.1.1939 und März 1939, für den vierten der 1.1.1946 und März 1946 und für den fünften der 1.1.1951 und Oktober 1952.
Im Lichte dieser Fakten kann die folgende Erklärung des Deans von Canterbury, Dr. Hewlett Johnson, nur als alberner Unsinn bezeichnet werden:
... Die Exekutive [ist] dem Obersten Sowjet untergeordnet ... Alle Handlungen der Exekutive müssen vom Obersten Sowjet ratifiziert werden: „Das höchste Staatsorgan“ so besagt der Artikel 30, „ist der Oberste Sowjet.“ Die Bedeutung des Inkrafttretens von diesem Gesetz wird allen denen sofort deutlich, die in unserem Land mit Unruhe genau entgegengesetzte Tendenzen feststellen, wenn z.B. das britische Kabinett, ohne das Parlament zu konsultieren oder ohne sofort und schnellstens seine Handlungen vom Parlament ratifizieren zu lassen, Entscheidungen fällt. Noch bedeutsamer ist aber die Bestimmung, daß der Oberste Sowjet den Haushalt kontrollieren soll. Wer auch immer den Geldbeutel in der Hand haben mag, der hat auch letztlich die Macht inne.
Das Kapitel, aus dem diese Passagen stammen, hat die Überschrift: Die demokratischste Verfassung in der Welt!
Am Vortag der allgemeinen Wahlen von 1937 erklärte Stalin:
Niemals – nein, wirklich niemals – hat die Welt so vollkommen freie und wahrhaft demokratische Wahlen gesehen! Die Geschichte hat kein Beispiel dieser Art überliefert.
Und ein begeisterter amerikanischer Befürworter des Stalin-Regimes sagt:
... bei geheimer Abstimmung, ohne Furcht oder Bestechung, kann er (der sowjetische Bürger) seine Stimme für die Person oder die Politik abgeben, die er wirklich wünscht.
Jedoch gab es in diesen „vollkommen freien und so wahrhaft demokratischen Wahlen“ für die Wähler niemals mehr als einen Kandidaten in jedem Wahlbezirk. Auch lag die Wahlbeteiligung in keinem einzigen von den Hunderten von Wahlbezirken jemals unter 98%. Die Abstimmung erbrachte nahezu immer 99,9%, und ein Kandidat erzielte einmal sogar mehr als 100%! Es war Stalin, der in den Wahlen zu den örtlichen Sowjets am 21.12.1947 2.122 Stimmen erzielte, obwohl der Wahlkreis, der ihn „wählte“, nur 1.617 Wähler umfaßte! Die reine Idiotie dieses Vorfalls wurde noch durch die unverschämte Erklärung der Prawda am nächsten Tag übertroffen. Sie schrieb:
Die zusätzlichen Wahlstimmen wurden von Bürgern benachbarter Wahlbezirke in die Urnen geworfen, die damit die Gelegenheit ergreifen wollten, ihre Dankbarkeit gegenüber ihren Führern auszudrücken.
Gewöhnlich wurden diese Dinge natürlich mit mehr Geschick arrangiert, und folglich gibt es nur wenig Beweismaterial über diesen Schwindel. Trotzdem gibt es andere Fälle dieser Art zu vermerken. So bei einer Volksabstimmung in Litauen am 12. Juli 1940, wo es um die vorgeschlagene Vereinigung von Litauen mit der UdSSR ging. Die Agentur TASS in Moskau war nicht darüber informiert, daß die lokalen Behörden beschlossen hatten, die Abstimmung über zwei Tage hinweg abzuhalten, und so verkündete Moskau das Ergebnis der Abstimmung nach dem ersten Tag, obwohl die Stimmen erst am nächsten Tag ausgezählt wurden. „Zufällig“ fiel das Ergebnis genauso wie die Vorhersage aus:
Durch eine unglückliche Panne veröffentlichte eine Londoner Zeitung die offiziellen Resultate von einer russischen Nachrichtenagentur 24 Stunden bevor die Abstimmung offiziell abgeschlossen war.
Die Wahlverordnungen erforderten, daß jede Einmischung in das Wahlrecht der Bürger bestraft werden mußte. Doch verschwanden zum Beispiel zwischen der Nominierung der Kandidaten für den Obersten Sowjet und den Wahlen selber im Dezember 1937 37 Kandidaten – unter ihnen zwei Mitglieder des Politbüros, Kossjor und Tschubar – und wurden durch andere ersetzt. Den Wählern wurden keine Erklärungen gegeben, und niemand fand es anscheinend ratsam, diese Dinge zu untersuchen.
15 Tage vor denselben Wahlen telegrafierte der Moskauer Korrespondent der New York Times seiner Zeitung eine Voraussage über die Zusammensetzung und das Personal des nächsten Obersten Sowjet. Er sagte, er würde aus 246 hohen Parteifunktionären, 365 Zivil- und Militärbeamten, 78 Vertretern der Intelligenz, 131 Arbeitern und 223 Kolchosmitgliedern bestehen und nannte die einzelnen Namen. Mit Ausnahme der 37, die in letzter Minute verhaftet wurden, stimmte diese Voraussage mit dem Ergebnis in jedem Detail überein! Wie konnte das bei einer Wahl zustande kommen, die nicht beeinflußt wurde?
Da die Kommunistische Partei der Sowjetunion eine Staatspartei ist, muß eine Analyse ihrer Struktur, Zusammensetzung und Arbeitsweise gleichzeitig eine Analyse des Staatsapparates sein.
Vor einer Analyse der Arbeitsweise der Partei unter Stalin ist es wichtig, ihrem gegenwärtigen monolithischen und totalitären Charakter die wirklich demokratische Arbeitsweise der Partei in der Zeit vor dem Aufstieg der Bürokratie entgegenzusetzen. Die Bolschewistische Partei war niemals eine monolithische oder totalitäre Partei gewesen. Ganz im Gegenteil. Der inneren Demokratie ist im Parteileben immer höchste Bedeutung zugekommen, jedoch aus dem einen oder anderen Grund ist diese Tatsache im größten Teil der Literatur, die sich mit diesem Thema beschäftigt, überpinselt worden. Es ist deshalb die Sache wert, etwas abzuschweifen und eine Anzahl von Beispielen anzuführen, die die innere Parteidemokratie in der vorstalinistischen Zeit veranschaulichen.
Wir werden mit einigen Beispielen aus der Zeit vor der Oktoberrevolution beginnen. Nach der endgültigen Niederlage der Revolution im Jahre 1907 geriet die Partei über die Frage, welche Haltung sie zu den Wahlen der zaristischen Duma einnehmen sollte, in eine Krise. Auf der 3. Konferenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Juli 1907, an der sowohl die Bolschewiki wie die Menschewiki teilgenommen hatten, entstand eine seltsame Situation: Alle bolschewistischen Delegierten mit Ausnahme von Lenin stimmten für den Boykott der Duma-Wahl, Lenin stimmte mit den Menschewiki. Auf einem Plenum des Zentralkomitees der Bolschewiki drei Jahre später wurde eine Resolution verabschiedet, die zur Einheit mit den Menschewiki aufrief; wiederum war die einzige abweichende Stimme die von Lenin.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, nahm keine Richtung innerhalb der Partei Lenins eine Position des revolutionären Defätismus ein, und bei einem Gerichtsverfahren im Jahre 1915 wiesen Kamenjew und zwei andere bolschewistische Abgeordnete der Duma die Ansichten Lenins zurück. Nach der Februarrevolution stellte man fest, daß die große Mehrheit der Parteiführer sich nicht für eine revolutionäre Sowjetregierung, sondern für die Unterstützung der provisorischen Koalitionsregierung aussprachen. Die bolschewistische Fraktion hatte im Petrograder Sowjet am 2. März 1917 40 Mitglieder. Doch als über die Resolution, in der es um die Übergabe der Macht an die bürgerliche Koalitionsregierung ging, abgestimmt wurde, stimmten nur 19 dagegen. Auf einem Treffen des Petrograder Parteikomitees am 5. März 1917 erhielt eine Resolution für eine revolutionäre Sowjetregierung nur eine Stimme. Die Prawda, die zu dieser Zeit von Stalin herausgegeben wurde, vertrat eine Position, die in keiner Weise revolutionär genannt werden konnte. Sie erklärte deutlich ihre Unterstützung für die Provisorische Regierung, „insofern sie gegen Reaktion und Konterrevolution kämpft“.
Als Lenin am 3. April 1917 nach Rußland kam und seine berühmten „Aprilthesen“ verkündete – eine klare Richtschnur, die die Partei zur Oktoberrevolution führte –, war er wieder eine Zeitlang in seiner eigenen Partei in der Minderheit. Die Prawda kommentierte die Aprilthesen als „Lenins persönliche Meinung“ und „völlig unakzeptabel“. [260]Auf einem Treffen des Petrograder Parteikomitees am 8. April 1917 erhielten die „Thesen“ nur zwei Stimmen, während dreizehn dagegen stimmten und einer sich enthielt.[261] Jedoch auf der Parteikonferenz vom 14. bis 22. April erhielten die „Thesen“ eine Mehrheit: 71 dafür, 39 dagegen und 8 Enthaltungen.[262] Dieselbe Konferenz brachte Lenin eine Niederlage in einer anderen wichtigen Frage bei, nämlich, ob sich die Partei an der vorgeschlagenen Stockholmer Konferenz der sozialistischen Parteien beteiligen sollte. Entgegen seinen Ansichten entschied sie sich für die uneingeschränkte Beteiligung.[263]
Am 18. September berief Kerenski eine „Demokratische Konferenz“ ein, und Lenin sprach sich wiederum energisch für einen Boykott aus. Das Zentralkomitee entschied sich mit 9 zu 8 Stimmen für den Boykott, da aber die Abstimmung nahezu ausgeglichen war, wurde die letzte Entscheidung der Parteikonferenz übertragen. Diese entschied mit 77 zu 50 Stimmen gegen den Boykott.[264]
Als die wichtigste Frage von allen, die Frage nach dem Oktoberaufstand, auf der Tagesordnung stand, war die Führung wieder scharf in sich gespalten: Eine starke Fraktion, angeführt von Sinowjew, Kamenjew, Rykow. Pjatakow, Miljutin und Nogin, war gegen den Aufstand. Trotzdem wurden bei den Wahlen zum Politbüro durch das Zentralkomitee weder Sinowjew noch Kamenjew ausgeschlossen. Nach der Machtübernahme waren die Differenzen innerhalb der Partei ebenso groß wie zuvor. Einige Tage nach der Revolution setzte sich eine Anzahl von Parteiführern dafür ein, eine Koalition mit anderen sozialistischen Parteien zu bilden. Unter diesen waren Rykow, der Volkskommissar für Inneres, Miljutin, der Volkskommissar für die Landwirtschaft, Nogin, der Volkskommissar für Industrie und Handel, Lunatscharski, der Volkskommissar für Erziehung, Schljapnikow, der Volkskommissar für Arbeit, Kamenjew, der Präsident der Republik, und Sinowjew. Sie gingen so weit, von der Regierung zurückzutreten und zwangen Lenin und seine Anhänger somit, Verhandlungen mit anderen Parteien zu beginnen.[265] (Die Verhandlungen schlugen fehl, da die Menschewiki auf dem Ausschluß von Lenin und Trotzki aus der Koalitionsregierung bestanden.[266])
Bei der Frage über die Abhaltung oder die Verschiebung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im Dezember 1917 fand sich Lenin im Zentralkomitee in einer Minderheit, und gegen seinen Rat wurden die Wahlen abgehalten.[267] Etwas später unterlag er wiederum bei der Frage über die Friedensverhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk. Er war für sofortigen Frieden. Bei einer Zusammenkunft von Zentralkomitee und aktiven Arbeitern am 21. Januar 1918 erhielt sein Antrag nur 15 Stimmen, während Bucharins Antrag, der für den „revolutionären Krieg“, war, 32 Stimmen, und Trotzkis Antrag, der „weder Krieg noch Frieden“ wollte, 16 Stimmen erhielt.[268] Auf einer Sitzung des Zentralkomitees am nächsten Tag unterlag Lenin wiederum. Aber schließlich setzte er sich unter dem Druck der Ereignisse durch und überzeugte die Mitglieder im Zentralkomitee von seinem Standpunkt. Auf der Sitzung am 24. Februar erhielt sein Antrag für Frieden 7 Stimmen gegenüber 4 Gegenstimmen und 2 Enthaltungen.[269]
Das monolithische Klima, das der bolschewistischen Partei sowohl vor als auch unmittelbar nach der Revolution so eifrig zugeschrieben wurde, löst sich bei der Konfrontation mit den Tatsachen auf. Jedoch wurde es später Realität.
Für eine lange Zeit war der Kongreß die bedeutendste Körperschaft innerhalb der Partei. Lenin erklärte:
Der Kongreß [ist] die Versammlung mit der höchsten Verantwortung innerhalb der Partei und der Republik. [270]
Aber mit dem Machtanstieg der Bürokratie verlor er ständig an Bedeutung. Die Parteisatzungen von 1919, 1922 und 1925 (besonders die Artikel 20 und 21) sahen vor, daß der Kongreß jährlich abgehalten werden sollte [271], und bis zum 14. Kongreß im Jahre 1925 hielt man auch daran fest. Der nächste Kongreß fand zwei Jahre später statt, zwischen diesem und dem 16. Konreß im Jahre 1930 vergingen 2½ Jahre, zwischen dem 16. und dem 17. Kongreß 3½ Jahre. Auf den letzteren wurden neue Satzungen verkündet, nach denen der Kongreß „nicht weniger als einmal in drei Jahren“ zusammentreten sollte (Abschnitt 27). [272] Doch selbst das wurde nicht eingehalten. 5 Jahre vergingen zwischen dem 17. und dem 18. Kongreß (1939), und zwischen dem 18. und dem 19. Kongreß (1952) gab es eine Lücke von über 13 Jahren.
Nach den Parteisatzungen unter Stalin hatte das Zentralkomitee Parteikonferenzen zwischen den Kongressen einzuberufen, und nach den Bestimmungen, die vom 18. Kongreß angenommen wurden, sollten sie „nicht weniger als einmal jährlich“ stattfinden. Konferenzen wurden 1919, 1920, 1921 (zweimal), 1923, 1924, 1925, 1926, 1932, 1934 und zuletzt 1941 abgehalten. Der Kongreß wählt das Zentralkomitee, das führende Organ der Partei. Formal ist das Zentralkomitee dem Parteikongreß Rechenschaft schuldig. Wenn dieser jedoch über 13 Jahre nicht zusammentritt, kann es sich bei dieser Verfügung um kaum mehr als leere Worte handeln.
Formal wählt das Zentralkomitee das Politbüro, und jenes sollte deshalb dem Zentralkomitee verantwortlich sein. Tatsächlich war jedoch unter Stalin das Zentralkomitee dem Politbüro völlig untergeordnet. Wenn das Zentralkomitee wirklich höchste Autorität in der Partei ausgeübt hätte, wäre es kaum möglich gewesen, eine Mehrheit seiner Mitglieder – insgesamt waren es über drei Viertel – aus der Partei auszuschließen und als „Volksfeinde“ zu verfolgen, wie geschehen zwischen dem 17. und 18. Parteitag. Nur 16 der 71 Mitglieder des 1934 gewählten Zentralkomitees erschienen wieder auf der Liste der Zentralkomiteemitglieder, die fünf Jahre später gewählt wurden, und von den 68 Kandidaten für das Zentralkomitee tauchten sogar nur 8 wieder auf. Das Politbüro, das 13 oder 14 Mitglieder hat, wählt das Sekretariat, an dessen Spitze der Generalsekretär steht. 30 Jahre lang hatte Stalin diese Position inne. Die Vorherrschaft der Bürokratie wird dadurch deutlich, daß der Generalsekretär, der ursprünglich nur der Vollstrecker des Willens des Zentralkomitees sein sollte [273], unter Stalins Herrschaft allmächtig und mit größerer Gewalt regierte als irgend ein Zar sich jemals zu träumen gewagt hätte.
Lenin war zum Beispiel niemals Mitglied des Parteisekretariats gewesen. Zu seiner Zeit gehörten die bekanntesten Parteiführer nie dem Parteisekretariat an. So setzte sich das Sekretariat unmittelbar vor Stalins Eintritt im Jahr 1922 aus Molotow, Jaroslawski und Michailow zusammen, die alle drei nicht zur ersten Garnitur der bolschewistischen Führer gehörten. Nur durch die Stärkung der Bürokratie und einer von oben kontrollierten Parteihierarchie wurde die Stellung des Parteisekretärs allmächtig.
Es ist unmöglich, die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Partei seit 1930 genau zu verfolgen. Denn seitdem wurde die Veröffentlichung solcher Informationen eingestellt. (Das offizielle Schweigen in dieser Sache spricht in höchstem Maße für sich selbst!) Trotzdem ist es möglich, einige Anzeichen über die soziale Zusammensetzung der Partei aus dem Ausbildungsniveau ihrer Mitglieder herzuleiten.
Ende der dreißiger Jahre beendete in Rußland nur eines unter zwanzig Kindern eine weiterführende Schule, von der Universität gar nicht zu reden. Von den 1.588.852 Parteimitgliedern im Jahre 1939 besaßen aber 127.000 eine akademische Ausbildung, gegenüber nur 9.000 im Jahre 1934 und 8.396 im Jahre 1927. 335.000 hatten den Abschluß einer weiterführenden Schule, verglichen mit nur 110.000 1934 und 84.111 1927. [274] Auf dem Parteikongreß im Jahre 1924 hatten 6,5% der abstimmungsberechtigten Delegierten eine Universitätsausbildung, auf dem Kongreß von 1930 waren es 7,2%, 1934 etwa 10%, 1939 31,5% und auf der Parteikonferenz von 1941 41,8%. Der Prozentsatz der Delegierten mit dem Abschluß einer weiterführenden Schule war: 1924 17,9%; 1930 15,7%; 1934 etwa 31%;; 1939 22,5% und 1941 29,1% (diejenigen mit einer unvollständigen Hochschulausbildung eingeschlossen). [275] Auf diese Weise – zählt man beide Komponenten zusammen – betrug der Anteil der Delegierten, der der „sowjetischen Intelligentsia“ zugerechnet werden konnte: im Jahr 1924 24,4%; 1930 22,9%; 1939 54%; 1941 70,9%. Auf dem Kongreß von 1934 standen einem Anteil von 41% der Delegierten mit dem Abschluß weiterführender Schulen oder der Universität nur 9,3% Arbeiter aus Industrie und Landwirtschaft gegenüber. Jener Prozentsatz dürfte aber 1939 und 1941 noch viel kleiner gewesen sein.
Was den Komsomol betrifft, so sagte sein Sekretär N.A. Michailow:
Zur gegenwärtigen Zeit haben mehr als die Hälfte der Sekretäre der Provinz-, Territorial- und Zentralkomitees der Unionsrepubliken eine vollständige oder abgebrochene Hochschulausbildung erfahren. Der Rest der Sekretäre hat eine höhere Schulbildung. Von den Sekretären der Distriktkomitees des Komsomol hatten 67% eine höhere oder Hochschulbildung.[276]
Außerdem befand sich unter den Arbeiterdelegierten der Parteikongresse eine beträchtliche Anzahl „Stachanows“. Als während des Krieges die Anzahl der Parteimitglieder von 2,5 Millionen auf 6 Millionen stieg, besaßen 47% der angenommenen Kandidaten eine Gymnasial- oder Universitätsausbildung. Am 1. Januar 1947 hatten von 6.000.000 Mitgliedern und Kandidaten 400.000 eine Universitätsausbildung, 1.300.000 einen Kurs an einer höheren Schule abgeschlossen und 1.500.000 eine unvollständige Ausbildung an einer höheren Schule.
Regionale Informationen über den sozialen Status der Parteineueintritte zeigen denselben Trend an. So befanden sich zum Beispiel 1941 und in den ersten beiden Monaten von 1942 in der Provinz Tscheljabinsk unter den Kandidaten 600 Arbeiter, 289 Kolchosmitglieder und 1.035 „Kopfarbeiter“. Unter denen, die während dieser Zeit ihre Probezeit bestanden und Vollmitglieder wurden, waren 909 Arbeiter, 399 Kolchosmitglieder und 3.515 „Kopfarbeiter“. Auf diese Weise gehörten 70% der neuen Kandidaten und Mitglieder der letzten Kategorie an.
1923 waren nur 29% der Fabrikdirektoren Parteimitglieder. Mit dem Teilsieg der Stalin-Fraktion im Jahre 1925 waren bereits 73,7% der Aufsichtsratsmitglieder der Trusts, 81,5% der Aufsichtsräte der Industriesyndikate und 90,5% der Direktoren großer Unternehmen Parteimitglieder. Für 1927 betrugen die entsprechenden Zahlen: 75,1%, 82,9% und 96,9%. [277] 1936 gehörten zwischen 97,5% und 99,1% dieses Personenkreises der Partei an, die Zahl für die Leiter der Trusts betrug 100%. [278]
Ähnliches gilt für die Kommandeure der Roten Armee, von denen im Jahr 1920 nur 10,5% der Partei angehörten. Diese Zahl stieg auf 30,6% im Jahr 1924, auf 51,1% im Jahr 1929 [279] und erreichte 1933 71,8%, wenn man die Mitglieder des Komsomol miteinbezieht. [280]
Wenn wir berücksichtigen, daß im Januar 1937 die Zahl der Personen mit Managerfunktion 1.751.000 betrug [281] und davon neun Zehntel der Partei angehörten, wird offensichtlich, daß die Zahl der Parteimitglieder außerhalb dieser Klasse nur gering gewesen sein konnte, da die Gesamtzahl der Mitglieder und Kandidaten nur 2,5 Millionen umfaßte.
Diese Vermutung wird durch Beispiele wie das der Maschinenbaufabrik Presnja in Moskau erhärtet. Von den 1.300 Beschäftigten dieser Fabrik gehörten 119 der Partei an, darunter waren mehr als 100 gehaltsempfangende Angestellte und nur etwa ein Dutzend Arbeiter. [282] Dieses Verhältnis war zweifellos in den meisten anderen Fabriken ähnlich.
Parallel mit der Veränderung der sozialen Zusammensetzung in der Parteimitgliedschaft erfolgte die Beseitigung der alten Parteigarde. Von den 1.588.852 Mitgliedern am 1. März 1939 gehörten ihr nur 1,3% seit der Revolution von 1917 an und 8,3% seit 1920, dem Ende des Bürgerkrieges. [283] Am Ende des 18. Parteikongresses wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß 70% der Parteimitglieder erst seit 1929 beigetreten waren. Am Vorabend der Februarrevolution hatte die Partei 23.600 Mitglieder, im August 1917 200.000 Mitglieder und im März 1921 730.000. [284] Es ist deshalb einleuchtend, daß nur etwa ein Vierzehntel der Mitglieder von 1917 und etwa ein Sechstel von 1920 im Jahre 1939 der Partei noch angehörten. Dieser auffällige Schwund der alten Parteigarde kann nicht mit natürlichen Ursachen erklärt werden, da die große Mehrheit der Parteimitglieder von 1917 und 1920 noch sehr jung war. Sogar 1927 waren noch 58,8% der Mitglieder unter 29 Jahren alt, 32% zwischen 30 und 39, 11,4% zwischen 40 und 49, und nur 2,8% waren älter als 50. [285] Einige wenige zusätzliche Tatsachen werden ausreichen, um zu zeigen, wie weit Stalin die physische Liquidierung der alten Führer der Bolschewistischen Partei vorantrieb.
Das erste Politbüro vom 10. Oktober 1917 (es trug noch nicht diesen Namen) bestand aus Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Sokolnikow, Bubnow und Stalin. [286] 1918 kam Bucharin dazu, 1920 Preobraschenskij und Serebrjakow, die aber ein Jahr später durch Sinowjew und Tomski ersetzt wurden. 1923 nahm Rykow Bucharins Platz ein. [287] Während des Bürgerkrieges bestand das Büro aus Lenin, Trotzki, Kamenew, Bucharin und Stalin. Von all diesen führenden Persönlichkeiten starben nur zwei, Lenin und Stalin, eines natürlichen Todes. Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow und Serebrjakow wurden hingerichtet, jeder nach einem Schauprozeß; Trotzki wurde durch einen GPU-Agenten in Mexiko ermordet, Tomski beging am Vorabend seiner Verhaftung Selbstmord und wurde nach seinem Tod als „Volksfeind“ und „Faschist“ verleumdet; Preobraschenskij und Bubnow verschwanden während der „Großen Säuberung“. In dem Dokument, das als sein „Testament“ bekannt wurde, hob Lenin sechs Personen besonders hervor. Unter diesen sechs wurden vier auf Stalins Befehl nach einem Prozeß erschossen. Es waren Pjatakow, Bucharin (von denen Lenin schrieb: „... nach meiner Meinung die fähigsten Kräfte unter den jüngeren“), Sinowjew und Kamenew. Trotzki wurde ermordet. Der einzige der sechs, über den Lenin ein vernichtendes Urteil abgegeben hatte, war der Henker – der anderen fünf!
Von den Mitgliedern der ersten Bolschewistischen Regierung (der Rat der Volkskommissare vom Oktober 1917) überlebte nur einer die „Säuberungen“ – Stalin. Vier Mitglieder starben eines natürlichen Todes: Lenin, Nogin, Skwortsow -Stepanow und Lunatscharski. Die anderen zehn – Trotzki, Rykow, Schljapnikow, Krylenko, Dybenko, Antonow-Owsenko, Lonow-Oppokow, Miljutin, Glebow-Awilow und Teodorowitsch – wurden auf Stalins Befehl hingerichtet oder starben in seinen Gefängnissen. Die Leitungen der verschiedenen Kommissariate wurden wiederholt „gesäubert“. So wurden zum Beispiel die Kommissare für Arbeit einer nach dem anderen abgesetzt und danach hingerichtet oder inhaftiert. Der erste, der dieses Schicksal erlitt, war Schljapnikow, es folgten W. Smirnow, später Michail Uchlanow und schließlich W.W. Schmidt. Unter denen, die als „faschistische Hunde“ „gesäubert“ wurden, hatte Trotzki innerhalb der Partei während und nach dem Bürgerkrieg ein so großes Ansehen genossen, daß die Partei als „Partei Lenins und Trotzkis“ bekannt wurde, für die Regierung galt ähnliches.
Rykow trat nach Lenins Tod als Vorsitzender des Volkskommissariatsrates (etwa dem Premierminister entsprechend) an dessen Stelle, Sinowjew war Vorsitzender des Präsidiums des Exekutivkomitees (oder Präsident) der Kommunistischen Internationale, Tomski der Präsident des Gewerkschaftskongresses.
Andere „Säuberungen“ schlossen die Armeechefs ein. Der stellvertretende Kommissar für Verteidigung, M.N. Tuchaschewski, wurde hingerichtet, und ein anderer, Jan Garmanik, beging angesichts seiner Verhaftung Selbstmord (nach offizieller Erklärung), ein weiterer, Marschall Jegorow, „verschwand“ etwas später, ebenso der Marinekommissar Smirnow. Von den 15 Armeekommandeuren, die im Jahre 1935 ernannt wurden, konnte sich nur einer seiner hohen Position noch nach den „Säuberungen“ erfreuen. Einer starb eines natürlichen Todes, aber alle anderen wurden als „Verräter“ gebrandmarkt und „gesäubert“. [288] Nahezu alle Botschafter der UdSSR erlagen den „Säuberungen“, und ebenso zwei Chefs der politischen Polizei, Jagoda, der selbst die „Verschwörung“ von Sinowjew und Kamenew vorbereitet hatte, sowie Jeschow, der die anderen späteren Prozesse vorbereitet hatte, bei denen sich Jagoda in einem selbst als Angeklagter wiederfand.
Wenn alle, die von Stalin liquidiert wurden, wirklich „Faschisten“ und „Verräter“ gewesen wären, ist es ein vollständiges Geheimnis, wie sie eigentlich, da sie während der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges noch der Führungs­positionen in Partei und Staat innehielten, dazu kamen, eine sozialistische Revolution anzuführen. So zeigt sich allein durch das Ausmaß der „Säuberungen“ ihre verlogene Natur.
Um der Tragödie der „Säuberungen“ noch einen bitteren Geschmack des Hohns beizufügen, gab Stalin die Verantwortung für ihren ungeheuren Umfang ihren ersten Opfern, den Trotzkisten, die, wie er behauptete, dadurch „künstlich Unzufriedenheit und Verbitterung säen“ wollten. Auf diese Weise „können die trotzkistischen Betrüger ... die verbitterten Genossen kunstvoll ködern und geschickt in den Sumpf des trotzkistischen Wracks ziehen.“ [289]
Schdanow rundete bei einer Rede auf dem 18. Parteikongreß dieses phantastische Bildnis mit der Behauptung ab, durch die Ausdehnung der „Säuberung“ hätten die Trotzkisten darauf abgezielt, „den Parteiapparat zu zerstören“. Mit derselben Logik hätte die Inquisition ihre Opfer der Verantwortung für die Ketzergerichte wegen anklagen können! Der folgende Vorfall, der von Schdanow in derselben Rede zitiert wurde, zeigt das große Wirkungsfeld der „Säuberungen“. Er sagte:
Bestimmte Parteimitglieder haben Zuflucht bei medizinischen Institutionen gesucht, um sich dagegen [„gesäubert“ zu werden] zu sichern. Hier ist ein ärztliches Zeugnis, das einem dieser Bürger erteilt wurde: „Nach seinem Gesundheits- und Geisteszustand ist Genosse ... nicht imstande, sich als Werkzeug eines Klassenfeindes mißbrauchen zu lassen. Distriktspsychiater, Oktoberdistrikt, Stadt Kiew“ (Unterschrift).[290]
Am 10. Juli 1934 wurden dem NKWD durch die Einführung von Sonderkommissionen außergewöhnliche Machtbefugnisse erteilt:
Im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR wird eine Sonderkommission gebildet, der durch administrative Anweisung in Einklang mit den dafür getroffenen Verordnungen das Recht zukommt, Urteile über Verbannung, Exil, Freiheitsentzug in Straferziehungslagern bis zu einer Dauer von fünf Jahren und über Deportationen außerhalb der Grenzen der UdSSR zu verschärfen. [291]
Die Sonderkommissionen waren in der Tat außergewöhnlich. Während die Verfassung der UdSSR jeder angeklagten Person das Recht zur Verteidigung garantiert (Artikel 111), wurde nun verordnet, daß Fälle, die unter die Artikel 58 (7-11) des Strafgesetzes der RSFRS fallen, ohne Beteiligung der Vertreter von Anklage oder Verteidigung zu verhandeln waren. [292] [293]
Den Angeklagten wurde kaum Zeit gegeben, sich für ihre eigene Verteidigung vorzubereiten: Die Punkte der Anklage wurden in Fällen, die unter die Artikel 58/7, 58/8, 58/9 und 58/11 fielen, dem Angeklagten einen Tag vor der Verhandlung ausgehändigt. Das Berufungsrecht wurde für diese Fälle abgeschafft. Denen, die wegen der Artikel 58/8 und 58/11 verurteilt wurden, war es verboten, ein Gnadengesuch zu stellen. Ein Todesurteil in bezug auf Artikel 58/8 und 58/11 wurde sofort ausgeführt.
Die kollektive Familienhaftung wurde eingeführt. Auf diese Weise wurde in einem Erlaß vom 8. Juni 1934, der in den Artikel 58/1c des Strafgesetzes aufgenommen wurde, für die Anklage von Familien von Angehörigen der Streitkräfte gesorgt:
Im Falle von Feigheit eines Angehörigen der Streitkräfte oder seiner Flucht ins Ausland werden die erwachsenen Familienangehörigen und die, die in irgendeiner Weise in den versuchten oder begangenen Verrat verwickelt sind oder davon wissen, ohne es den Vorgesetzten zu melden, mit einer Freiheitsstrafe zwischen 5 und 10 Jahren und der Beschlagnahme ihres Eigentums bestraft. Die restlichen Familienangehörigen des Verräters, soweit sie erwachsen sind, mit ihm zur Zeit des Verbrechens zusammenlebten oder seine gesetzlichen Angehörigen waren, verwirken ihr Stimmrecht und werden für fünf Jahre in entfernte Regionen Sibiriens verbannt. [294]
Um das Terrornetz so weit wie möglich auszubreiten, wurde das Prinzip der Analogie – in Gesetzbüchern anderer Länder völlig unbekannt – eingeführt:
Wenn eine gesellschaftlich gefährliche Handlung im gegenwärtigen Gesetzbuch nicht vorgesehen ist, werden die Ursachen und Grenzen der Verantwortung für solche Handlungen durch analoge Fälle im Gesetzbuch bestimmt, die sich mit Verstößen ähnlichen Typs befassen. [295]
Sogar Kinder geraten in dieses Netz. Bei den Zivilbehörden werden Personen unter 14 Jahren als Kinder angesehen. So erklärt zum Beispiel das Gesetzbuch der RSFSR über Heirat, Familie und Vormundschaft: „Ein Vormund wird für Minderjährige unter 14 Jahren eingesetzt ...“ [296] Und weiter: „Sorgeberechtigte werden für Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren eingesetzt ...“ [297]
Aber was das Strafgesetz anbelangt, werden sogar Zwölfjährige unter Stalin nicht mehr als Kinder angesehen. So wurde am 7. April 1935 ein Gesetz verkündet, durch das die Jugendgerichte abgeschafft wurden.
Mit dem Ziel der schnellsten Beseitigung der Kriminalität unter Minderjährigen“, so wurde gesagt, „beschließen das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare: 1. Jugendliche vom 12. Lebensjahr an, die bei Diebstahl, Gewaltakten, Körperverletzung, Verstümmelung, Toschlag oder versuchten Totschlags verhaftet werden, kommen vor die Strafgerichte und werden mit allen Mitteln des Strafgesetzes bestraft.[298]
(Anscheinend blieb die Todesstrafe für Jugendliche unter 18 Jahren verboten, da der Artikel 22 des Strafgesetzes, der sich mit diesem Punkt befaßt, nicht gestrichen wurde.) Dieses Gesetz wurde bald wirksam, denn bereits am 29. Mai 1935 gab die Iswestija bekannt, daß ein Sondergericht in etwas mehr als zwei Wochen 60 „junge Banditen“ mit vielen Jahren Freiheitsstrafen bedacht hatte. [299] In einigen Fällen wurde sogar die Todesstrafe verhängt. So verurteilte nur zwei Wochen nach der Verkündigung dieses Gesetzes ein Moskauer Gericht einen Jugendlichen zum Tode, der einen Raubüberfall in einem Zug verübt hatte. [300]
Die offizielle Entschuldigung für solche harten Maßnahmen, nämlich die Verdoppelung der Anzahl von Straftaten Jugendlicher in Moskau zwischen 1931 und 1934 [301], ist keine Rechtfertigung, sondern straft die Legenden vom „Sieg des Sozialismus“ und vom reichen und glücklichen Leben des Volkes Lügen.
1940 wurde das Gesetz von 1935 ausgedehnt, um damit auch Kinder im Alter von 12 Jahren und darüber zu erfassen, die Handlungen zur Gefährdung des Eisenbahnverkehrs begingen, wie das Lockern der Schienen, das Legen von Gegenständen auf die Schienen usw. Der Erlaß vom 31. Mai 1941 besagt ausdrücklich, daß das Gesetz von 1935 nicht nur für vorsätzliche Straftaten gilt, sondern ebenso für fahrlässige Vergehen. [302] Am 15. Juni 1943 ordnete die Regierung die Errichtung von speziellen Besserungskolonien unter der Leitung des NKWD für Haftstrafen ohne juristische Prozedur von Kindern im Alter von 11-16 Jahren an, die umhervagabundierten, Diebstähle oder andere kleinere Straftaten begingen. [303] Es war augenscheinlich, daß sich auch Kinder unter den Erwachsenen in den Sklavenlagern befanden. Dallin schrieb, daß „... sich im Lager Zakamensk in Ostsibirien eine beträchtliche Anzahl von Kindern aus der Region Moskau unter Internierten befinden, Jungen und Mädchen, die wegen Straftaten verurteilt wurden. Sie arbeiten in Bergwerken und nahegelegenen Industriebetrieben.“ [304]
Man kann sich einen Begriff vom schrecklichen Umfang des Terrors machen, insbesondere auf seinem Höhepunkt während der „Säuberungen“, wenn man die folgende kleine Auswahl aus NKWD-Archiven liest, die sich mit Komsomol-Mitgliedern in der Provinz Smolensk befaßt:
Der Fall Pochomowa - sie wurde (aus dem Komsomol) ausgeschlossen, da sie eine Broschüre zerriß, die den Bericht des Genossen Stalin vom Plenum des Zentralkomitees im Februar und März enthielt. Die Nachforschungen ergaben, daß die Broschüre nicht böswillig zerrissen wurde, sondern in einem Streit mit einem Komsomolmitglied, der versucht hatte, sie ihr wegzunehmen.
Der Fall O.M. Kowalewa – sie wurde ausgeschlossen, da sie angeblich aus einer Kulakenfamilie stammte und ihr Vater unter Arrest des NKWD stand. Nachforschungen ergaben, daß der Haushalt ihres Vaters nicht „entkulakisiert“ war.
Der Fall I.T. Soldatenkow – er wurde ausgeschlossen, da er trotzkistische Ansichten vertrat. Nachforschungen ergaben, daß er deswegen beschuldigt wurde, in der Roten Armee bei einer politischen Schulung dem Leiter des Zirkels die Frage gestellt zu haben: „An welcher Front befand sich Genosse Stalin 1918 zuerst, an der nördlichen oder an der östlichen?“ Weiterhin, weil er beim Vorlesen von Zeitungsberichten von seinen Soldaten gefragt worden war: „Warum haben Volksfeinde immer Führungspositionen eingenommen?“ und er darauf keine Antwort geben konnte. Es wurde beschlossen, daß er ohne Grund ausgeschlossen wurde.
Der Fall A.W. Gordetskaja – sie wurde ausgeschlossen, da sie verheimlichte, daß ihr Vater zaristischer Offizier war und ihre Mutter aus dem Adel stammte. Nachforschungen ergaben, daß ihr Vater einfacher Soldat in der Zarenarmee war und ihre Mutter zwar adliger Herkunft war, aber als Kinderschwester in einem Krankenhaus gearbeitet hatte. Nach dem Tode ihres ersten Mannes heiratete sie einen Schlosser.
Der Fall Ja.K. Sinelnikow – er wurde ausgeschlossen, da er eine Rezension über ein Buch von Woronowski schrieb, der nachträglich als Volksfeind entlarvt wurde.
Der Fall S.B. Minz - er wurde ausgeschlossen wegen der Verbindung zu einem Volksfeind, der mit ihm auf derselben Schule war und den er gastfreundlich in seinem Hause aufgenommen und zum Trinken eingeladen hatte. Nachforschungen ergaben, daß es keinerlei Verbindung gab und sich der Umtrunk im Rahmen eines allgemeinen Schulfestes abgespielt hatte.
Der Fall A.I. Subow – er wurde ausgeschlossen, da er verheimlichte, daß seine Großmutter aus einer Landbesitzerfamilie stammte. Nachforschungen ergaben, daß die Großmutter, die aus einer Landbesitzerfamilie stammte, einen Tagelöhner geheiratet hatte, der für ihren Vater gearbeitet und viele Jahre als Bauer gelebt hatte. [305]
Mißbrauch und Bruch des Gesetzes – das an sich schon schlimm genug war – nahmen extreme Formen an. Dies war die Periode extremen Terrors, der in der „Jeschowchtschina“ gipfelte.
Marx hatte gesagt, daß mit der Errichtung des Sozialismus und der Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen der Staat aufhören würde, zu bestehen. Das Fehlen von Konflikten zwischen Klassen und gesellschaftlichen Gruppen würde einen ständigen Zwangsapparat in Form von Armee, Polizei und Gefängnissen überflüssig machen. Das Gesetz würde ebenso aufhören zu bestehen, da „das Gesetz ohne einen Apparat nicht imstande ist, die Überwachung des Gesetzes durchzusetzen“. [306]
Im Sozialismus waren alle Konflikte solche zwischen Individuen. Für die Unterdrückung solcher individuellen Fehlverhalten, soweit sie nach der Abschaffung der Armut – dem Hauptgrund für „Verbrechen“ in der heutigen Gesellschaft – noch fortbestehen, sind keine besonderen Zwangsorganisationen mehr notwendig. Der „Allgemeine Wille“, um Rousseaus Begriff zu gebrauchen, befaßt sich mit solchen Problemen und würde sie verhindern. Wie Stalin einmal, schon lange zurück, im Jahre 1927 sagte:
Die sozialistische Gesellschaft [ist eine] Gesellschaft ohne Klassen, eine Gesellschaft ohne Staat. [307]
Diese Ideen fanden ihren Ausdruck in der Verfassung der RSFSR vom 10. Juli 1918. Es steht dort:
Das grundlegende Ziel der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, einer Verfassung, die für die Zwecke einer Übergangsperiode entworfen wurde, ist in Gestalt einer starken allrussischen Autorität die Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats zusammen mit den armen Bauern zur Sicherung der völligen Unterdrückung der Bourgeoisie, zur Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zur Verwirklichung des Sozialismus, unter dem weder Klassenunterschiede noch staatliche Macht länger bestehen werden. [308]
Nach Stalins Sieg änderte sich jedoch diese Linie vollständig. Stalins Fürsprecher hörten auf, vom „Absterben des Staates“ zu sprechen, sondern wandten sich in Wirklichkeit dem anderen Extrem zu, indem sie behaupteten, der „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ und sogar des „Kommunismus in einem Lande“ mit der Stärkung des Staates einherginge.
So schrieb P.F. Judin im Jahr 1948:
Der Sowjetstaat ist die Hauptkraft, das wichtigste Instrument für den Aufbau des Sozialismus und die Verwirklichung des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft. Darum ist die Aufgabe, den Sowjetstaat zu stärken, auf alle Fälle die Hauptaufgabe der gegenwärtigen wie der zukünftigen Aktivitäten beim Aufbau der Gesellschaft. [309]
Und:
Die Konsolidierung des Sowjetstaates durch jedes Mittel war die notwendige Bedingung für die Errichtung des Sozialismus und jetzt des Kommunismus; das ist gleichzeitig eines der wichtigsten Gesetze für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft. [310]
Ein anderer Theoretiker sagte:
... Der Kommunismus setzt die Existenz eines perfekten Apparates zur Leitung der Wirtschaft und der Kultur voraus. Der Apparat entwickelt sich ständig und findet seine Form in den Bedingungen des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus ... Darum wird der Aufstieg des Kommunismus in Einklang stehen mit dem Perfektionsgrad unseres staatlichen und ökonomischen Apparates. [311]
Die Stärkung des russischen Staates, sein totalitäres Regime, kann nur das Ergebnis tiefgreifender Klassengegensätze, nicht aber der Sieg des Sozialismus sein.
Nächstes Kapitel:
Das Wirtschaftssystem eines Arbeiterstaates
Verzeichnis Kapitel 2
229. K. Marx, F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S.66.
230. Engels in Neue Zeit, Bd.XX, No.1, S.8. Zitiert nach MEW, Bd.22, S.235.
231.F. Engels: Einleitung zu Marx’ Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd.17.
232. Ebda., S.339.
233. Ebda., S.624.
234. F. Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW, Bd.21, S.166.
235. Lenin: Staat und Revolution, Werke, Bd.25, S.401.
236. L. Trotzki: Die verratene Revolution, Frankfurt/M. 1968, S.214.
237. Siehe z.B. den Artikel 12 des Programms der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903. A.U.C.P. in Resol., vierte Auflage, Bd.1, S.22.
238. Ges. Gesetze der R.S.F.S.R., 1917, No.9, Art.138.
239. Ebda., Art.139.
240. Ya.L. Berman (Hrsg.): The All-Union Communist Party (Bolsheviks) and Military Affairs, in Resolutions of Congresses and Conferences of the A.U.C.P., Russisch, Moskau 1928, zweite Auflage, S.71-73.
241. L. Trotzki: How the Revolution Armed Itself, Russisch, Moskau 1924, Bd.II, Buch 1, S.118.
242. Ebda., Bd.II, Buch 2, S.16. Trotzki äußert die gleiche Ansicht in dem von ihm veröffentlichten Artikel vom 16.12.1919 (Ebda., S.33-36).
243. Ya.L. Berman, a.a.O., S.84-85.
244. I. Smilga: Grundlegende Probleme des Aufbaus der Roten Armee, Russisch, Moskau 1921, S.16-17. Die gleiche Idee wird von M.N. Tuchatschewski in seinem Artikel Die Rote Armee und die Miliz in seinem Buch Der Krieg der Klassen, Artikel 1919-1920, Moskau 1923, S.60-77, entwickelt. Der einzige Unterschied zwischen Smilgas Argumentation und der Tuchatschewskis liegt darin, daß letzterer die Unvereinbarkeit des Milizsystems mit dem „militärischen Auftrag Sowjetrußlands zur Ausbreitung der sozialistischen Revolution in der ganzen Welt“ hervorhebt.
245. Zitiert nach Die Sowjetische Militärenzyklopädie, Russisch, Moskau 1932, Bd.1, Absatz 619.
246.D.F. White: The Growth of the Red Army, Princeton 1944, S.63-64.
247.L. Trotzki: How the Revolution Armed Itself, a.a.O., Bd.II, Buch 1, S.84-85. Zitiert von White, a.a.O., S.121.
248. White, a.a.O., S.252.
249. A.a.O., S.223.
250.E. Wollenberg: The Red Army, London 1940, S.182-183.
251. Ebda., S.188.
252.White, a.a.O., S.303.
253. Ebda., S.304.
254. Ebda., S.305.
255. K. Woroschilow in The Land of Socialism Today and Tomorrow, Moskau 1939.
256. A. Bergson: National Income and Product of the U.S.S.R., Appendix: Sources and Methode, New York 1950, hektographiert, S.8.
257. New York Times, 23. August 1943.
258. Evtikhiev und Vlassov, a.a.O., S.166-167.
259.Ges. Gesetze der UdSSR, 1935, No.57, Art.468-469.
260. Prawda, 8. April 1917.
261. Bubnow, a.a.O., S.114.
262. A.U.C.P. in Resol., vierte Auflage, Bd.1, S.258.
263. Lenin: Werke, Russisch, dritte Auflage, Bd.XXVI, S.232.
264. Ebda., Bd.XXI, S.526.
265. John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Hamburg 1967, S.233-234.
266. Ebda., S.236.
267. L. Trotsky: Stalin, London 1947, S.341-342.
268. Bubnow, a.a.O., S.511
269. Ebda., S.512.
270. Lenin: Werke, Russisch, zweite Auflage, Band VI, S.232.
271. A.U.C.P. in Resol., vierte Auflage, Bd.1, S.372, 543, Bd.II, S.212.
272. Ebda., sechste Auflage, Bd.II, S.592.
273.Lenin: Werke, Russisch, Bd.XXX, S.414.
274. Soziale und nationale Zusammensetzung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Russisch, Moskau-Leningrad 1928, S.41.
275. Towster, a.a.O., S.328.
276. Prawda, 22. April 1942.
277. Bubnow: a.a.O., S.626.
278. U.S.S.R. The Land of Socialism, Russisch, Moskau 1936, S.94.
279. Bubnow, a.a.O., S.624.
280. K. Woroschilow, Artikel und Reden, 1925-1936, Russisch, Moskau 1939, S.624.
281. The Land of Socialism Today and Tomorrow, a.a.O., S.148.
282. Prawda, 23. Juli 1940.
283. Malenkows Bericht, Prawda, 14.3.1939.
284. Bubnow, a.a.O., S.612.
285. Ebda., S.620.
286. A.U.C.P. in Resol., vierte Auflage, Bd.1, S.315.
287. Trotsky: Stalin, a.a.O., S.387.
288. White, a.a.O., S.387.
289. Bolschewik, No.5, März 1937.
290. The Land of Socialism Today and Tomorrow, a.a.O., S.195-196.
291. Iswestija, 11. Juli 1934.
292. Das sind alle Artikel des Strafgesetzbuches, die sich mit Verbrechen im Dienste der Konterrevolution befassen: 58/7: wirtschaftliche Konterrevolution; 58/8: Begehung von terroristischen Handlungen; 58/9: Sabotage; 58/11: jede Form der organisierten Aktivität, die darauf abzielt, Verbrechen, die unter die Gattung konterrevolutionärer Straftaten fallen, durch Beteiligung oder Vorbereitung in Verbindung mit konterrevolutionären Organisationen zu begehen.
293. Iswestija, 5. Dezember 1934.
294. Das Strafgesetzbuch der R.S.F.S.R., Russisch, Moskau 1947, S.26.
295. Ebda., S.8.
296. Ehe-, Familien- und Vormundschaftsrecht der R.S.F.S.R., Russisch, Moskau 1948, S.19.
297. Ebda., S.74.
298. Ges. Gesetze der UdSSR, Russisch, 1935, No.19, Art.155.
299. Zit. nach Yvon, a.a.O., S.243.
300. Vecherniaia Moskva, 19. April 1935, in N.S. Timascheff: The Great Retreat, New York 1946, S.325.
301. Vgl. Svetskaia Iustitsiia, 1935, No.10. Zit. nach Timascheff, a.a.O., S.321.
302. Vedomosti Verkhovnogo Soveta SSSR, 1941, No.25.
303. I.T. Goliakov (Hrsg.), Strafrecht, Russisch, 3. Auflage, 1943, S.137. Zit. nach Gsovski, a.a.O., Bd.1, S.122.
304. Dallin und Nicolaevski, a.a.O., S.84.
305. M. Fainsod: Smolensk under Soviet Rule, London 1959, S.426 427.
306. Lenin: Werke, Russisch, Bd.25, S.442.
307. Stalin: Werke, Russisch, Bd.X, S.95.
308. Verfassung, Grundgesetz der R.S.F.S.R., Moskau 1919, Art. 4-5.
309. P.F. Yudin: Die bedeutsamste Wachstumsquelle der Sowjetgesellschaft, Über die sozialistische Sowjetgesellschaft, Russisch, Moskau 1948, S.22.
310. Ebda.
311. Ts.A. Stepanian: Bedingungen und Wege des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, Über die sozialistische Sowjetgesellschaft, a.a.O., S.526.
Zuletzt aktualisiert am 26.9.2002