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Die neuzeitliche Philosophie geht von der mechanistischen Naturauffassung aus. Sie entnimmt ihr den Begriff der Materie und sie begreift alles materielle Geschehen gemäß der mechanistischen Naturauffassung als mathematisch darzustellende Bewegungsvorgänge. Aber sie wagt es zunächst nicht, auch die von allem materiellen Geschehen erfahrungsgemäß verschiedenen seelischen Vorgänge auf Bewegungsvorgänge zurückzuführen. So stellt sie der Materie die Seele als eine selbständige Wesenheit gegenüber. Wird die Vorstellung der Materie der mechanistischen Naturauffassung entlehnt, so wird andererseits die Vorstellung der Seele so festgehalten, wie sie schon von uralten Volksmythen entwickelt, vom Christentum übernommen, von der Scholastik dogmatisiert worden war. Die Materie ist dauerhaft, ihrer Menge nach unveränderlich, nur ihre Gestalt kann die Arbeit verändern. Die Seele wird als unsterblich gedacht! So werden die dauerhafte Materie und die unsterbliche Seele zusammengefaßt unter dem Begriff der Substanz. Und den beiden Substanzen tritt gegenüber der Begriff Gottes. Aber dieser Begriff wird aus der mittelalterlichen Weltanschauung nicht unverändert übernommen, sondern wesentlich umgebildet.
Das Recht der alten urwüchsigen Stammesorganisationen war aus den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Zusammenlebens allmählich erwachsen. Es war nicht gesetztes Recht, sondern Gewohnheitsrecht, jahrhundertelang unverändert fortlebend, nie plötzlich verändert, sondern immer nur allmählich entwickelt, durch sein Alter geheiligt. Die Menschen, in die Rechtsordnung ihres Stammes hineingeboren, nahmen sie als selbstverständlich hin, ohne nach ihrem Ursprung zu fragen. Aber plötzlich bricht in das Gebiet des friedlichen Ackerbaustammes ein fremdes Nomadenvolk ein. Es unterwirft die Bauern, es entwaffnet sie, es beraubt sie ihres Bodens und zwingt sie zur Fronarbeit für die neuen Herren. So entsteht ein neues Recht; es ist das Machtgebot des erobernden Königs, aus der Unterwerfung hervorgegangen, durch die Waffengewalt gesichert. Das alte Volksrecht wird durchbrochen durch das neue Königsrecht. Den unterworfenen Bauern erscheint ihr altes überliefertes Volksrecht als die selbstverständliche, natürliche Ordnung ihres Zusammenlebens, nach deren Ursprung sie nicht fragen; das neue Königsrecht aber als der Befehl des mächtigen Herrn, dessen Machtgebot die natürliche Ordnung der Gesellschaft durchbricht. So beurteilten zum Beispiel die angelsächsischen Bauern noch im 17. Jahrhundert, sechs Jahrhunderte nach der Eroberung, das normannische Recht.
Die Menschen beobachten frühzeitig den regelmäßigen Ablauf der Natur Vorgänge. Diese Regelmäßigkeit erscheint ihnen als die Rechtsordnung der Natur. Aber sie fragen nach dem Ursprung dieser Regelmäßigkeit ebensowenig wie nach dem Ursprung ihrer alten Volksrechte. Nicht, wie Hume glaubt, die Gewohnheit, sondern der Schrecken über die Störung des gewohnten Ablaufs führt die Menschen zur Frage nach der Ursache (Wundt). Sie fragen nicht, warum Tag und Nacht, Sommer und Winter, Vollmond und Neumond einander ablösen; aber wenn Blitz und Donner, Sonnen- und Mondesfinsternisse, Seuchen und Überschwemmungen sie erschrecken, dann fragen sie nach der Ursache dieser Störungen des alltäglichen Ablaufs der Naturvorgänge. Sie ersinnen mächtige Wesen, die die gewohnte Naturordnung zu stören vermögen, wie ein erobernder König das gewohnte Volksrecht zu durchbrechen vermag. Solche Wesen sind die Götter der vorfeudalen Völker und ein solches Wesen ist auch noch der Gott des feudalen Zeitalters. Wenn es ihm beliebt, gebietet er der Sonne und dem Monde stillzustehen; er kann Tote zum Leben erwecken, Lahme gehend und Blinde sehend machen. Er ist nicht ein Gesetzgeber, der der Natur den alltäglichen Ablauf ihrer Vorgänge vorgeschrieben hat, sondern der Wundertäter, der diesen alltäglichen Ablauf zu durchbrechen vermag – ganz so, wie der König der Feudalzeit nicht der Urheber des Gewohnheitsrechts des Volkes ist, sondern der mächtige Herr, dessen Befehle die Volksrechte durchbrechen.
Das feudale Gemeinwesen wird abgelöst vom absolutistischen, zentralisierenden, auf Geldwirtschaft gegründeten Staat. Der feudale Dualismus des Rechts, der Gegensatz zwischen den Gewohnheitsrechten der einzelnen Stände und Landschaften einerseits und dem gesetzten Recht der Könige andererseits, wird überwunden. Im absolutistischen Staat ist die Fürstengewalt der Urheber allen Rechts; alles Recht ist Königsrecht, gesetztes Recht – Gesetz. Dieses Recht bindet alle Untertanen des absolutistischen Staates; der Gesetzgeber selbst ist an das von ihm gegebene Gesetz gebunden, solange er es nicht abgeändert hat.
Nach dem Vorbilde dieser neuen Rechtsordnung stellen sich nun die Menschen die Ordnung der Natur vor. Die neue Naturwissenschaft beobachtet den regelmäßigen Ablauf des Naturgeschehens. Die Regeln, nach denen es verläuft, nennt sie Naturgesetze; das Wort zeigt schon den Ursprung der Vorstellung an: nach dem Vorbild der Gesetze des Staates denken sich die Menschen Gesetze der Natur. Und wie die Gesetze des Staates vom König erlassen sind, so sind die Gesetze der Natur erlassen von Gott. Der neue Gott ist nicht mehr ein Wundertäter, der der Sonne und dem Mond stillzustehen gebietet, wann es ihm beliebt, sondern der Gesetzgeber, der der Natur die Gesetze gegeben hat, nach denen sich die Gestirne bewegen. Aus der Vereinigung dieses neuen Gottesbegriffs mit den der mechanistischen Naturauffassung entlehnten Vorstellungen von der Materie und mit dem dem Christentum entlehnten Seelenbegriff ist die neuzeitliche Philosophie hervorgegangen.
Ihr Begründer ist Descartes. Er denkt die Natur ganz mechanistisch: Wirklich sind nur die mathematisch darstellbaren Eigenschaften der Körper, Ausdehnung und Bewegung; alle Naturvorgänge müssen auf Bewegungen kleinster Massenteilchen zurückgeführt werden; jede ideologische Naturerklärung ist zu vermeiden. Aber der Materie steht die Seele als selbständige Wesenheit gegenüber, ihnen beiden Gott als der Gesetzgeber, der die Gesetze erlassen hat, denen Materie und Seele unterworfen sind. In seiner Vorstellung der Materie erweist sich Descartes als ein Kind des Zeitalters des Kapitalismus, in seinem Gottesbegriff als ein Kind des Zeitalters des absolutistischen Staates, der ersten Staatsform des jungen Kapitalismus. Descartes ist ein Zeitgenosse Richelieus!
Der Franzose malt sich die Welt nach dem Vorbilde der absoluten Monarchie. In den republikanischen Niederlanden entsteht ein anderer Gottesbegriff. In der Republik ist das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, zugleich der Gesetzgeber. Auf die Natur übertragen: die Welt, die den Naturgesetzen unterworfen ist, ist zugleich der Gott, der die Gesetze gibt. Dem monarchischen Deismus tritt der republikanische Pantheismus gegenüber. Spinoza, sein erster Vertreter, ist ein Zeitgenosse des englischen Commonwealth! Ihm sind Natur und Seele nur noch Daseinsweisen einer Substanz, das materielle und das seelische Geschehen zwei Seiten der einen Substanz, die Gott und Welt, Gesetzgeber und Untertan zugleich ist. Beide Attribute sind derselben kausalen Gesetzmäßigkeit unterworfen und diese Gesetzmäßigkeit kann nur mittels der mathematischen Methode „more geometrico“ dargestellt werden. [1]
So suchen die ältesten Systeme der neuzeitlichen Philosophie die mechanistische Naturauffassung mit den dem Christentum entlehnten Seelen- und Gottesbegriffen in Einklang zu setzen. Aber je mächtiger sich der Kapitalismus entwickelt, desto ausschließlicher beherrscht die mechanistische Naturauffassung das Denken. Sie schließt endlich alle Kompromisse mit den überlieferten Seelen- und Gottesvorstellungen aus. Dem Cartesianismus und dem Spinozismus folgt der monistische Materialismus. Nun wurden auch die seelischen Vorgänge mechanistisch aufgefaßt; sie wurden als Gehirnfunktionen als Bewegungen von Gehirnteilchen gedacht. Und Gott verschwindet: wie die Gesetze des kapitalistischen Wettbewerbs, die die gesellschaftliche Arbeit und den gesellschaftlichen Arbeitsertrag verteilen, von niemand gesetzt sind, so bedürfen auch die Naturgesetze keines Gesetzgebers mehr. Die Materie ist die einzige Substanz; es gibt nichts außer bewegter Materie. Der Materialismus ist die folgerichtige Philosophie des Systems der freien Konkurrenz: in ihm erschöpft sich alles Wissen in der mechanistischen Naturauffassung, die die Welt nach dem Ebenbilde des Kapitalismus schafft, und jeden Kompromiß mit den älteren, aus der Feudalzeit übernommenen Auffassungen lehnt er ab.
In England, wo sich der Kapitalismus am vollkommensten entwickelt hat, ist auch der Materialismus zuerst entstanden. Hobbes ist sein erster Vertreter. Als ein Kind des individualistischen Kapitalismus erweist er sich in seiner Staatslehre, die den Staat aus dem zwischen den Individuen abgeschlossenen Gesellschaftsvertrage ableitet; ein Kind des individualistischen Kapitalismus bleibt er auch in seiner materialistischen Philosophie. Aber ihn schreckt die bürgerliche Revolution, die die breiten Volksmassen in Bewegung setzt. Ein Verfechter der durch die Revolution erschütterten Ordnung, betrachtet er eine unbeschränkte Staatsgewalt als die erste Voraussetzung der kapitalistischen Entwicklung. So stützt er auf die individualistische Lehre vom Gesellschaftsvertrage eine Rechtfertigung des Absolutismus; so hindert ihn seine materialistische Weltanschauung nicht, eine den staatlichen Bedürfnissen angepaßte Religion als Herrschaftsmittel des Staates erhalten zu wollen. „Glaube ist“, sagt er, „was der Staat zu glauben gebietet, Aberglaube, was er verbietet.“ In England, wo das revolutionäre Bürgertum seinen Kampf gegen den Absolutismus unter christlicher Flagge führte, tritt der Materialismus als Verbündeter des Absolutismus auf; erst in Frankreich, wo der Katholizismus zur Stütze des Absolutismus geworden ist, wird der Materialismus zur Idee der revolutionären Bourgeoisie (Lamettrie, Helvetius, Diderot, Holbach).
Der Materialismus blüht zum ersten Male in Frankreich in der Zeit, in der sich das Bürgertum zur Revolution rüstet, die alle Hindernisse der Entfaltung des Kapitalismus sprengen soll. Die Stürme der bürgerlichen Revolution, die alles Denken dem Staat zuwenden, sind dem anarchischen Materialismus nicht hold. Aber nach dem Abschluß der bürgerlichen Revolution, nach 1848, in der Zeit des vollkommensten Triumphes des individualistischen Kapitalismus, wird der Materialismus zum Volksglauben. Mit dem politischen Liberalismus, dem Manchestertum und der freihändlerischen Vulgärökonomie verknüpft sich der Materialismus zur Weltanschauung der liberalen Bourgeoisie.
Aus dem Individualismus ist der Empirismus hervorgegangen. Ist das Individuum vom Banne staatlicher und kirchlicher Autorität befreit, so will es nicht mehr aus überkommenen Begriffen, sondern aus eigener Erfahrung sein Weltbild gestalten. Ist die Gesellschaft in selbstherrliche Individuen zersetzt, so denken die Menschen auch die Welt als die Summe selbständiger Einzeldinge. Zur Erkenntnis führt nun kein anderer Weg als die Beobachtung und Vergleichung der einzelnen Dinge durch die einzelnen Menschen: die Induktion. Wir haben schon gezeigt, wie aus dem Voluntarismus Duns Scotus’ und dem Nominalismus Occams die Erfahrungsphilosophie Bacons hervorgegangen ist.
Aber sieht am Anfange der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft die Forderung der Induktion, so steht ihr andererseits eine andere Forderung gegenüber: die Forderung nach der Auflösung aller Naturerscheinungen in Massenbewegungen, aller Körper in Atome, aller Qualitäten in Quantitäten. Unter dem Drucke dieser Forderung entstand seit Galilei eine Naturwissenschaft, die dem ausschließlichen Empirismus Bacons wenig entsprach.
Die Erfahrung zeigt uns grüne und braune, hoch- und tieftönende, süß und sauer schmeckende, wohl- und übelriechende Körper. Aber den Körpern der mechanistischen Naturauffassung kommen keine anderen Eigenschaften zu als Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Masse und Bewegung. Sie sind farblos, klanglos, geruchlos, geschmacklos. Die von der Theorie gedachte Welt ist von der Welt der Erfahrung verschieden.
Die Naturwissenschaft, alle Qualitäten in Quantitäten auflösend, bedient sich der Mathematik als ihres Werkzeugs. Mit der mechanistischen Naturauffassung entwickelt sich die Mathematik. Sie leitet ihre Erkenntnisse durch Schlüsse aus den uns ohne Beweis einleuchtenden Axiomen ab. Ihr Verfahren ist nicht induktiv. Neben den Empirismus, der alle Erkenntnis aus der Erfahrung schöpfen will, tritt der Rationalismus, der seine Erkenntnisse aus dem Verstande, durch Schlüsse aus den unmittelbar einleuchtenden Axiomen zu gewinnen glaubt.
So stehen Naturbeobachtung und Mathematik, Induktion und Deduktion, Empirismus und Rationalismus, Bacon und Galilei einander gegenüber.
Der Empirismus geht aus dem Individualismus hervor: daraus, daß der Kapitalismus die Gesellschaft in selbstherrliche Individuen zersetzt. Die Auflösung der Qualitäten in Quantitäten ist das theoretische Spiegelbild der Geldwirtschaft; die mathematische Methode geht daraus hervor, daß der Kapitalismus den gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen den Individuen durch den Warenaustausch, durch Kauf und Verkauf, durch Verwandlung der Güter in Waren vermittelt. Der theoretische Widerspruch zwischen induktivem Empirismus und mathematischen Rationalismus ist das theoretische Spiegelbild des dem Kapitalismus eigentümlichen Widerspruchs zwischen der rechtlichen Selbstherrlichkeit, die er den Individuen verleiht, und der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Individuen voneinander, die, durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung bewirkt, sich auf dem Markt, im Warenkauf und Warenverkauf, in der Auflösung aller Güter in Wertquanten durchsetzt.
Die Philosophie stellt sich zuerst auf die Seite der Mathematik gegen die Naturbeobachtung, des Rationalismus gegen den Empirismus, Galileis gegen Bacon. Descartes betrachtet die Axiome als angeborene Ideen. Durch Schlüsse aus diesen angeborenen Ideen allein kann der Mensch sichere Erkenntnis gewinnen. Die Erfahrungen unserer Sinne sind ein trügerischer Schein, durch die Eigenart unserer Sinnesorgane bestimmt. Wie die Mathematik kann auch die Philosophie selbst ihre Erkenntnisse nur durch Schlüsse aus angeborenen Ideen, nur „more geometrico“ gewinnen.
Gegen diesen Rationalismus setzt sich aber der englische Individualismus zur Wehr. Angeborene Ideen wären ein kollektiver Besitz der Menschheit, vom Individuum nicht erworben, sondern ihm durch die Geburt auferlegt. Descartes’ Annahme streitet also gegen die Freiheit des Individuums, das sich aus eigener, individueller Erfahrung sein Weltbild gestalten will, ohne an unüberprüfbare, unbestreitbare Ideen gebunden zu sein. Darum leugnet Locke die angeborenen Ideen. In unserem Wissen ist nichts, was uns nicht durch unsere Sinnesorgane zugeführt wäre. Darin folgt Locke dem Empirismus Bacons. Aber andererseits nimmt er doch die mathematische Naturwissenschaft der Schule Galileis an. Er will also zeigen, daß diese Naturwissenschaft rein empirisch-induktiv gewonnen sei. Zu diesem Zwecke unterscheidet er die primären und die sekundären Eigenschaften der Körper. Nur die primären Eigenschaften der Körper, die wir durch unsere Sinnesorgane erkennen – Zahl, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung – kommen wirklich den Dingen zu; die sekundären Eigenschaften der Körper – Klang, Farbe, Wärme, Geruch, Geschmack – sind nur Täuschungen unserer Sinne, die so geartet sind, daß sie uns gewisse auf sie wirkende Bewegungsvorgänge nicht als solche, sondern als Klang oder als Farbe, als Wärme, als Geruch oder Geschmack wiedergeben. Die mathematischen Eigenschaften der Körper sind also die allein wirklichen; die Axiome der Mathematik sind nicht angeborene Ideen, sondern aus der Beobachtung der wirklichen Größenbeziehungen der Körper gewonnene Erkenntnisse. Die mechanistische Naturauffassung ist die Erkenntnis der wirklichen Dinge, aus der Erfahrung gewonnen, aber gereinigt von dem trügerischen Schein, den die Eigenart unserer Sinne der Erfahrung beimengt. So glaubt Locke zeigen zu können, daß das Weltbild der mechanistischen Naturauffassung der Forderung nach einer rein induktiven Erfahrungswissenschaft entspreche. Ganz in der Naturauffassung des Kapitalismus befangen, glaubt er, es sei in der Erkenntnis der Natur des menschlichen psychophysischen Organismus begründet, nur das Quantitative als wirklich anzuerkennen, alles Qualitative in Quantitäten aufgelöst zu denken. Mit Recht sagt Marx von ihm, er habe den bürgerlichen Verstand zum menschlichen Normalverstand schlechthin gemacht.
Locke hat zuerst die Frage nach der Natur und den Grenzen unseres Erkenntnisvermögens gestellt und dadurch die Erkenntnislehre begründet. Bald sah sie sich vor ein weiteres Problem gestellt. Die Naturwissenschaft entdeckte Naturgesetze; aber von dem Gesetzgeber, der der Natur die Gesetze gegeben, wollte sie nichts mehr wissen. Der Materialismus leugnete Gott; andere ließen die Gottesvorstellung als Befriedigung von Gemütsbedürfnissen noch zu, lehnten es aber ab, sie auA in die Wissenschaft einzuführen, die sich auf den Bereich der Erfahrung zu beschränken habe. So hatte man Gesetze, die niemand gesetzt hat. Woher stammen diese Gesetze?
Das emporstrebende Bürgertum stellte dem Rechte des Feudalismus und des Absolutismus sein eigenes bürgerliches Recht gegenüber. Das dem Kapitalismus angemessene, den Bedürfnissen des Bürgertums jener Zeit entsprechende Recht erschien ihm als das Naturrecht, das die Natur selbst jedem Menschen in die Seele gepflanzt habe und dem nur rohe Gewalt Geltung versage. Aus der Natur des Menschen sei das richtige Recht abzuleiten; der Mensch sucht die Quelle des Rechtes in seiner eigenen Brust.
Diese Vorstellung vom menschlichen Recht wird wieder auf die Ordnung der Natur übertragen. Der Mensch sucht wie den Ursprung der richtigen Gesetze der menschlichen Gesellschaft, so auch den der wirklichen Gesetze der Natur in seinem eigenen Bewußtsein. Nicht ein König gibt der Gesellschaft ihr Recht; durch den Gesellschaftsvertrag, den die einzelnen Menschen selbst untereinander eingegangen sind, hat sich eine unvergängliche Rechtsordnung begründet, die in der unveränderlichen natürlichen Beschaffenheit der menschlichen Bedürfnisse ihren Grund hat. Nicht ein Gott gibt der Natur ihre Gesetze; die Menschen selbst haben die Naturgesetze in die Welt hinaus verlegt und diese Gesetze haben in der unveränderlichen Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens ihren Grund. Wird die bürgerliche Rechtsordnung, die den Bedürfnissen des Kapitalismus entspricht, als das Naturecht schlechthin angesehen, das in der unveränderlichen moralischen Natur des Menschen begründet sei, so werden die Naturgesetze, mittels derer das Zeitalter des Kapitalismus die Welt nach seinem Ebenbilde schafft, zu Gesetzen des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt, die in der unveränderlichen Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens begründet seien.
Im Keime ist diese neue Erkenntnislehre schon in Humes Auflösung der Substanz und der Kausalität enthalten: in der Welt gibt es weder Ursache noch Wirkung; nur der Mensch verknüpft als Ursache und Wirkung miteinander, was er aufeinander folgen zu sehen gewohnt ist. In der Natur gibt es nichts als einzelne Erscheinungen, die aufeinander folgen; nur der Mensch verknüpft sie durch das Band der Kausalität, nur er faßt sie zusammen unter Gesetzen. Aber ihre weitere Ausbildung hat diese Erkenntnislehre doch nicht mehr auf britischem, sondern erst auf deutschem Boden erfahren.
Die britische Philosophie trägt vom 13. bis zum 19. Jahrhundert einheitliche Züge. Duns Scotus’ Individualismus wird, auf die Natur übertragen, durch Occam zum Nominalismus; beide führen zum Empirismus Bacons. Locke sucht diesen mit der mechanistischen Naturauffassung in Einklang zu bringen. Hume bildet ihn fort, indem er die Natur gänzlich in einzelne Erscheinungen zerschlägt, zwischen denen nur die Denkgewohnheiten der Menschen eine Brücke schlagen. Von Bacon zu J. St. Mill, von Locke zu Spencer, von Hume zu James führt ein gerader Weg. So sind es überall dieselben Merkmale: Individualismus im Praktischen wird im Bereiche der Theorie zum Empirismus. Wie in der Ökonomie und in der Politik Britannien das Mutterland des individualistischen Kapitalismus war, hat es auch die dem individualistischen Kapitalismus entsprechendste Denkrichtung hervorgebracht.
Viel später als die Briten, erst im 18. Jahrhundert, haben die Deutschen eine führende Stellung in der Philosophie gewonnen. Auch in Deutschland hatte im 18. Jahrhundert der Kapitalismus schon breiten Raum gewonnen; aber neben ihm lebten doch noch breite Reste feudaler Ordnung fort. Auch die deutschen Gelehrten übernahmen die mechanistische Naturauffassung und die rationalistische Staatslehre; aber zugleich standen sie doch noch im Banne der alten feudal-kirchlichen Ideenwelt und der das Individuum absolutistischen Staatsgewalten, grundherrschaftlichen Obrigkeiten, zünftlerischen Gemeinschaften eingliedernden gesellschaftlichen Ordnung. Auch sie dachten die Welt als Ebenbild des Kapitalismus; aber die deutsche, noch viel weniger individualistisch aufgelöste Wirklichkeit ließ die vollständige Auflösung der Welt in einen Mechanismus von Atomen nicht zu.
Kant stellt sich die Erfahrung nach dem Vorbilde der Arbeit vor: wie die Arbeit die von der Natur gegebene Materie formt, so formt unser Erkenntnisvermögen das uns durch unsere Sinnesorgane gegebene Material. An jeder Erfahrung sind daher die durch die Sinne gegebene Materie und die ihr durch die Arbeit unseres Erkenntnisvermögens gegebene Form zu unterscheiden. Dadurch vereinigt Kant zunächst den Rationalismus mit dem Empirismus, Descartes mit Locke. Auch Kant geht von der Naturauffassung des Kapitalismus aus; auch ihm sind mathematische Bewegungsgesetze das Ziel aller Wissenschaft. Aber die Erkenntnisse der Mathematik und der Kinematik sind ihm nicht wie Descartes Schlüsse aus angeborenen Ideen, sondern Erkenntnisse, die sich nur in der Erfahrung und mit der Erfahrung entwickeln; insoweit steht er zu Locke gegen Descartes. Andererseits aber ist Erfahrung nicht bloße Übernahme der Empfindungen unserer Sinnesorgane, sondern Bearbeitung dieser Empfindungen durch die Funktionen des menschlichen Bewußtseins, durch die reinen Formen der Anschauung und des Denkens, die sich zwar in der Erfahrung betätigen, aber nicht aus der Erfahrung stammen; insoweit steht Kant zu Descartes gegen Locke.
Im Gegensatze zwischen induktivem Empirismus und mathematischem Rationalismus spiegelt sich, wie wir gesehen haben, der der kapitalistischen Warenproduktion eigentümliche Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit der Individuen und ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit voneinander, die sich auf dem Markte, in der Umsetzung der Güter gegen Geld durchsetzt. Dieser Widerspruch zwischen Recht und Wirtschaft löst sich nur in der Erkenntnis auf, daß die Auflösung der Güter in Wertquanta nur die dem Kapitalismus eigentümliche Methode ist, mittels der freien Handlungen der Individuen die gesellschaftlichen Notwendigkeiten durchzusetzen, die in jeder auf Arbeitsteilung gegründeten Gesellschaft bestehen: die Anpassung des Verbrauches an die Erzeugung, der Verteilung der Arbeit auf die einzelnen Berufe an die Gliederung des gesellschaftlichen Güterbedarfes, der Vergrößerung des gesellschaftlichen Produktionsapparats an das Wachstum der Bevölkerung. Ebenso ist die Auflösung der Dinge in Quanta von Massen und Kräften die durch unser Erkenntnisvermögen geforderte Methode, in der sich in den individuellen Erfahrungen der einzelnen Dinge durch die einzelnen Menschen die allgemeinen Funktionen menschlicher Anschauung und menschlichen Denkens betätigen, die allem menschlichen Bewußtsein gemein sind, – die kollektiven Funktionen des menschlichen Bewußtseins überhaupt. Die mathematischen Eigenschaften der Körper sind Kant nicht wie Locke die allein wirklichen, die primären Eigenschaften der Dinge an sich, sondern reine Formen der Anschauung und des Denkens, die unser Bewußtsein dem durch die Sinnesorgane gelieferten Material verleiht. Darin berührt sich Kant mit Hume. Auch Kant glaubt, daß nur der Mensch die erfahrungsmäßig aufeinander folgenden Erscheinungen durch das Band der Ursache und der Wirkung, durch Gesetze verknüpft. Aber für Hume ist die Natur eine unorganisierte Masse unverbundener einzelner Erscheinungen; ihre Verknüpfung als Ursache und Wirkung ist unwesentlich, bloße Gewohnheit, nur durch ihre praktische Brauchbarkeit gerechtfertigt. Für Kant ist die Natur ein System von Gesetzen; denn es gibt für uns keine andere Natur als die, die der gesetzgebende menschliche Verstand hervorbringt, indem er das Empfindungsmaterial gemäß seiner eigenen Gesetzlichkeit formt, und diese Gesetzlichkeit ist unveränderlich, in der Eigenart alles menschlichen Bewußtseins gegeben. So wird die Naturordnung, wie sie Kant in Newtons „Principia mathematica“ vorfindet, zu einem Gegenstück des Naturrechts: wie die Gesetze des Naturrechts in der moralischen Natur des Menschen, sind die Naturgesetze in der Eigenart des theoretischen Erkenntnisvermögens der Menschen begründet; wie das Naturrecht nach der Auffassung jener Zeit für alle Zeiten und für alle Völker gilt, so gelten auch die Gesetze, die das menschliche Erkenntnisvermögen der Natur vorschreibt, allgemein und notwendig. Kant ist ein Zeitgenosse Rousseaus!
Auch Kant ist ein Kind des Kapitalismus. Er übernimmt die Naturauffassung des Kapitalismus: aller Erfahrung letztes Ergebnis sind mathematische Bewegungsgesetze. Er übernimmt die naturrechtliche Staatsphilosophie des individualistischen Kapitalismus und bildet nach ihrem Vorbild seine Erkenntnislehre: die Gesetze der Mathematik und der Kinematik sind unveränderliche Gesetze, die unser Erkenntnisvermögen der Natur vorschreibt, wie die Satzungen des Naturrechtes unveränderliche Gesetze sind, die unsere moralische Natur aller menschlichen Gesellschaft diktiert. Die Gesetze, mittels derer der Kapitalismus sich die Welt nach seinem Ebenbilde schafft, sind für Kant ewige Gesetze des menschlichen Bewußtseins überhaupt. Auch von Kant hätte Marx sagen können, daß er den bürgerlichen Verstand als menschlichen Normalverstand schlechthin proklamiere. Aber verschieden von seinen britisch-individualistischen Vorgängern bildet der Deutsche die Weltauffassung des individualistischen Kapitalismus universalistisch fort: Die Gesetze der Mathematik und Kinematik sind ihm nicht wie Locke bloße Verallgemeinerungen, die der einzelne Mensch aus der Beobachtung und Vergleichung der primären Eigenschaften der einzelnen Dinge gewinnt, sondern Gesetze des menschlichen Bewußtseins überhaupt, des kollektiven Gattungsverstandes, die jedem Individuum eingepflanzt sind und jedes Einzelding erst konstituieren, aus dem Empfindungsmaterial erst hervorbringen. Und wenn für Hume Naturerfahrung nur die Abbildung der Einzelerscheinungen ist, ihre ursächliche Verknüpfung nur eine Zutat zur Erfahrung, zu der den Menschen die Gewohnheit verleitet, so ist für Kant Naturerfahrung nicht nur die Aufnahme des Empfindungsmaterials, sondern auch seine Ordnung durch die Formen der Anschauung und des Denkens, und darum die Natur nicht eine rohe Masse von Einzelerscheinungen, sondern ein System von Gesetzen.
Aber Kant bildet nicht nur das individualistische Weltbild universalistisch um, er schränkt zugleich auch seine Geltung ein. Die sekundären Eigenschaften schreibt schon Locke nicht den äußeren Gegenständen zu, sondern nur unseren Sinnesorganen. Kant geht darüber hinaus, indem er die primären Eigenschaften als Formen unserer Anschauung und unseres Denkens auffaßt. So sind alle Eigenschaften der äußeren Gegenstände in unser Erkenntnisvermögen hereingenommen: außerhalb seiner bleibt nichts übrig als das unerkennbare Ding an sich. Unser Wissen, durch die Beschaffenheit unserer Sinnesorgane und unserer Anschauungs- und Denkformen bestimmt, kann uns nichts darüber sagen, wie die Dinge an sich unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen beschaffen sind. Es ist nur ein Wissen von den Erscheinungen, von den Dingen für uns, kein Wissen von den Dingen an sich. Von der Ordnung der Dinge an sich können wir theoretisch nichts ausmachen; aber eben deshalb sind wir frei, uns ein Bild von ihr zu entwerfen, wie es unsere praktischen Zwecke fordern. So gewinnt Kant den Raum zu seinem „praktischen Vernunftglauben“, zur Gottheits- und Seelenmystik. In der Ausführung dieses Gedankens zeigt es sich, wie stark Kant noch im Banne der theologischen Überlieferung der feudalen Geschichtsepoche stand. Aber andererseits ist in seiner Darstellung des Verhältnisses zwischen verständigem Wissen und vernünftigem Glauben doch eine zukunftsschwangere Erkenntnis enthalten: die Erkenntnis nämlich, daß die mechanistische Naturauffassung nicht die Erkenntnis des Wesens der Welt ist, sondern nur eine der Methoden, deren sich der Menschengeist bedient, sich die Welt zu seinen Zwecken anzueignen – eine Methode, neben der andere Methoden möglich sind. Nur daß Kant, darin wieder ein Kind des Kapitalismus, das Verfahren der mechanistischen Naturauffassung für die allein mögliche Methode theoretischen Erkennens hielt, neben der andere Verfahrensweisen nicht zu theoretischer Erkenntnis führen, sondern nur als Methoden sittlichen Wollens, ästhetischen Beurteilens und vernünftigen Glaubens bestehen könnten, und daß er, an feudaltheologische Überlieferung gebunden, die Freiheit der Wahl anderer Methoden nicht anders zu benützen wußte als zur Rechtfertigung des theologischen Weltbildes.
Der bürgerlichen Revolution tritt die feudale Reaktion gegenüber, der bürgerlichen Naturrechtslehre die historische Rechtsschule der Romantik. Hat das Bürgertum das seinen Bedürfnissen entsprechende Recht als das Naturrecht verkündet, das für alle Zeiten und alle Völker gelte, so stellt ihm der Feudalismus die Erkenntnis entgegen, daß es kein ewiges, unveränderliches, durch die menschliche Natur schlechthin bestimmtes Recht gibt, daß das Recht vielmehr organisch erwächst aus dem jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Zustande der Gesellschaft. Der abstrakten Volonté générale der Naturrechtslehre tritt der konkrete Volksgeist gegenüber, der das Recht setzt; gegen die Vorstellung von den
ewigen Rechten, |
streitet die neue Vorstellung von der organischen Entwicklung des Volksgeistes, aus der die Wandlungen des Rechtes hervorgehen. Die Forderung, daß das Reiht der höchstentwickelten kapitalistischen Staaten von den rückständigen übernommen werde, wird abgewiesen mit der Begründung, daß die einzelnen Volksgeister voneinander verschieden seien und darum auch die Rechte der einzelnen Völker verschieden sein müßten.
Der Aufklärungsphilosophie war die Geschichte nur „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer“, ein sinnloses Gemenge von Irrtum und Aberglauben, von Unrecht und Gewalt. Erst die feudale Geschichtsauffassung, die im Kampfe gegen die Naturrechtsphilosophie entsteht, gibt der Geschichte einen Sinn. Die einzelnen Gesellschaftszustände entwickeln sich notwendig auseinander; jeder Zustand der Sitte und des Rechtes, des Wissens und des Glaubens ist der notwendige. Ausfluß der jeweiligen Entwicklungsstufe des Volksgeistes. Aus dieser Geschichtsauffassung geht die Geschichtsphilosophie Hegels hervor. Zum ersten Male wird der Versuch unternommen, die ganze Geschichte der Menschheit, ihrer gesellschaftlichen Zustände, ihres Rechtes, ihrer Staaten, ihrer Ideen als gesetzmäßige innere Entwicklung des kollektiven menschlichen Geistes zu begreifen. Auch in diesem Gedanken wirken die Ideen des Kapitalismus fort: die Forderung strenger Gesetzmäßigkeit des Geschehens, wie sie sich in der Naturwissenschaft des kapitalistischen Zeitalters entwickelt hat, wird nun auf die Geschichte übertragen. Aber andererseits ist diese Übertragung eine Waffe, die sich die feudale Reaktion im Kampfe gegen die bürgerliche Revolution geschmiedet hat.
Hegel ist ein Kind des Kapitalismus; er stellt sich alle geschichtliche Entwicklung nach der Erfahrung des Konkurrenzsystems vor: Alle geschichtliche Entwicklung vollzieht sich im Kampfe der Individuen gegeneinander, in dem jedes Individuum nur durch seine Selbstsucht geleitet ist. Aber andererseits ist Hegel ein Sprößling der feudal-romantischen Rechts- und Staatsauffassung: der Volksgeist bedient sich des Kampfes der Individuen gegeneinander, um seine Zwecke zu erreichen; der Weltgeist bedient sich des Kampfes der Völker gegeneinander, um die Menschheit zu seinen Zwecken zu führen. Es ist die „List der Vernunft“, die Selbstsucht der einzelnen Menschen und der einzelnen Völker als Mittel zu ihren Zwecken zu benützen. Diese Vorstellung entspricht der Denkweise einer Zeit, in der der freie Wettbewerb noch nicht Wirklichkeit, aber überall schon Gegenstand des Kampfes war. Erobert der Liberalismus die Staatsgewalt, so gibt der Staat den Wettbewerb frei; er läßt jedes Individuum ungestört im Kampf um seine eigenen Interessen; aber er tut das in der Meinung, daß dadurch sein Interesse, das kollektive Interesse der gesamten Nation am zweckmäßigsten gefördert werde: daß der freie Wettbewerb am zweckmäßigsten die Produktivkräfte entwickele, das Nationaleinkommen erhöhe, Reichtum und Macht des Staates vergrößere. Diese Vorstellung, daß der freie Wettbewerb ein Mittel der Gesellschaft und des Staates für ihre Zwecke sei, erweitert Hegel zu dem Gedanken, daß sich der Weltgeist der Kämpfe der Individuen gegeneinander bediene, um seine Zwecke zu erreichen.
Hegel lebt in der Zeit der bürgerlichen Revolution: in der Zeit der großen Kämpfe um die Gestaltung des Nationalstaates in Frankreich und in England, um die Schaffung eines Nationalstaates in Deutschland und in Italien. Der Staat ist ihm nicht wie der Naturrechtslehre ein notwendiges Übel, sondern Ziel und reifste Frucht aller geschichtlichen Entwicklung, der Nationalstaat die Verwirklichung des Volksgeistes. Der unpersönliche Weltgeist bedient sich der Kämpfe der persönlichen subjektiven Geister gegeneinander, um seine Verwirklichung zu finden im überpersönlichen objektiven Geist: im Recht, in der Moral und in der Sittlichkeit, in der Familie, in der Gesellschaft und im Staate.
Diese ganze Auffassung der menschlichen Geschichte überträgt Hegel nun auf alles Weltgeschehen. Wie in der Geschichte sich die Individuen miteinander vereinigen und gegeneinander kämpfen, so ziehen in der Natur die Massen einander an und stoßen einander ab. Aber wie der Kampf der Individuen gegeneinander nur ein Mittel ist, dessen der Weltgeist sich bedient, um die Menschheit zu seinen Zwecken zu führen, so ist auch in der Natur der Kampf der individuellen Kräfte gegeneinander nur ein Mittel, dessen sich der Weltgeist bedient, um die Natur zu seinen Zwecken zu führen. Auch der Naturmechanismus ist nur ein Mittel, das die „List der Vernunft“ gebraucht. Auch in der Natur herrscht gesetzmäßige Entwicklung. Sie schreitet vom Unbelebten durch das Pflanzen- und das Tierreich zur Menschheit auf. Die Geschichte der Menschheit ist nur ein Teil der Entwicklung der Natur. Die höchste Frucht dieser Geschichte ist aber der kollektive geistige Besitz der Menschheit, der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie, in denen die Menschheit die Natur sinnlich erschaut, sich vorstellt und begreift. Der Weltgeist bedient sich des Naturmechanismus, um die Entwicklung zu immer höheren Stufen zu führen, bis schließlich auf der höchsten Stufe, in der Philosophie, der Geist zur Erkenntnis seiner selbst gelangt. Selbsterkenntnis des Geistes ist das Ziel, das der Weltgeist mittels des Mechanismus erreicht. In diesem Gedanken erweist sich Hegels Philosophie als eine echte Professoren-, Intellektuellenphilosophie, der die Erkenntnis nicht bloßes Mittel des Lebens, sondern höchstes Ziel alles Strebens, letztes Ergebnis aller Entwicklung ist; als die echt deutsche Philosophie einer Zeit, in der das deutsche Bürgertum erst mit geistigen Waffen gegen den Feudalismus streiten konnte, während das französische und das britische Bürgertum ihn schon mit materiellen Waffen niederstrecken konnte; einer Zeit, in der das wirtschaftlich rückständige, politisch zersplitterte Deutschland sich bescheiden mußte, das Land der Denker und Dichter zu sein, während Briten und Franzosen die Welt untereinander teilten.
Alles Geschehen ist Mechanismus: Anziehung und Abstoßung von Massen in der Natur, Kooperation und Konkurrenz von Individuen in der Gesellschaft. Darin ist Hegel ein Kind des Kapitalismus. Aber der Mechanismus ist nur das Mittel, dessen der Weltgeist sich bedient, um sich schließlich zu setzen in der kollektiven Organisation der Menschheit, im objektiven Geist, als Staat, und sich schließlich zu erkennen im kollektiven geistigen Besitz der Menschheit, im absoluten Geist, als Philosophie. Darin weitet sich Hegels aus den Kämpfen der bürgerlichen Revolution, aus den Kämpfen zwischen Kapitalismus und Feudalismus, zwischen Revolution und Reaktion, zwischen Naturrechtslehre und historischer Rechtsschule erwachsene Geschichtsauffassung zu einem Weltbilde aus.
Mit dieser ganzen Gedankenmasse nun, die im letzten Grunde aus der feudal-romantischen Rechts- und Staatslehre hervorgegangen ist, verknüpft Hegel eine andere, die aus der Fortbildung der naturrechtlichen Erkenntniskritik Kants erwachsen ist.
Kant hat die reinen Denkformen auf empirischem Wege gewonnen: er hat die mathematische Naturwissenschaft seiner Zeit geprüft und zu ermitteln versucht, welche ihrer Bestandteile uns nicht durch die Sinnesorgane zugeführt sein können, sondern unserem Erkenntnisvermögen zugeschrieben, als reine Formen des Denkens angesehen werden müssen. So gewann er seine Tafel der Kategorien. Unser Verstand ist ihm ein System unveränderlicher Kategorien, Denkformen, in die wir das Empfindungsmaterial gießen. Diese Vorstellung befriedigte seine Schüler nicht. Die Forderung nach strenger innerer Gesetzmäßigkeit des Geistes veranlaßt sie, einen Mechanismus zu suchen, mittels dessen der Geist aus sich heraus alle Kategorien hervorbringt. Dieser Mechanismus ist die Dialektik. In der Dialektik geht ein Begriff aus dem anderen hervor; so ersinnt Fichte eine Eigenbewegung des Geistes, die aus den allgemeinsten Begriffen immer konkretere, bestimmtere hervorbringt. Kant unterscheidet am empirischen Begriffe die ihm von unserem Erkenntnisvermögen gegebene Form und die durch die Empfindungen gelieferte Materie; Fichte glaubt, auch die empirischen Begriffe aus bloßer Eigenbewegung unseres Erkenntnisvermögens hervorbringen zu können: die allgemeinsten Kategorien, die reinen Urbegriffe des Verstandes, sich dialektisch fortbewegend, bestimmen sidi selbst zu immer konkreteren Begriffen. Der Geist bildet nicht mehr die Natur, indem er das Empfindungsmaterial formt, sondern er schafft die Natur durch die Eigenbewegung seiner Kategorien. Der Geist aber ist nicht eine von der Natur unterschiedene Substanz, sondern bloße Aktualität: bloßer Inbegriff der dialektisch auseinander abgeleiteten Kategorien. So wird der Geist identisch mit der Natur, Denken und Sein werden eins; denn die einzelnen Bestimmungen des Seins sind nichts anderes als die einzelnen Begriffe, die das Denken in seiner dialektischen Bewegung durchläuft, und die einzelnen Begriffe des Denkens sind nichts anderes als die einzelnen Bestimmungen des empirischen Seins, die mittels der dialektischen Methode nur in Beziehung zueinander gesetzt, auseinander abgeleitet werden. Diese Gleichsetzung des Denkens und des Seins bringt zwei starke Bedürfnisse des Zeitalters in Einklang: Einerseits die Forderung, nach dem Vorbilde des Naturrechts in der Menschenbrust den Ursprung der Naturgesetze zu finden, den menschlichen Geist also als Urheber der Naturordnung zu begreifen, – damit ist Fichte der Fortsetzer Kants. Andererseits aber den Empirismus des Zeitalters des Kapitalismus: denn da der Gegensatz zwischen der Erkenntnis und dem Sein, zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich verschwindet, da die Begriffe, die dialektisch auseinander hervorgehen, identisch sind mit den Bestimmungen des empirischen Seins, ist das ganze empirische Sein mit dem ganzen Reichtum seiner Bestimmungen der Inhalt der Philosophie. Die Philosophie hat nicht mehr hinter dem empirischen Reiche der Erscheinungen ein Reich metaphysischer Wesenheiten zu suchen; sie hat es mit dem empirischen Sein selbst zu tun, es in seiner ganzen Buntheit darzustellen. Und ihr Verfahren unterscheidet sich von dem der Einzelwissenschaften nur dadurch, daß sie die einzelnen Bestimmungen des Seins rationalistisch, mittels der dialektischen Methode auseinander hervorgehen läßt als Bestimmungen des sich selbst bewegenden Denkens. So bildet Hegel die Dialektik Fichtes fort zu jener Identitätsphilosophie, die rationalistisch nur nach der Methode, aber empirisch dem Inhalte nach ist. Darin ist Hegel ein echter Sohn des 19. Jahrhunderts, ein echter Sohn des Zeitalters der mächtigen Entwicklung der empirischen Einzelwissenschaften.
Hegel verknüpft nun die beiden Gedankenmassen miteinander, die wir bisher gesondert betrachtet haben: er verknüpft die aus der feudal-romantischen historischen Rechtslehre hervorgegangene Geschichts- und Weltauffassung mit der aus der bürgerlich-naturrechtlichen Erkenntniskritik Kants hervorgegangenen Dialektik. Der Weltgeist wird nicht als Substanz gedacht, sondern als Aktualität, als dialektische Eigenbewegung der Kategorien: als solche ist er identisch mit dem empirischen Sein in der Natur und in der Gesellschaft, dessen einzelne Bestimmungen als aufeinander folgende, auseinander hervorgebrachte Kategorien des Weltgeistes dargestellt werden. Die Entwicklung der Natur endet in der Menschheit; der subjektive Geist, das menschliche Bewußtsein ist das letzte Erzeugnis des Naturmechanismus. Auch der subjektive Geist ist nichts als dialektische Eigenbewegung der Kategorien. Der subjektive Geist bringt die Natur zum ändern Male, nämlich als Gegenstand seiner Erkenntnis hervor. Aber der Mensch unterscheidet seine subjektive Denktätigkeit von ihrem Gegenstande; Geist und Natur, an sich identisch als Einheit des Weltgeistes mit der Natur, werden für uns verschieden in der Unterscheidung des subjektiven Geistes von dem Gegenstande seines Denkens. Aber die Bewegung des subjektiven Geistes endet in der Philosophie, in der der Geist als menschliches Bewußtsein sich selbst als Bestimmung des Weltgeistes, sich als identisch mit dem Weltgeist und dadurch auch identisch mit der Natur wiedererkennt.
Diese Synthese der aus zwei verschiedenen Wurzeln hervorgegangenen Gedankenmassen dient wieder zwei verschiedenen, einander widerstreitenden Bedürfnissen des Zeitalters Hegels. Sie dient einerseits dem religiösen Zuge der Zeit: Die Kriegsnot der Napoleonischen Zeit hatte die Menschen wieder beten gelehrt; und die feudal-absolutistische Gegenrevolution verstand es, das religiöse Bedürfnis der Volksmassen als ihr Herrschaftsmittel zu gebrauchen. Hegel kommt diesem Bedürfnis entgegen: die Natur ist Eigenbewegung des Weltgeistes, der Weltgeist ist Gott. Aber andererseits ist Hegels Zeitalter doch auch eine Zeit schneller Entwicklung des Kapitalismus und schneller Fortbildung der mechanistischen Naturwissenschaft, die die Natur als Mechanismus denken, keines Gottes Eingreifen in die Natur dulden will. Und auch diesem Bedürfnis wird Hegel gerecht: denn sein Weltgeist ist kein Gott, der „von außen stieße“, er ist nichts als Eigenbewegung der Kategorien, die identisch sind mit den Bestimmungen des empirischen Seins, nichts als eine rationalistische Methode, die einzelnen Bestimmungen des empirischen Seins im Denken auseinander hervorgehen zu lassen. Kein Wunder, daß Theisten und Atheisten zugleich sich auf Hegel berufen konnten!
In der Durchführung der Dialektik im einzelnen steht Hegel ganz im Banne der Naturauffassung des Kapitalismus. Am deutlichsten zeigen das die ersten Kapitel der „Logik“. Fordert die mechanistische Naturauffassung, daß wir die Qualitäten in Quantitäten auflösen, allein Hegel, daß die Quantität aus sich die Qualität setze, in die Qualität umschlage. Fordert die mechanistische Naturauffassung, daß wir die abstrakten Größenbegriffe, die die Rückführung; aller Naturerscheinungen auf mechanische Arbeit als ihr gemeinsames Maß ermöglichen, als das Wesen der Erscheinungen naschen, so lehrt Hegel, das Maß sei das Wesen der Dinge. Die ganze Darstellung vom Sein, Wesen und Begriff in der Logik eine Beschreibung des Verfahrens der mathematischen Naturwissenschaft, wie sie das Zeitalter des individualistischen Kapitalismus aufgefaßt hat. Aber wenn auch für Hegel der Mechanismus der individuellen Kräfte eine notwendige Bestimmung des Weltgeistes ist, so ist sie für ihn andererseits doch nur eine seiner Bestimmungen; nur eine der Phasen, die der unpersönliche Weltgeist durchläuft, um, durch sie hindurch- und über sie hinwegschreitend, sich zu objektivieren im überpersönlichen objektiven Geist, im Staat, und sich zu erkennen im überpersönlichen absoluten Geist, in der Philosophie. Das ist die universalistische Tendenz dieser deutschen Philosophie, die die Naturauffassung des individualistischen Kapitalismus zwar in sich aufnimmt, aber sie zugleich begrenzt. Darin weist sie hinter den individualistischen Kapitalismus zurück und über ihn hinaus. Hinter ihn zurück: denn aus feudal-christlicher Reaktion gegen die bürgerliche Revolution ist diese Philosophie erwachsen. Aber zugleich auch über ihn hinaus: denn die Vorstellung, daß der Wettbewerb der individuellen Kräfte nur ein Mittel ist, dessen sich der Weltgeist zu seinen Zwecken bedient, und daß aus diesem Kampfe als eine von allen Zwecken der Kämpfenden verschiedene Wirkung der objektive Geist hervorgeht, wird, aus der Natur in die menschliche Gesellschaft rückübersetzt, in Marxens Jugendschriften zur Keimzelle des wissenschaftlichen Sozialismus.
Je vois rever Platon et penser Aristote; |
Musset, L’espoir en Dieu. 1838. |
Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008