Otto Bauer

 

Das Weltbild des Kapitalismus


Die Weltanschauung des organisierten Kapitalismus

Die Niederlage der Revolution von 1848 war die Niederlage der von der idealistischen Philosophie erzogenen Generation des deutschen Bürgertums. Hatten die Bajonette über die Idee gesiegt, so wandte sich das Bürgertum enttäuscht von der idealistischen Philosophie ab. Der wirtschaftlichen Praxis, die die Hochkonjunktur der fünfziger Jahre förderte, zugewendet, konzentrierte es die Aufmerksamkeit seiner Denker auf die Naturwissenschaft. Der im Gefolge der Revolution endlich errungenen freien Konkurrenz sich freuend, projizierte es die freie Konkurrenz ins Weltall. Der naturwissenschaftliche Materialismus verknüpfte sich mit dem Liberalismus.

Aber der deutsche Liberalismus wurde auf den Schlachtfeldern von 1866 und 1871 geschlagen. Unter dem mächtigen Eindruck der Siege Bismarcks warf sich das deutsche Bürgertum dem junkerlich-militärischen Obrigkeitsstaat in die Arme. Es gab seit 1871 den politischen, es gab seit Bismarcks Wendung von 1878 den wirtschaftlichen Liberalismus preis. Schutzzölle, Mittelstandspolitik, Agrarreform, Arbeiterversicherung – das waren seit 1878 die Parolen. Der Glaube an die freie Konkurrenz war zerstört. Die historische Schule und der Kathedersozialismus überwanden das Manchestertum. Nationalökonomie und Geschichtschreibung erzogen die neue Generation zum Glauben an die schöpferische Macht des Staates. Mit dem Liberalismus begann auch der Materialismus zu wanken. Der Bourgeois, der seinen Frieden mit dem Staat schloß, mußte ihn auch mit der Staatskirche schließen. Er schloß ihn desto lieber, da sich die geistige Macht der Kirche als stärkster Damm gegen die aufsteigende Arbeiterbewegung erwies. Aber nicht nur aus der kapitalistischen, auch aus der antikapitalistischen Sphäre entstand dem Materialismus neue Gegnerschaft. Je wirksamer der Kathedersozialismus als Repräsentant des dem Manchestertum feindlichen Obrigkeitsstaates, der in der Zeit der Agrarkrise und der schnell fortschreitenden Bodenverschuldung antikapitalistisch gestimmten Landwirtschaft, des durch den Siegeszug des Großbetriebs bedrohten Kleinbürgertums dem kapitalistischen Liberalismus entgegentrat, desto stärker erschütterte er auch das Weltbild des Liberalismus. Die Zeit rang um eine neue Weltanschauung, die den Materialismus überwinden sollte. Drei Jahre nach Bismarcks Abwendung vom wirtschaftlichen Liberalismus, im Jahre 1881, zeigte die Jahrhundertfeier der Kritik der reinen Vernunft das Erstarken des Neukantianismus, der dieses Bedürfnis zu befriedigen suchte.

Im Rahmen des von Bismarck geschaffenen Schutzzollsystems entwickelte sich ein neuer, ein organisierter Kapitalismus, der den älteren individualistischen Kapitalismus überwand. Kartelle, landwirtschaftliche Genossenschaften und Gewerkschaften organisieren den Markt. Nicht mehr freie Konkurrenz, sondern Organisation ist die Parole des Zeitalters. Die staatliche Gesetzgebung und Verwaltung reguliert immer straffer das wirtschaftliche und soziale Leben; nicht mehr das freie Spiel der Kräfte, sondern unmittelbare Benützung der politischen Macht im Innern und nach außen zu wirtschaftlichen Zwecken ist der Glaube der Zeit. In dem Maße, als sich mit dem Erstarken des Finanzkapitals, mit der Entwicklung des Kartellwesens, mit der Politik des Imperialismus der organisierte, der kollektivistische Kapitalismus entwickelt, verliert der alte bürgerliche Individualismus an Kraft. Der Bürger fühlt sich nun vor allem als Glied der Organisation und als Bürger des Staates; nicht mehr individuelle Freiheit, sondern Staatstreue und Disziplin in der Organisation sind ihm nun die höchsten Werte. Mit dieser Wandlung seiner gesellschaftlichen Auffassungen mußte sich auch sein Naturbild verändern.

Zunächst verändert sich seine ganze Vorstellung von der Aufgabe der Naturwissenschaft. Solange das Bürgertum noch im Kampfe gegen Feudalismus und Absolutismus stand, kämpfte es um eine Weltanschauung, die die Ideenwelt der feudalen Epoche überwinden sollte. Alle Großtaten der Naturforschung von Kopernikus bis Darwin mußten ihm Waffen gegen die Ideen der Vergangenheit liefern. Das ist nun anders geworden. Die Bourgeoisie, zur herrschenden Klasse geworden, sucht in der Naturwissenschaft nicht Befriedigung von Weltanschauungsbedürfnissen, sondern Erkenntnisse, die unmittelbar technisch verwertbar sein, ihre Produktionsmethoden vervollkommnen sollen. So lehrt uns denn der skeptische Positivismus eines Mach, Poincaré, James die Naturwissenschaft in neuem Lichte sehen: unser Wissen ist ein Werkzeug im Daseinskampf, nur Mittel für praktische Zwecke; es kann nicht das Wesen der Dinge erforschen, sondern nur Erfahrungen zu praktischen Zwecken sammeln und ordnen. Die Hypothesen, aus denen die Naturwissenschaft ihre experimentell überprüfbaren Naturgesetze deduziert, – den Denkern des älteren Bürgertums waren sie die Befriedigung ihrer Weltanschauungsinteressen, Bausteine zu einem Weltbild, das sie dem Weltbild der feudalen Epoche kämpf end entgegenstellten; dem Positivismus unserer Zeit sind sie an sich unwichtig, bloß als Hilfsmittel zur Ordnung, zur rechnerischen Verknüpfung der Erfahrungstatsachen verwendbar. Die Tat des Kopernikus war den Alten eine revolutionäre Tat gegen das Gedankensystem der herrschenden Kirchengewalten; dem Relativismus unserer Zeit ist es eine bloße Vertauschung der Koordinatensysteme, das Koordinatensystem des Kopernikus dem ptolemäischen nur darum vorzuziehen, weil es eine bequemere Rechnung ermöglicht.

Mit dieser Umwälzung in der Auffassung der Naturwissenschaft als eines Ganzen hat sich zunächst die Auffassung der Naturgesetze verändert. Als die unbeschränkte Königsgewalt der Urheber alles Rechtes geworden war, betrachtete der Deismus seinen Gott als den Gesetzgeber der Natur. Ab in der Republik das den Gesetzen unterworfene Volk zum Gesetzgeber wurde, wurde dem Pantheismus die den Naturgesetzen unterworfene Welt mit dem göttlichen Gesetzgeber identisch. Als das Bürgertum die unveränderliche moralische Natur des Menschen als Quelle alles Rechtes proklamierte, suchte es im unveränderlichen Erkenntnisvermögen des Menschen die Quelle der Naturgesetze. Als die historische Rechtsschule das Recht als Ausfluß des sich organisch entwickelnden Volksgeistes betrachtete, wurden auch die Naturgesetze zu Entwicklungsstadien des sich dialektisch bewegenden Weltgeistes. Aber unsere Zeit hat einen anderen Gesetzesbegriff geschaffen. Wenn wir von den Gesetzen der Gesellschaft reden, so denken wir nicht an die unveränderlichen Menschen- und Bürgerrechte, die in der moralischen Natur des Menschen selbst begründet seien, nicht an die großen historischen Rechtssysteme, in denen sich die Entwicklungsstufen des Volksgeistes verkörpern, sondern an die tägliche Gesetzgebungsarbeit unserer Parlamente, die heute die Abwehr der Maul- und Klauenseuche und morgen die Effektenspekulation an der Börse durch Gesetze regeln. Das Gesetz unserer Zeit ist ein alltäglich angewendetes Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken. Und dieser Gesetzesbegriff überträgt sich nun auch auf die Naturgesetze: auch das Naturgesetz ist uns nicht mehr als ein Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken.

Unser Wissen ist nur ein Mittel unserer Arbeit; wir suchen es möglichst zweckmäßig, möglichst einfach, möglichst ökonomisch zu gestalten; zu diesem Behufe fassen wir möglichst viele Einzelerkenntnisse in einer Regel zusammen und diese Regeln nennen wir Naturgesetze. Das Naturgesetz ist nicht ein Gesetz, das ein Gott der Welt gegeben, nicht ein Gesetz, das das unveränderliche Erkenntnisvermögen der Natur diktiert, nicht eine Bestimmung des Weltgeistes, sondern nur ein bescheidenes Mittel, dessen der Mensch sich bedient, um seine Erfahrungen in der einfachsten, zweckmäßigsten, wirtschaftlichsten Weise zu ordnen. Die Naturgesetze erschließen uns nicht mehr die Erkenntnis des Wesens der Welt; sie sind nur noch Mittel zu zweckmäßiger Ordnung unseres Wissens, das selbst nur ein Mittel zu zweckmäßiger Ordnung unserer Arbeit ist.

Die mechanistische Naturauffassung hat alle Naturerscheinungen auf Bewegungsgesetze zurückführen wollen. Bewegung von Massenteilchen war ihr das Wesen der Welt; Licht, Wärme, Elektrizität nur die Empfindungen, die jene Bewegungen mittels unserer Sinnesorgane in unserem Bewußtsein hervorrufen. Der neuen Auffassung sagt diese Vorstellung nichts mehr. Was wir erfahren, sind eben die Empfindungen; wenn wir die erfahrenen Naturvorgänge als Erscheinungen von Massenbewegungen darstellen, so tun wir dies nur zu dem Zwecke, um sie uns in der einfachsten Weise zu ordnen, und dieses Verfahren ist nur insoweit berechtigt, als es uns erlaubt, uns die Erscheinungen unserer Erfahrung einfacher, ökonomischer zu ordnen, als es ohne seine Anwendung möglich wäre.

Im Zeitalter der Manufaktur war alle menschliche Arbeit Bewegung von Stoffen durch Menschenkraft; wollte man sich die natürlichen Vorgänge nach der Analogie menschlicher Arbeit begreiflich machen, mußte man sie als Bewegung von Stoffen durch Kräfte denken. Daran änderte auch die Einführung der Maschine nichts; die Maschine besorgte ja nur die Bewegungen, die vordem Hand und Fuß des Menschen hatten ausführen müssen. Das Zeitalter der Fabrik dachte daher die Welt nach der Analogie seiner Arbeit, indem es sie als ein System mechanischer Maschinen betrachtete. In unserer Zeit aber treten die Maschinen-Industrien immer weiter hinter die Apparat-Industrien zurück: die Hüttenindustrie, die chemische Industrie, die elektrotechnische Industrie stehen im Vordergrunde unseres Interesses. Und neben ihrem Fortschritt interessiert uns die technische Umbildung der Landwirtschaft: die Ernährung der Pflanzen, die Wirkungen künstlicher Düngemittel, die Tätigkeit der Bodenbakterien interessieren uns heute, wie vor hundert Jahren die Menschen die Spinnmaschine interessiert hat. So hat sich unser Arbeitsbegriff wesentlich verändert: Arbeit ist der chemische oder elektrische Vorgang im Apparat; er ist das technisch Wesentliche und die Tätigkeit des Arbeiters, der den Prozeß durch Bewegung eines Hebels oder Druck auf einen Taster in Gang setzt, löst ihn nur aus. Produktion ist die Ernährung der Pflanze; die Tätigkeit des Tagelöhners, der die Düngemittel über den Boden streut, ist nur eine Bedingung der Produktion. Wir sehen also das Wesen der menschlichen Arbeit gar nicht mehr in der mechanischen Bewegung, sondern in chemischen, elektrischen, physiologischen Vorgängen, die durch die mechanischen Bewegungen des Menschen nur ausgelöst werden. Wollen wir uns das Weltgeschehen nach dem Vorbilde unserer Arbeit denken, so müssen wir die Naturerscheinungen nicht mehr auf Bewegungen von Stoffen durch Kraft zurückführen; die chemische oder die elektrische Energie erscheint uns jetzt an sich nicht weniger verständlich als die mechanische Arbeit. Mit dem Mechanismus fällt auch der Atomismus. Das Denken des Zeitalters, in dem die feudalen Herrschafts- und Genossenschaftsverbände durch den Absolutismus, dieser durch den Liberalismus zertrümmert wurde, war beschäftigt mit der Auseinandersetzung zwischen der Gesamtheit und dem Einzelnen, zwischen dem Staat und dem Bürger, zwischen dem Weltall und dem Atom, zwischen Gott und dem Geschöpf. Wie in der Gesellschaft kämpften auch im Denken kollektive Gesamtheit und individuelle Selbständigkeit, Universalismus und Individualismus gegeneinander. Die Zeit des Überganges vom individualistischen: um organisierten Kapitalismus überwindet den Individualismus und den Universalismus zugleich.

Die Selbstherrlichkeit des Individuums ist zerstört. Der einzelne Mensch wird und wirkt nur in den mannigfachen Organisationen. denen er angehört. Nur in organisatorischer Tätigkeit können sich heute Persönlichkeiten entfalten; nur durch die Organisationen können sie wirken; der Organisation müssen sie dienen, um in ihr wirken zu können. Das Individuum ist Erzeugnis und Werkzeug der Organisation, wie die Organisation Erzeugnis und Werkzeug der Individuen ist. Mit dem unorganisierten Individuum fällt sein theoretisches Abbild, das Atom. Dem modernen Naturforscher ist es nur noch ein Hilfsmittel des Denkens, dessen man sich bedienen mag, wo es eine einfache Darstellung des Erfahrenen ermöglicht, aber keine wirkliche Wesenheit mehr. Es löst sich ihm selbst in ein Planetensystem von Elektronen auf, – aber er denkt zugleich dieses System nur als praktisches Hilfsmittel des Denkens, nicht als wirkliche Wesenheit.

Und mit dem Individualismus verschwindet auch der Universalismus. Der konkrete Staat von heute ist selbst nur eine von vielen Organisationen, seine Gesetzgebung bestimmt durch die Macht der Organisationen, die ihn beeinflussen, seine Regierung eine Resultierende der Kräfte der Parteien, die um die Macht kämpfen. Er ist nicht eine über den Individuen stehende Universität, sondern das Ergebnis des Kräftespiels der Individuen. Und mit dem über der Gesellschaft stehenden Staat fallen auch seine Abbilder: der gesetzgebende Gott des Deismus, die gesetzgebende menschliche Gattungsvernunft Kants, der Weltgeist Hegels.

Individualismus und Universalismus sind aufgelöst. Das Weltbild der Modernen enthält nichts als Elementen-Komplexe, Bündel von Wahrnehmungen, die aus wechselnden Wahrnehmungen zusammengesetzt sind, die sich bald miteinander vereinigen und bald wieder auseinanderfallen, die nirgends scharf voneinander geschieden sind, sondern überall ineinander übergehen. Nirgends scharf gegeneinander abgegrenzte Individuen, aber auch nirgends ein planmäßig gegliedertes Ganzes – ähnlich wie in der impressionistischen Malerei, die alle scharfen Konturen meidet, alle Linien ineinander verschwimmen, alle Farbentöne ineinander übergehen läßt. Es ist das Weltbild einer Zeit, der der alte Gegensatz zwischen Individualismus und Universalismus aufgehoben ist in einer Praxis, in der das Individuum nicht mehr souverän ist, sondern Geschöpf und Werkzeug von Organisationen, aber die Organisation noch nicht wohlgegliederte Verkörperung der Gesamtheit, sondern bloßes Werkzeug der Individuen, noch nicht ein sozialistisches Gemeinwesen, sondern Aktiengesellschaft und Kartell, Genossenschaft und Gewerkschaft. Das Weltbild einer Zeit, der die alten großen Fragen nach dem Rechte der Persönlichkeit und der Menschheit, nach dem Wesen der Welt und der Gottheit nichts mehr bedeuten, deren Politik nur ökonomische Gruppeninteressen durchsetzen, deren Wissenschaft nur ökonomisch ordnen will, was wir erfahren, und deren Kunst nur wiedergeben, was wir wahrnehmen.

Mit dem Gegensatz zwischen dem Individualismus und dem Universalismus verschwindet auch der Gegensatz zwischen Kausalität und Teleologie. Die mechanistische Naturauffassung hatte nur die ursächliche Verknüpfung der Erscheinungen zugelassen. Die Forderung nach einer rein kausalen Wissenschaft, von Hegel auch auf die Geschichte übertragen, war hier durch Marxens Geschichtsauffassung befriedigt worden. Aber sie diente dem Sozialismus. Gegen sie erhob sich daher zuerst die Reaktion der Teleologie. Der Neukantianismus (Stammler, Windelband, Ricken) schränkte im Kampfe gegen den Marxismus das Recht der Kausalität auf die Naturwissenschaften ein: Geschichte und Gesellschaft habe die Wissenschaft nicht nach den Kategorien der Ursache und der Wirkung, sondern nach den Kategorien des Mittels und des Zweckes zu ordnen. Dann aber wagte sich die Teleologie auch wieder an die Naturwissenschaft heran. Die kausalen Naturgesetze sind ja nur noch Mittel für unsere Zwecke; die Kausalität selbst ist nur noch ideologisch begründet. Die kausalen Gesetze geben uns keine Erklärung des Wesens der Dinge, sondern nur eine ökonomische Beschreibung unserer Erfahrungen; sie vermögen uns nicht zu zeigen, wie eine Ur-Sache eine Erscheinung hervorbringt, sie zeigen uns nur, wie eine Erscheinung auf die andere folgt, eine Erscheinung die andere begleitet. Der Begriff der Kausalität wird also wieder in Humes Weise gedacht; er ist nur biologisch, nur durch seine praktische Nützlichkeit gerechtfertigt. Daher reicht sein Recht nur so weit, als seine Brauchbarkeit reicht. Wo die Ordnung nach Mittel und Zweck eine einfachere Beschreibung der Vorgänge ermöglicht als die Ordnung nach Ursache und Wirkung, ist jene dieser vorzuziehen. Für den modernen Staat ist es nur noch eine Zweckmäßigkeitsfrage, ob er die Erfüllung eines gesellschaftlichen Bedürfnisses dem »freien Spiel der Kräfte« überlassen oder sie durch planmäßige Tätigkeit seiner Gesetzgebung und Verwaltung selbst herbeiführen soll; so ist es auch für die moderne Wissenschaft nur noch eine Zweckmäßigkeitsfrage, ob sie eine Erscheinung nach der Analogie des freien Wettbewerbs als Wirkung eines Mechanismus oder nach der Analogie planmäßiger Tätigkeit als Ergebnis zweckbewußten Strebens darstellen soll. Besonders in die Biologie fand die Teleologie wieder Eingang; von Darwin enttäuscht, knüpfen viele wieder an Lamarck an. Da das Bürgertum nicht mehr im Kampfe gegen die Theologie steht, fürchtet es auch die Teleologie nicht mehr.

Endlich ändern sich auch die Ansichten über die mathematische Methode der Wissenschaft. Auch hier vollzieht sich die Wendung zuerst im Bereiche der Sozialwissenschaften. Nach dem Vorbilde der mathematischen Naturwissenschaft haben die Physiokraten, die Klassiker, Marx eine ihrem ganzen Verfahren nach mathematische Volkswirtschaftslehre geschaffen. In Deutschland erwachte nun zuerst das Bedürfnis nach einer Wirtschaftswissenschaft, die sowohl dem klassischen Liberalismus als auch dem marxistischen Sozialismus entgegentreten sollte. Die historische Schule lehnte das mathematische Verfahren ab, das dem Liberalismus und dem Sozialismus ihre Theorien schuf. Sie erklärte, die Volkswirtschaftslehre habe nicht die einzelnen Einkommen als Quanta gesellschaftlicher Arbeit darzustellen, sondern die wirtschaftlichen Erscheinungen in ihrer qualitativen Mannigfaltigkeit zu beschreiben und ihre Entwicklung auseinander zu erzählen. Der diskursiv-mathematischen Volkswirtschaftslehre trat die deskriptiv-historische gegenüber. Später erst wurde auch in der Naturwissenschaft die Frage nach der Berechtigung der mathematischen Methode gestellt. Hier konnte es freilich niemand wagen, die mathematisch-diskursive Methode durch bloße Wiedergabe der konkreten Erfahrungsinhalte, Naturwissenschaft durch Naturgeschichte ersetzen zu wollen. Aber man lernte es auch hier, nicht zu überschätzen, was die mathematische Methode leisten kann. Die Auflösung von Qualitäten in Quantitäten führt uns nicht mehr wie Locke und den Materialismus zur Erkenntnis der primären, allein wirklichen Eigenschaften der Körper; sie ist nur ein Mittel, dessen unser Verstand sich bedient, um die überall qualitativ bestimmte Körperwelt in der ökonomischesten Weise zu beschreiben, um sie dadurch desto vollständiger zu beherrschen. Die Mathematik ist der neuen Erkenntnislehre nicht wie Descartes ein System angeborener Ideen, nicht wie Locke Erkenntnis der primären, allein wirklichen Eigenschaften der Körper, nicht wie Kant die Gesetzlichkeit des menschlichen Gattungsverstandes, sondern ein angemessens Mittel, das der Mensch sich zu seinen technischen Zwecken ersonnen hat.

Und diese bescheidenere Einschätzung der mathematischen Methode steigert sich schließlich zum Bedürfnis nach einem Weltbilde, das die Welt nicht mehr in Quantitäten auflöst, sondern in ihren Qualitäten darstellt. Dem müßigen Reichen, der genießt, ohne zu arbeiten, dem schaffenden Künstler und Gelehrten, dem Arbeit nicht bloßes Mittel des Erwerbs ist, dem religiös gestimmten Menschen, der sich wiederum fragt, was es nützt, wenn wir alle Schätze der Welt gewännen und verlören dabei unsere Seele, dem ethisch oder ästhetisch gesummten Sozialisten, der sich mit Abscheu von der Welt des Schachers abwendet – ihnen allen ist unsere Güterwelt aus Gebrauchswerten, nicht aus Tauschwerten zusammengesetzt, unsere Gesellschaft nicht aus Wirtschaftssubjekten und Staatsbürgern, sondern aus Persönlichkeiten. Sie sehen mit Geringschätzung oder mit Bedauern auf die arbeitende Menschheit herab, der sich alles in Geldmengen auflöst; sie sind daher auch nie von dem Weltbilde der mathematischen Naturwissenschaft befriedigt, das selbst nur ein Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken, nach dem Vorbild der kapitalistischen Geldwirtschaft die ganze Welt in Wertquanta – Massen oder Energiemengen – auflöst. Sie waren die Träger jener idealistischen Gegenströmung gegen den Materialismus, die als Philosophie der Müßigen, der Intellektuellen, der Künstler auch in der Zeit der größten Triumphe des Materialismus nie ganz versiegte. Heute aber wächst die Kraft dieser Gegenströmung. Einmal deshalb, weil die Schicht, deren Bedürfnissen sie entspricht, in viel stärkerem Gegensatze denn je gegen das Wirtschaftsleben steht, das mit der Entwertung des Geldes die Basis ihres Rentnerdaseins zerstört hat. Zweitens, weil die Auflösung der mechanistischen Naturauffassung es ermöglicht, das Bedürfnis nach einem nicht diskursiven Weltbilde zu befriedigen, ohne sich in Widerspruch zu der mathematischen Naturwissenschaft zu setzen; denn ist die mathematische Naturwissenschaft nur noch ein bescheidenes Mittel zu technischen Zwecken, so steht es jedermann frei, sich zu anderen Zwecken ein von dem ihrigen verschiedenes Weltbild zu schaffen.

So ist die ganze mechanistische Naturauffassung mit allen auf sie gegründeten philosophischen Systemen in dem modernen Positivismus und Relativismus aufgelöst. Aber wenn sich so die Selbstauflösung der klassischen Weltanschauungen des Kapitalismus vollzieht, so vollzieht sie sich doch zunächst noch innerhalb der Schranken bürgerlichen Denkens. Noch ist die Aufgabe zu lösen, die moderne Erkenntniskritik von diesen Schranken zu befreien.

 


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008