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Literatur:
Die Tätigkeit des Verbandes der sozialdemokratischen Abgeordneten, 13. Heft. Wien 1920.
Deutsch, Aus Österreichs Revolution, Wien 1921. – Bauer, Die Offiziere und die Republik, Wien 1921.
Leichter, Die neue „Linke“, Der Kampf, 1919. – Bauer, Die alte und die neue Linke, Der Kampf, 1920. – Rothe, Die Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Sozialdemokraten Deutschösterreichs, Der Kampf, 1920. – Friedrich Adler, Referat über die Arbeiterräte und die Internationale auf dem Parteitag der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie 1921.
Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, 5. Teil: Die Bundesverfassung, Wien 1922. – Danneberg und Leuthner, Verfassung und Sozialdemokratie, Wien 1920.
Statistik der Nationalratswahlen des Jahres 1920, Beiträge zur Statistik der Republik Österreich, 11. Heft; Wien 1921.
Nach der Ratifizierung des Friedensvertrages von St. Germain legte die im Februar 1919 gewählte Koalitionsregierung ihr Amt zurück. Am 17. Oktober 1919 wurde die zweite Koalitionsregierung gewählt. Der äußeren Erscheinung nach handelte es sich um keine Änderung des Regierungssystems, nur um eine Änderung der persönlichen Zusammensetzung der Regierung. In Wirklichkeit zeigte sich schon bei der Bildung„ erst recht in der Wirksamkeit dieser Regierung die Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die seit der Konterrevolution in Ungarn, wirksam geworden war.
In der Zeit der Bildung der ersten Koalitionsregierung bestanden die stärksten Gegensätze zwischen den bäuerlichen und den Wiener Christlichsozialen. In dem Maße, als der „Heimkehrer“ wieder zum Bauern geworden war, als die bäuerliche Bewegung den starken demokratischen Charakter der Umsturzzeit verloren und sich immer einseitiger gegen die Arbeiterklasse gewendet hatte, war dieser Gegensatz überwunden worden. Es war den Wiener Klerikalen gelungen, die bäuerlichen Abgeordneten allmählich wieder ihrer Führung unterzuordnen. Der Prälat Seipel wurde zum tatsächlichen Führer der christlichsozialen Partei. So trat die christlichsoziale Partei in die zweite Koalition viel gefestigter ein als in die erste. Die erste Koalition war eine Klassenallianz der Arbeiter mit den Bauern. Die zweite Koalition war eine banale Parteienkoalition der Sozialdemokraten mit den Christlichsozialen.
Die Sozialdemokratie teilte die Herrschaft nun nicht mehr mit den Vertretern der Bauernschaft, sondern mit dem durch die städtischen Christlichsozialen repräsentierten Teil des Bürgertums, der nun wieder die bäuerlichen Stimmen kommandierte. Das Selbstbewußtsein dieses Bürgertums aber war bereits mächtig erstarkt, seitdem es, nach den Siegen der Konterrevolution in Ungarn und in Bayern, vor der proletarischen Revolution nicht mehr zitterte. Es beengte die Aktion der neuen Regierung durch die Koalitionsvereinbarungen, die bei der Bildung der neuen Regierung geschlossen wurden, und durch das Koalitionskomitee, unter dessen Kontrolle die Tätigkeit der neuen Regierung gestellt wurde. Alle wichtigen Regierungsakte und Gesetzesvorlagen mußten nunmehr im Koalitionskomitee zwischen den beiden Parteien vereinbart werden. Im Koalitionskomitee hielten die Kräfte beider Parteien einander die Wage. Die erste Regierung Renner war das Organ der Vorherrschaft der Arbeiterklasse gewesen; in der zweiten Koalitionsregierung, an deren Spitze gleichfalls Renner als Staatskanzler stand, herrschte bereits ein Gleichgewichtsverhältnis zwischen den Kräften der in ihr vertretenen Klassen.
Nun folgte ein unfruchtbarer Stellungskrieg zwischen den beiden koalierten Parteien. Jede der beiden Parteien war stark genug, die andere am Handeln zu hindern, keine stark genug, der anderen ihren Willen aufzuzwingen. Die Aktionskraft der Regierung und der Gesetzgebung war gelähmt. Der Friedensvertrag zwang uns, unsere Wehrverfassung zu ändern. Die Konstituierende Nationalversammlung mußte, nachdem der Friedensvertrag unser Staatsgebiet umgrenzt und uns den Anschluß an Deutschland verwehrt hatte, der Republik ihre Verfassung geben. Die Geldentwertung erforderte Maßregeln, die den zerrütteten Staatshaushalt in Ordnung bringen sollten; über die von der Sozialdemokratie geforderte Vermögensabgabe mußte die Entscheidung fallen. Aber über alle diese Probleme konnten sich die koalierten Parteien nicht einigen. Die Maschine der Gesetzgebung stand still.
Koch einmal gelang es, diesen Lähmungszustand zu überwinden. Es bedurfte dazu eines mächtigen äußeren Anstoßes. Am 13. März 1920 wurde in Österreich der Einmarsch der Döberitzer Truppen in Berlin, der Putschversuch der reichsdeutschen Konterrevolution, bekannt. Die Massen sahen die deutsche Republik bedroht. Die Massen begriffen sofort, daß damit auch die österreichische Republik in Gefahr geriet. Große Erregung packte die Betriebe und die Kasernen. Schon am folgenden Tage demonstrierten die Volkswehrbataillone und die Arbeitermassen auf der Ringstraße gegen die Konterrevolution. Im Deutschen Reich erhob sich, von der Regierung selbst zum Kampf gerufen, das Proletariat. Es war nicht vorauszusehen, wie weit der Generalstreik des deutschen Proletariats führen, nicht vorauszusehen, wie weit er die erregten Massen des österreichischen Proletariats mitreißen werde. Die österreichische Bourgeoisie war eingeschüchtert. Wir benützten diese Krise, um den Widerstand der Christlichsozialen gegen das von Julius Deutsch vorgeschlagene Wehrgesetz zu brechen. Die Christlichsozialen gaben nach. In den Tagen des Kapp-Putsches wurde das Wehrgesetz von der Nationalversammlung beschlossen.
Der äußere Rahmen der Wehrverfassung war uns durch den Friedensvertrag vorgeschrieben. Die Organisation der Volkswehr entsprach den Bestimmungen des Friedensvertrages nicht. An Stelle der Volkswehr mußte also eine neue Wehrmacht geschaffen werden. Seit dem Siege der Konterrevolution in Ungarn fühlten wir uns vom Osten her bedroht; wir brauchten ein kampffähiges Heer, um erforderlichenfalls unsere Grenzen gegen Einbruch der ungarischen Truppen, unsere republikanische Verfassung gegen die auf Ungarn gestützte habsburgische Konterrevolution zu schützen. Die Kampffähigkeit des Heeres setzt Disziplin voraus. Im Oktober 1918 war die Kommandogewalt der Offiziere zusammengebrochen. In der Volkswehr waren die Offiziere machtlos. Die wirkliche Macht lag in den Händen der Soldatenräte, unter deren Kontrolle allein die Offiziere befehlen konnten. Dabei konnte es nicht bleiben. Wollten wir ein kampffähiges Heer haben, so mußte die Befehlsgewalt der Offiziere wiederhergestellt werden. Aber so notwendig die Wiederherstellung der militärischen Disziplin in unserem Heere war, so gefährlich war sie. Wohl hatte Deutsch seit dem Umsturz, viele Mannschaftspersonen zu Offizieren ernannt; diese „Volkswehrleutnants“ sollten nun auch in die neue Wehrmacht als Offiziere übertreten. Aber die überwiegende Mehrheit der Offiziere mußte doch dem Offizierskorps der alten k.u.k. Armee entnommen werden. Es war ein reaktionär gesinntes, ein in monarchistischen Traditionen erzogenes Offizierskorps, dessen Kommandogewalt wiederhergestellt werden sollte. Hätten wir die Wehrmänner schrankenloser Gewalt eines solchen Offizierskorps ausgeliefert, dann wäre die neue Wehrmacht zu einem blinden Werkzeug der Monarchisten gegen die Republik, der nach gewaltsamer Konterrevolution lüsternen Bourgeoisie gegen das Proletariat geworden. Wie groß diese Gefahr war, zeigte soeben der Kapp-Putsch in Deutschland: dort hatte sich ja soeben die Armee der Republik gegen die Republik erhoben. Es galt also, zwar einerseits die Befehlsgewalt der Offiziere und die Disziplin der Mannschaft wiederherzustellen, aber anderseits hinreichende Bürgschaften dafür zu schaffen, daß Befehlsgewalt und Disziplin nicht dazfu. mißbraucht werden können, die Wehrmacht in ein Werkzeug der politischen und der sozialen Reaktion zu verwandeln. Das war die überaus schwierige Aufgabe, die unsere Wehrgesetzgebung lösen sollte.
Wir stellten die alten Militärgerichte nicht wieder her, die Rechtsprechung über militärische Delikte wurde den Zivilgerichten übertragen. Die Bestimmungen des Militärstrafgesetzes wurden gemildert. Aber es traten nun doch wieder Bestimmungen in Kraft, die jede Verletzung der militärischen Gehorsamspflicht mit strengen Strafen bedrohen. Wir stellten die Disziplinarstrafgewalt der Vorgesetzten und die entehrenden Freiheits- und Körperstrafen des Disziplinarstrafrechtes der k.u.k. Armee nicht wieder her. Die Disziplinarstrafgewalt über die Wehrmänner wurde aus der Mannschaft selbst gebildeten Disziplinarkommissionen übertragen. Aber die Strafen, die diese Disziplinarkommissionen zu verhängen haben – Kürzung der Bezüge, Ausschließung aus dem Heere – sind doch hart genug, um die Disziplin in dem neuen Heere zu erzwingen. Durch die Militärstrafgesetznovelle und das Disziplinargesetz wurde die eine Aufgabe wirksam gelöst: die militärische Disziplin wieder herzustellen. Das Wehrgesetz mußte die andere Aufgabe lösen: die Garantien zu schaffen, daß die Wehrmänner freie Männer bleiben, die, diszipliniert im täglichen gesetzlichen Dienstbetrieb, doch selbstbewußt genug bleiben, den Gehorsam zu verweigern, wenn die Befehlshaber sie zu Zwecken der Reaktion, der Konterrevolution mißbrauchen wollen. Zu diesem Zwecke bestimmt das Wehrgesetz zunächst, daß die Wehrmänner im vollen Genuß aller Rechte als Staatsbürger, vor allem des Wahl-, des Vereins- und des Versammlungsrechtes bleiben; diese Bestimmung ermöglichte es uns, die Wehrmänner im „Militärverband“, der Gewerkschaft der Heeresangehörigen, zusammenzufassen, der nicht nur die materiellen Interessen der Wehrmänner zu wahren, sondern auch für die Erziehung der Wehrmänner im republikanischen und sozialistischen Geist zu sorgen hat. Zu demselben Zwecke führte das Wehrgesetz auch in die neue Wehrmacht die Institution der Soldatenräte, wenngleich mit verändertem Aufbau und engerem Kompetenzenkreis, ein; nicht nur als Wahrer der Rechte und Interessen der Wehrmänner, sondern auch als Hüter des republikanischen Charakters der Armee wurden von den Wehrmännern freigewählte Vertrauensmänner jeder Kommandostelle beigegeben. Wie die Wehrmänner diese Rechte zu gebrauchen verstehen, hängt freilich von der Zusammensetzung der Wehrmannschaft ab. Wir waren darum darauf bedacht, in das Wehrgesetz Bestimmungen aufzunehmen, die die Werbung tüchtiger, selbstbewußter Arbeiter für das neue Heer erleichtern sollten. Zu diesem Zwecke ermöglicht das Wehrgesetz den Wehrmännern den Aufstieg in das Offizierskorps; zu demselben Zwecke bestimmt das Wehrgesetz, daß den Wehrmännern, die nicht in die Offiziersschulen aufgenommen werden, in ihrer Dienstzeit Gelegenheit zu ihrer beruflichen Ausund Fortbildung für ihr späteres Leben geboten werden soll.
Das Wehrgesetz schuf so einen eigenartigen, sich in keinem Heere der Welt wiederholenden Dualismus, der sich durch die ganze Struktur der Wehrmacht der Republik zieht; den Dualismus zwischen militärischer Disziplin und staatsbürgerlicher Freiheit, zwischen militärischer Hierarchie und gewerkschaftlicher Organisation, zwischen der Kommandogewalt des Vorgesetzten und dem Kontrollrecht des Vertrauensmannes, zwischen militärischer und beruflicher Ausbildung. Daß dieser Dualismus innere Schwierigkeiten innerhalb der Wehrmacht hervorruft, ist unleugbar. Aber dieser Dualismus ist unentbehrlich, wenn nicht die Kommandogewalt der aus der kaiserlichen Armee übernommenen Offiziere die Armee in ein Instrument zum Umsturz der republikanischen Staatsverfassung, zur gewaltsamen Niederwerfung der Arbeiterklasse verwandeln soll. Erst wenn das alte kaiserliche Offizierskorps durch ein neues, aus der Mannschaft des republikanischen Heeres selbst hervorgegangenes, nicht mehr von monarchistischen Traditionen beherrschtes, nicht mehr sozial und politisch reaktionäres Offizierskorps ersetzt sein wird, werden wir jenes System von Gegengewichten gegen die Kommandogewalt des Offizierskorps, jenes System von Institutionen entbehren können, durch die das Wehrgesetz den Mißbrauch der Kommandogewalt zu den Zwecken der sozialen und der politischen Reaktion zu verhüten versucht.
Sobald das Wehrgesetz beschlossen war, ging Deutsch daran, die neue Wehrmacht – das „Bundesheer“, wie sie seit dem November 1920 heißt – aufzustellen. Ihre Aufstellung in kurzer Zeit war eine bedeutende organisatorische Leistung; die Leistung vor allem des Amtsleiters des Staatsamtes für Heerwesen, des Generals Körner, eines der besten Offiziere der alten kaiserlichen Armee, der seit dem Umsturz sein großes militärisches Können und seinen im besten Sinne des Wortes soldatischen Charakter treu in den Dienst der Republik gestellt hat. Die Füllung der Kaders des Bundesheeres war vor allem die Sorge der Sozialdemokratie; es gelang uns, die besten Elemente der Volkswehr in das Bundesheer überzuführen, viele junge Parteigenossen zum Eintritt in das Bundesheer zu bewegen, die überwiegende Masse der Wehrmänner in dem „Militärverband“ zu vereinigen und die überwiegende Mehrheit der Soldatenräte unter unsere Führung zu stellen. Der Übergang von der Volkswehr zum Bundesheer konnte sich freilich nicht ohne Schwierigkeiten vollziehen. Einerseits lehnten sich die Wehrmänner, an die so ganz anderen Verhältnisse innerhalb der Volkswehr gewöhnt, in der ersten Zeit sehr oft und sehr leidenschaftlich gegen die Wiederherstellung der Kommandogewalt der Offiziere auf. Anderseits versuchten es die Offiziere sofort, die auf dem Wehrgesetz beruhende Tätigkeit der Soldatenräte zu hindern und den militärischen Dienstbetrieb wieder in die alten, ihnen aus der kaiserlichen Armee vertrauten, mit dem Selbstbewußtsein der republikanischen Wehrmannschaft unvereinbaren Formen zu zwingen. Dies führte zu häufigen Konflikten, die schließlich mit Anklagen wegen Meuterei und Gehorsamsverletzung vor den Gerichten endeten; die harten Urteile, von dem Klassenhaß der Bourgeoisie gegen die Wehrmannschaft, die die Bourgeoisie als eine Stütze der Machtstellung des Proletariats haßte, eingegeben, verschärften nur die Gegensätze innerhalb des Bundesheeres. Allmählich aber gelang es doch, diese Schwierigkeiten der Übergangsperiode zu überwinden, die Institutionen der neuen Wehrverfassung in regelmäßigen Gang zu setzen, der in dem Maße, als sie sich einlebten, immer seltener durch Reibungen und Konflikte gestört wurde.
Die Volkswehr, in den Sturmtagen der Revolution entstanden, war ein Instrument proletarischer Offensivkraft gewesen. Aber eine revolutionäre Improvisation, konnte sie nur in der Revolutionszeit bestehen bleiben; ohne geordneten Dienstbetrieb, ohne militärische Disziplin, konnte sie ein dauerhaftes Gebilde nicht sein. Das Bundesheer, in einer Zeit aufgestellt, in der die Wogen der Revolution bereits zurückfluteten, ist ganz anderen Wesens. Es ist in einer Zeit entstanden, in der das Proletariat nicht neue Eroberungen machen konnte, aber die wesentlichen Errungenschaften der vorausgegangenen Revolutionsperiode befestigen, sie in dauerhafte Institutionen der Republik verwandeln mußte. Das ist durch die Aufstellung des neuen Bundesheeres in hohem Maße gelungen. In dem Gleichgewichtsverhältnis zwischen der Kommandogewalt des Offizierskorps einerseits und der Organisation der Mannschaft durch Militärverband und Vertrauensmänner anderseits spiegelt sich das Gleichgewicht zwischen den Kräften der Klassen, das in der Periode der Entstehung des Bundesheeres bestand. Infolge der Wiederherstellung der Kommandogewalt des Offizierskorps kein Instrument proletarischer Offensivkraft mehr, ist das Bundesheer doch dank der Zusammensetzung und der Organisation seiner Mannschaft und dank den Rechten, mit denen das Wehrgesetz seine Mannschaft ausstattete, auch kein Instrument der Offensive der Konterrevolution. Die Garantien gegen den Mißbrauch der Kommandogewalt, die das Wehrgesetz enthält, sichern vor allem die Republik dagegen, daß das Bundesheer zu einem Werkzeug monarchistischer Konterrevolution wird, wie es die deutsche Reichswehr in den Tagen des Kapp-Putsches geworden ist. Die Waffen in den. Händen einer klassenbewußten proletarischen Wehrmannschaft schützen darüber hinaus das Proletariat vor gewaltsamer Niederwerfung durch eine bewaffnete Konterrevolution. In der Zeit der schwersten Gefahr, in der Zeit der Kämpfe um das Burgenland ist dieser Heeresmechanismus zum erstenmal in Wirksamkeit getreten und hat sich damals unzweifelhaft bewährt. Die Wiederherstellung der militärischen Disziplin hat dem Bundesheer die innere Ordnung und die Aktionsfähigkeit gegeben, die sich bei der Besetzung des Burgenlandes bewährt hat. Der republikanische Geist und die sozialistische Überzeugung der Wehrmannschaft haben ihre Wachsamkeit und ihre Kampfkraft im Kampfe gegen die Banden der magyarischen Konterrevolution gewaltig erhöht.
Die bürgerlichen Parteien hatten in den Tagen der großen Erregung, die der Kapp-Putsch hervorrief, dem. Wehrgesetz zugestimmt. Als aber der Generalstreik der Arbeiter im Deutschen Reiche ohne anderes Ergebnis endete als mit der bloßen Wiederherstellung der Republik, bereuten es die Christlichsozialen, daß sie sich in den Tagen der großen Erregung hatten überrumpeln lassen. Jetzt empfanden sie das Wehrgesetz als eine schwere Niederlage des Bürgertums. Die Gegensätze zwischen den koalierten Parteien verschärften sich. Der Stellungskrieg im Koalitionskabinett und im Koalitionskomitee begann von neuem. Der Widerstand der Christlichsozialen gegen alle unsere Forderungen erstarkte nun wieder.
Je stärker innerhalb der Koalition der Widerstand des Bürgertums wurde, desto stärker lehnte sich die Arbeiterschaft gegen die Koalitionspolitik auf. Es gab innerhalb der Arbeiterschaft keine starke Opposition gegen die Koalitionspolitik, solange die Koalitionsregierung ein Instrument der Vorherrschaft der Arbeiterklasse war. Sobald sich aber innerhalb der Koalition die Kräfte der Klassen die Wage hielten und ihre Opposition gegeneinander die Koalitionsregierung unfruchtbar machte, entwickelte sich innerhalb der Arbeiterschaft eine schnell erstarkende Opposition gegen die Koalitionspolitik. Schon im Jahre 1919 hatte sich innerhalb der Wiener Arbeiterräte eine Gruppe von Parteigenossen zusammengeschlossen, die sich – im Gegensatz zu der „Linken“ der Kriegszeit – die „neue Linke“ nannte, sich innerhalb der Wiener Arbeiterräte als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Arbeiterräte“ konstituierte und eine eigene Wochenschrift herausgab. Diese Gruppe forderte grundsätzlich die Rätediktatur, sie glaubte, die Koalitionspolitik sei ein Abfall der Partei von den Grundsätzen des Klassenkampfes, sie näherte sich in der Opposition gegen die Parteiführung den Kommunisten. Im Frühjahr und Sommer 1920 erlangte diese Opposition innerhalb der Partei einige Bedeutung.
Es war dies die Zeit, in der die militärischen Siege der russischen Sowjetrepublik den leidenschaftlichen Enthusiasmus des ganzen internationalen Proletariats erweckten. In der Zeit des russisch-polnischen Krieges setzten die Arbeiterräte Kontrollausschüsse ein, die den Eisenbahnverkehr ihrer Kontrolle unterwarfen und mit sehr großem Erfolg den Schleichhandel mit Waffen und Munition nach Polen und Ungarn bekämpften. Aber waren die Arbeiterräte einig in dieser Aktion der Solidarität mit der russischen Revolution, so wurde ein Teil der Arbeiterräte durch den allgemeinen Enthusiasmus für die russische Revolution der bolschewistischen Ideologie in die Arme geworfen. In der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands, in der sozialistischen Partei Frankreichs, in beiden sozialdemokratischen Parteien der Tschechoslowakei bereitete sich damals die Parteispaltung vor; große Teile dieser Parteien, bereits in den Bann des Bolschewismus geraten, forderten den Anschluß an die Moskauer Internationale. Diese Welle des Bolschewismus, die durch ganz Europa ging, mußte auch die Denkweise breiter Schichten der österreichischen Arbeiterschaft beeinflussen. Und dieser Einfluß mußte um so stärker werden, da die österreichische Arbeiterschaft fühlte, daß ihr Einfluß innerhalb der Koalition schwächer wurde, die Ergebnisse ihrer auf dem Boden der Demokratie geführten Kämpfe spärlicher wurden. So wuchs der Einfluß der „neuen Linken“. Sie gab der Opposition der Massen gegen die Koalitionspolitik Ausdruck; ihre Agitation nährte und stärkte die Auflehnung der Massen gegen die Koalitionspolitik.
In den Arbeiterräten traten die Kommunisten und die in der „Arbeitsgemeinschaft“ organisierte „neue Linke“ als kleine, aber geschlossene Gruppen auf. Die anderen Arbeiterratsmitglieder, die die überwiegende Mehrheit bildeten, waren nicht in einer Fraktion organisiert; von ihnen stimmte jeder nach seiner persönlichen Überzeugung. Je unzufriedener die Massen mit der Koalitionspolitik wurden, desto häufiger gelang es den Kommunisten und der „Arbeitsgemeinschaft“, einen großen Teil der keiner Fraktion angehörigen Arbeiterratsmitglieder mitzureißen, sie für ihre Anträge zu gewinnen. Auf diese Weise verfügte die „neue Linke“ in der dritten Tagung des Reichsarbeiterrates Anfang Juni 1920 bereits über die Mehrheit der Stimmen.
Wir sahen, daß die Koalition infolge des erstarkten Widerstandes des Bürgertums unfruchtbar geworden war; daß keine Aussicht mehr bestand, uns mit den Christlichsozialen über die großen aktuellen Fragen, über die Verfassung, über die Vermögensabgabe, über die Organisation der Getreidebewirtschaftung im nächsten Erntejahr zu verständigen. Wir sahen anderseits, daß immer breitere Schichten der Arbeiterschaft die Auflösung der Koalition forderten. Schon lange vor der dritten Tagung des Reichsarbeiterrates waren wir entschlossen, die Koalition zu sprengen. Aber wir durften das nicht sofort tun. Vorerst mußte die Partei noch kurze Zeit in der Regierung bleiben, um noch einige für das Proletariat wichtige Arbeiten abzuschließen. Deutsch beschleunigte die Aufstellung des neuen Bundesheeres und den Abbau des alten Offizierskorps; Glöckel barg noch die wichtigsten Maßregeln der Schulreform; Hanusch beeilte sich, noch einige wichtige Gesetze und Verordnungen, die die sozialpolitische Gesetzgebung der ersten Koalitionsregierung ergänzen sollten, durchzusetzen. Die Gesetze über die Einigungsämter und die kollektiven Arbeitsverträge, über die Errichtung der Arbeiter- und Angestelltenkammern, Sondergesetze und Verordnungen über den Dienstvertrag der Hausgehilfinnen und über die Arbeitsverhältnisse einzelner Arbeiterkategorien (Gastgewerbe, Rechtsanwaltskanzleien), vor allem aber das Gesetz vom 24. März 1920, das an die Stelle der nur als provisorische Einrichtung geschaffenen staatlichen Arbeitslosenunterstützung die dauernde Institution der Arbeitslosenversicherung setzte, sind die sozialpolitischen Früchte der zweiten Koalition. Erst als diese wichtigen Errungenschaften der Arbeiterklasse geborgen waren, durften wir dem Druck der Arbeitermassen nachgeben, die Koalition auflösen.
Den Anlaß dazu bot der Streit um die Durchführung des Wehrgesetzes. Am 25. Mai hatte Deutsch einen Erlaß ausgegeben, der die Befugnisse der Soldatenräte regelte. Dieser Erlaß wurde von den bürgerlichen Parteien heftig bekämpft. In der Sitzung der Nationalversammlung am 10. Juni sahen wir uns einer Koalition der Christlichsozialen und der Großdeutschen gegenüber, die vereint gegen Deutsch losgingen. Im Verlauf der heftigen Debatte wagte es Kunschak, mit der Auflösung der Koalition zu drohen, Wir nahmen ihn beim Worte. Die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder demissionierten. Die Arbeiterschaft nahm die Nachricht von der Sprengung der Koalition mit Jubel auf.
Wir forderten die bürgerlichen Parteien, die am 10. Juni gegen uns vereinigt gewesen waren, auf, allein eine Regierung zu bilden. Die bürgerlichen Parteien wagten dies nicht. Sie lehnten jede Regierungsbildung ohne unsere Teilnahme ab. So war die Nationalversammlung nicht mehr fähig, eine Regierung aus ihrem Schoße hervorzubringen. Die Parteien einigten sich daher, Neuwahlen auszuschreiben und mit der Führung der Regierungsgeschäfte bis zu den Wahlen eine aus allen Parteien in Verhältnis ihrer Stärke zusammengesetzte Regierung, die sogenannte Proporzregierung, zu betrauen. Die Proporzregierung wurde am 7. Juli 1920 gewählt.
Die Wirkungen der Sprengung der Koalition zeigten sich sofort. Solange die Koalition bestand, wurden die Streitfragen zwischen den koalierten Parteien innerhalb des Koalitionskomitees bereinigt; war im Komitee eine Vereinbarung geschlossen, so mußten in der Nationalversammlung die koalierten Parteien vereint stimmen. Die Christlichsozialen konnten also ihre Stimmen nicht mit denen der Großdeutschen gegen uns vereinigen. Nicht die bürgerliche Mehrheit entschied gegen die sozialdemokratische Minderheit, sondern durch das Kompromiß zwischen zwei gleich starken Parteien innerhalb des Koalitionskomitees wurde die Entscheidung gefällt. Das wurde nun anders. Es gab keine Koalition mehr. Der Proporzregierung gegenüber hatten sich alle Parteien volle Freiheit gewahrt. Jede Partei konnte nun stimmen, wie es ihr beliebte. Die Christlichsozialen und die Großdeutschen konnten ihre Stimmen gegen uns vereinigen, uns niederstimmen. Jetzt erst wurde die Tatsache wirksam, daß die Nationalversammlung eine bürgerliche Mehrheit hatte.
In der Tat standen wir sofort nach der Auflösung der Koalition einer bürgerlichen Koalition gegenüber. Wir hatten uns innerhalb der zweiten Koalition mit den Christlichsozialen über die Gestaltung der Vermögensabgabe und über den Aufbau der staatlichen Getreidebewirtschaftung nicht einigen können; jetzt entschied die bürgerliche Koalition gegen uns über beide Fragen. Am 21. Juli stimmte die Nationalversammlung über die Vermögensabgabe ab. Die bürgerliche Mehrheit stimmte unsere Anträge nieder. Die Fassung, die sie dem Gesetz gab, setzte die Abgabe so niedrig fest und sie verteilte die Einzahlungsfristen auf einen so großen Zeitraum, daß der Zweck des Gesetzes, das Staatsdefizit für längere Zeit auf Kosten der besitzenden Klassen zu bedecken und dadurch die Stillegung der Banknotenpresse zu ermöglichen, nicht erreicht werden konnte. Am 6. Juli wurde über das Getreidebewirtschaftungsgesetz abgestimmt. Die bürgerliche Mehrheit hob die straffe Getreidebewirtschaftung auf; das von ihr gegen uns beschlossene Gesetz war der erste entscheidende Schritt zur Wiederherstellung des freien Handels. Die beiden obersten Grundsätze unserer Wirtschaftspolitik: die Deckung eines möglichst großen Teiles des Staatsdefizits auf Kosten des Besitzes und die Aufrechterhaltung der Planwirtschaft in der Lebensmittelversorgung, hatten eine Niederlage erlitten.
Weit günstiger war unsere Machtstellung im Streit um die dritte der drei großen Streitfragen, an denen die zweite Koalitionsregierung gescheitert war: im Streit um die Verfassung. Die Konstituierende Nationalversammlung war gewählt worden, um der Republik die Verfassung zu geben. Alle Parteien wünschten nicht vor die Wähler zu treten, ohne diese Aufgabe erfüllt zu haben. Die Verfassung konnte aber nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden; da konnte uns die bürgerliche Mehrheit nicht überstimmen. So gelang es schließlich, im August auf der Grundlage eines von Professor Hans Kelsen ausgearbeiteten Verfassungsentwurfes ein Kompromiß zu schließen. Noch unmittelbar vor den Neuwahlen, am 1. Oktober 1920, beschloß die Konstituierende Nationalversammlung das Bundesverfassungsgesetz.
Seit dem Umsturz bargen sich die Klassengegensätze in den Kämpfen zwischen dem Staat, den Ländern und den Gemeinden. Die Bauernschaft und das Bürgertum der Landstädte vertraten den Partikularismus der Länder. Die Arbeiterklasse verfocht gegen den Partikularismus der Länder einerseits die Einheit des Staates, anderseits die Lokalverwaltung der Gemeinden, Bezirke und Kreise. Die Verfassung konnte nur ein Kompromiß zwischen diesen widerstreitenden Kräften herstellen. Sie konnte den Ländern nicht entreißen, was sie sich schon in den Sturmtagen des November 1918 auf Kosten des Staates erobert hatten. Der Staat wurde also als Bund der Länder konstituiert. Aber die Verfassung mußte dem anarchischen Weiterwuchern des Länderpartikularismus auf Kosten des Bundes ein Ende setzen und die Befugnisse, die die Länder an sich gerissen hatten, so weit einengen, daß die Einheit des Bundes als Wirtschafts- und Rechtsgebiets gesichert und die Vergewaltigung der Minderheiten in den Ländern verhütet werde. Dies hat die Verfassung bewirkt. Sie hat die Einheit des Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebietes festgelegt und die Länder zu allmählichem Abbau der Absperrungsmaßregeln, die sie gegeneinander und gegen Wien getroffen hatten, gezwungen. Sie schützt die sozialen und politischen Minderheiten in den Ländern, indem sie den Ländern die Grundsätze der Landesverfassungen, die Grundsätze des Landtags- und Gemeindewahlrechtes und die rechtliche Gleichstellung aller Bundeshürger mit den Landesbürgern vorschreibt. Sie hat der weiteren anarchischen Entwicklung der Ländersouveränität einen Hiebel vorgeschoben, indem sie der Bundesregierung das Recht zur Erteilung von Weisungen an die Landeshauptleute und ein Einspruchsrecht gegen Landesgesetze gewährt und dem Verfassungsgerichtshof das Recht einräumt, verfassungswidrige Landesgesetze und Landesverordnungen aufzuheben und verfassungswidrig handelnde Landeshauptleute ihres Amtes zu entheben. Die Verfassung brachte also den Ländern zwar die rechtliche Anerkennung, aber zugleich auch die rechtliche Begrenzung und Einengung der Machtbefugnisse, die sie in der Revolutionszeit an sich gerissen hatten.
Weit schwieriger als die Regelung des Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern war die Regelung des Verhältnisses zwischen den Ländern und der Lokalverwaltung in den Gemeinden, Bezirken und Kreisen. Denn hier handelte es sich nicht um die rechtliche Regelung einer bereits vollzogenen Entwicklung, sondern um die Entwicklung erst zu schaffender Rechtsinstitutionen. Die Revolution hatte im Staat und in den. Ländern an die Stelle der bürokratischen Obrigkeitsregierung die Regierung durch von den Volksvertretungen gewählte Volksbeauftragte gesetzt; in den Bezirken aber hatte die bürokratische Obrigkeitsverwaltung durch. die Bezirkshauptleute die Revolution überdauert. Die Unterstellung der Bezirkshauptleute unter die Landeshauptleute bedeutete die Unterwerfung der proletarischen Industriebezirke unter die bürgerlich-agrarischen Landtagsmehrheiten. Wir konnten daher keine Erweiterung der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen der Länder zulassen, wenn nicht gleichzeitig die Lokalverwaltung demokratisiert wird, die Ortsgemeinden zu Gebietsgemeinden vereinigt werden, die sich durch freigewählte Bezirks- oder Kreisvertretungen, denen die Verwaltungsbehörden zu unterstellen sind, selbst regieren. In der Tat setzt die Bundesverfassung die allgemeinen Grundsätze einer solchen Demokratisierung der Lokalverwaltung fest; aber die Durchführung dieser Grundsätze überließ sie späterer Gesetzgebung. Daher mußten wir darauf bestehen, daß diejenigen Bestimmungen der Verfassung„ die die Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern regeln, erst dann in Wirksamkeit treten, wenn ein besonderes Verfassungsgesetz über die Durchführung der demokratischen Lokalverwaltung in den Bezirken oder Kreisen erlassen wird. Während also diejenigen Bestimmungen der Verfassung, die die Länder rechtlich dem Bunde ein- und unterordnen, in Wirksamkeit traten, blieben diejenigen Bestimmungen, die den Kompetenzenkreis der Länder erweitern, vorläufig suspendiert. Sie sind auch jetzt noch nicht in Wirksamkeit getreten.
Die wichtigste Neuerung in dem Verfassungswerk aber war die Neuregelung der Rechtsstellung Wiens. Im Mai 1919 hatte die Sozialdemokratie die Mehrheit in der Wiener Gemeindevertretung erobert; Jakob Reumann stand seither als Bürgermeister an der Spitze der Gemeindeverwaltung. Die sozialdemokratische Mehrheit hatte der großen Gemeinde eine neue Gemeindeverfassung gegeben, die, von Robert Danneberg entworfen, von dom Magistratsdirektor Hartl mit Geschick und Tatkraft durchgeführt, das Ministerialsystem in die Gemeindeverwaltung eingeführt, die einzelnen Magistratsabteilungen den vom Gemeinderat gewählten „amtsführenden Stadträten“ unterstellt und damit an die Stelle der bürokratischen Magistratsherrschaft die demokratische Selbstverwaltung durch Volksbeauftragte gesetzt hatte. Die sozialdemokratische Mehrheit hatte zugleich, von Hugo Breitner mutig und verantwortungsbewußt geführt, durch ein neugeschaffenes kommunales Steuersystem und durch festes Beharren auf der Deckung der Selbstkosten der städtischen Betriebe durch ihre Einnahmen die durch den Krieg völlig zerrütteten Finanzen der Stadt trotz der fortschreitenden Geldentwertung in Ordnung gebracht. Dank dieser Politik war die Herrschaft über die Gemeindeverwaltung der Großstadt, die beinahe drei Zehntel des ganzen Bundesvolkes umfaßt, zu einer der wichtigsten Stützen der Machtstellung der Arbeiterklasse im Staat geworden. Nun galt es, diese wichtige Machtsphäre von den Fesseln zu befreien, die ihr die Zugehörigkeit Wiens zum Lande Niederösterreich, die Unterwerfung Wiens unter die niederösterreichische Landesregierung und Landesgesetzgebung auferlegte. Die Trennung Wiens von .Niederösterreich, die Konstituierung Wiens als eines selbständigen Bundeslandes wurde durch die Bundesverfassung ermöglicht und vorbereitet, im Dezember 1921 vollständig durchgeführt. Der Bürgermeister von Wien erlangte zugleich die Rechte eines Landeshauptmannes, der Stadtsenat die Rechte einer Landesregierung, der Gemeinderat die Befugnisse eines Landtages. Die Erhebung Wiens zum selbständigen Bundesland befestigte nicht nur das stärkste Bollwerk der Arbeiterklasse innerhalb des Bundes, sie schwächte zugleich auch die Triebkräfte der Länderrebellion gegen den Bund. Sobald jedes Recht, das sich die Länder auf Kosten des Bundes erstritten, nicht mehr bloß zu einem Machtinstrument der bürgerlich-agrarischen Landesregierungen der Länder, sondern zugleich und vor allem zu einem Machtinstrument der proletarischen Landesregierung in Wien wurde, entwickelte sich innerhalb der Bourgeoisie selbst schnell erstarkender Widerstand gegen den Länderpartikularismus.
So endete die Beratung der Bundesverfassung mit einer Niederlage des Länderpartikularismus. In ihrem formalen Aufbau und in ihrer Terminologie ist freilich das föderalistische Prinzip mit peinlicher Sorgfalt festgehalten. In der Sache aber bedeutete die Bundesverfassung einen wichtigen Schritt zur Überwindung der Rechtsanarchie, die durch die Rebellion der Länder seit den Umsturztagen entstanden war, und eine wesentliche Schwächung der reaktionären Triebkräfte des Länderpartikularismus zugleich.
Neben der Ordnung der Beziehungen zwischen dem Bunde und den Ländern war die Regelung der Bundesorgane die wichtigste Aufgabe des Verfassungswerkes. Die deutschösterreichische Revolution hatte als eine parlamentarische Revolution begonnen; ihr Ergebnis war die Parlamentsherrschaft gewesen. Der Präsident der Nationalversammlung versah die Funktionen eines Staatsoberhauptes, die Regierung wurde von der Nationalversammlung gewählt, der Hauptausschuß der Nationalversammlung wirkte unmittelbar an Verwaltungsakten mit, die Nationalversammlung verfügte über das Heer. Es war die parlamentarische Form der politischen Demokratie in schärfster Ausprägung. Dagegen stürmten die “bürgerlichen Parteien bei der Beratung der Verfassung an. Sie wollten die Befugnisse des aus allgemeinen Volkswahlen hervorgehenden Nationalrates doppelt beschränken: neben den Nationalrat sollte als gleichberechtigte zweite Kammer ein von den Landtagen gewählter Bundesrat treten; und den beiden Kammern sollte ein Bundespräsident mit großen Befugnissen entgegengestellt werden. In den Bundesrat sollte jedes Land gleich viele Vertreter entsenden, Vorarlberg mit seinen 140.000 Einwohnern ebenso viele wie Wien mit seinen 1,800.000 Einwohnern. So sollten der Bundespräsident und der Bundesrat als Organe bürgerlicher Klassenherrschaft die Macht des demokratischen Nationalrates einengen. Es gelang, diesen Anschlag vollständig abzuwehren. Zwar stimmten wir der Einsetzung eines Bundespräsidenten und eines Bundesrates zu. Aber beider Befugnisse wurden so eng umgrenzt, daß die durch die Revolution begründete Herrschaft des aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Parlaments ungeschmälert blieb. Und die Zusammensetzung des Bundesrates wurde so geregelt, daß die Arbeiterklasse in ihm ebenso stark, derzeit sogar etwas stärker vertreten ist als im Nationalrat.
Ein Katalog der „Menschen- und Bürgerrechte“ konnte in die Bundesverfassung nicht aufgenommen werden, da sich die Parteien über die Regelung der Beziehungen der Kirche zum Staat und zur Schule nicht einigen konnten. Doch wurden einige besonders wichtige „Grund- und Freiheitsrechte“, die die Revolution erobert hatte, als Verfassungsgrundsätze in der Verfassung festgelegt. So schließt die Verfassung alle „Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses“ aus. Sie sichert allen öffentlichen Angestellten einschließlich der Angehörigen des Bundesheeres die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte. Sie legt für alle Vertretungskörper im Bunde, den Ländern und den Gemeinden das allgemeine und gleiche Wahlrecht aller Bundesbürger ohne Unterschied des Geschlechtes, das Verhältniswahlrecht, das Verbot aller Wahlrechtsbeschränkungen fest. Sie erklärt den Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung über die Aufhebung der Zensur und der Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Gesetze über die Landesverweisung der Habsburger und über die Aufhebung des Adels für Bestandteile der Verfassung. Sie hebt das Recht der Regierung, den Ausnahmezustand zu verhängen, auf.
Neben dem Wehrgesetz ist die Bundesverfassung das wichtigste Ergebnis dieser Entwicklungsphase. Diese beiden Gesetze gaben der Republik ihre wichtigsten, grundlegenden Institutionen. In einer Zeit des Rückflutens der revolutionären Welle erlassen, hatten beide Gesetze die Aufgabe, die wesentlichsten Errungenschaften der vorausgegangenen revolutionären Periode zu kodifizieren, sie aus Improvisationen der Revolutionszeit in dauerhafte Institutionen der Republik zu verwandeln. In diesem Sinne stellen diese beiden Gesetze den legislativen Abschluß der Revolutionsperiode dar.
Mit diesen beiden Gesetzen hatte die Konstituierende Nationalversammlung ihre Aufgaben erfüllt. Am 17. Oktober wurde der erste Nationalrat gewählt. Die Wahlergebnisse zeigten, daß die Massen der Arbeiter unerschütterlich im Lager der Sozialdemokratie standen; die Kommunisten erlangten eine ganz unbeträchtliche Stimmenzahl. Aber die Wahlergebnisse zeigten auch, daß Massen von Beamten, Angestellten, Kleinbürgern, Bauern, die im Jahre 1919 unter dem mächtigen Eindruck des Krieges und der Revolution sozialdemokratisch gewählt hatten, nunmehr in das Lager der bürgerlichen Parteien zurückgekehrt waren. Die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen sank von 1919 bis 1920 von 1,211.814 auf 1,022.606, während die Zahl der christlichsozialen Stimmen von 1.068.382 auf 1,204.912 stieg. Die Zusammensetzung des Parlaments veränderte sich wesentlich. Die Zahl der christlichsozialen Mandate stieg von 63 auf 82, der großdeutschen Mandate von 24 auf 26, während die Zahl der sozialdemokratischen Mandate von 69 auf 66 sank. Wir zogen aus diesem Wahlergebnis sofort unseren Schluß: am 22. Oktober demissionierten die sozialdemokratischen Mitglieder der Proporzregierung und die Sozialdemokratie lehnte die Teilnahme an der Bildung einer neuen Regierung ab. Am 21. Oktober 1918 hatte sich die Provisorische Nationalversammlung konstituiert, am 22. Oktober 1920 schieden die sozialdemokratischen Staatssekretäre aus der Regierung aus; nach zweijähriger Führung durch die Sozialdemokratie fiel die Regierungsgewalt in die Hände des Bürgertums zurück.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008