Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Zweiter Abschnitt
Der Umsturz

§ 7. Die deutschösterreichische Republik


Literatur:

Deutsch, Aus Österreichs Revolution, Wien 1921. – Bauer, Die Offiziere und die Republik, Wien 1921.

O.B., Der deutschösterreichische Staat, und die folgenden Artikel in der Arbeiter-Zeitung vom 13. bis 17. Oktober 1918. – Friedrich Adler, Nach zwei Jahren, Wien 1918.

Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, 1. Teil. Wien 1910.

Freißler, Vom Zerfall Österreichs bis zum tschechoslowakischen Staat, Berlin 1921. – Granichstädten-Czerva, Tirol und die Revolution, Innsbruck 1920.



In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer „übernationalen“ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt des Militarismus niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle die anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die. Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierungen groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß „Bürger, Bauern und Arbeiter“ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung konstituiert und die Gründung des deutschösterreichischen Staates proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. So übernahmen denn zum erstenmal auch Sozialdemokraten die Leitung von Staatsämtern. Aber es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter der Revolution, daß die Sozialdemokraten zunächst nur einen bescheidenen Anteil an der Regierung beanspruchten. Viktor Adler wurde zum Staatssekretär für Äußeres gewählt; denn nur ein Sozialdemokrat konnte die neue, auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu gründende Außenpolitik Deutschösterreichs einleiten. Ferdinand Hanusch wurde zum Staatssekretär für soziale Verwaltung bestellt; denn die Arbeiterschaft hatte in dem Augenblick der Abrüstung der Kriegsindustrie das stärkste Interesse daran, dieses Staatsamt unter ihre Kontrolle zu stellen. Die Leitung aller übrigen Staatsämter überließen wir vorerst den bürgerlichen Parteien. Dr. Karl Renner wurde nur zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir den Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Kanzlei des Staatsrates zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung., die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

Aus dem Kriege entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenkappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen; als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Strafte die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war. Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierkorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch, die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt. Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen. In den Gefangenenlagern waren die fremden Kriegsgefangenen nicht mehr bewacht; ein paar Stunden zitterte das durch die Selbstauflösung der Garnison wehrlos gewordene Wien vor dem Anmarsch italienischer Kriegsgefangener aus dem Lager von Sigmundsherberg, die sich, nachdem die österreichischen Wachen desertiert waren, eines Waffenlagers bemächtigt und gegen Wien in Marsch gesetzt hatten. Nicht minder groß war die Gefahr auf den Eisenbahnen. Da brachte jeder Eisenbahnzug hungernde, undisziplinierte bewaffnete Heimkehrer von der Front; täglich wurde auf den Bahnhöfen geschossen, täglich drohte die Gefahr der Plünderung der Städte durch slawische und magyarische Heimkehrer, die durch deutschösterreichisches Gebiet ihrer Heimat zustrebten. Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch, auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an. Und hier nun setzte die Aktion der Sozialdemokratie ein.

Der Gedanke lag nahe, die Ersatzkörper der alten Armee als Kadres der aufzustellenden Volkswehr zu verwenden. Aber der Gedanke war gefährlich. Bei den Ersatzkörpern sammelten sich die Berufsoffiziere der alten Armee, die letzten Träger des altösterreichischen, der Monarchie ergebenen Geistes. Sollte die Volkswehr nicht zu ihrem Werkzeug werden, so mußte ihre Aufstellung vollständig unabhängig von den Formationen der k.u.k. Armee erfolgen. Das war es, was Julius Deutsch zunächst im Staatsamt für Heerwesen durchsetzte. Man gab nunmehr den aussichtslosen Kampf gegen die sofortige Demobilisierung der Mannschaften auf, die noch bei den Ersatzformationen im Hinterland verblieben waren oder die mit ihren Abteilungen von der Front heimkehrten. Die sofortige Entlassung aller Mannschaften und Reserveoffiziere wurde nunmehr geradezu angeordnet; die sich zunächst noch bei den Ersatzkadern der alten Armee sammelnden Offiziere wurden ungefährlich, da sie über keine Mannschaft mehr verfügten. Dafür aber stellte man völlig unabhängig von diesen Ersatzkadern die Volkswehrbataillone auf.

Die Bauernsöhne eilten in ihre Dörfer zurück, um sich nach den Hungerjahren ihrer Kriegsdienstzeit endlich wieder sattzuessen, und die Söhne des Bürgertums lockte nichts in die Volkswehr. Anders die industrielle Arbeiterschaft. Die Kriegsindustrie stellte ihre Produktion ein. Zehntausende Arbeiter wurden arbeitslos. Zehntausende, die von der Front zurückkehrten, fanden keine Arbeit. Der vergleichsweise hohe Sold von sechs Kronen lockte die Arbeitslosen in die Volkswehr. So setzten sich die Volkswehrbataillone fast ausschließlich aus Industriearbeitern zusammen. Freilich, es waren zumeist politisch ungeschulte, durch den Krieg verwilderte, für die Lockungen alles politischen Abenteurertums, für die Versuchungen der Revolutionsromantik jener Tage sehr empfängliche Menschen, die sich in den ersten Tagen in den neuen Bataillonen sammelten; und auch nicht wenige verbrecherische Elemente hatten sich zum Söldnerdienst gemeldet. Diese Masse unter feste Führung zu stellen, sie vor dem drohenden Mißbrauch ihrer politischen Naivität zu schützen und die lumpenproletarischen Elemente aus ihr hinauszudrängen, das war nun die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Auch während des Krieges waren die Verbindungen zwischen den Genossen in den Kasernen und den Organisationen der Partei nie ganz abgerissen. Die zum Kriegsdienst eingerückten Genossen verkehrten in den Arbeiterheimen und brachten ihre Beschwerden in die Parteisekretariate. Im Sommer 1918 hatte Julius Deutsch diese lockere Verbindung zu den Wiener Kasernen verdichtet und organisiert. Er hatte in jedem Truppenkörper einige Genossen als Vertrauensmänner bestimmt, die in persönlicher Verbindung mit ihm blieben. Während des Krieges diente dieses Vertrauensmännersystem nur dem Zwecke, uns über alles, was in den Kasernen vorging, zu informieren. Jetzt aber konnten wir uns dieser Vertrauensmänner bedienen, auf die Bildung der Volkswehr Einfluß zu gewinnen. Sie vor allem waren es, die, in die sich formierenden Bataillone übertretend, möglichst viele verläßliche Genossen aus den Kaders der alten Armee in die Bataillone der Volkswehr überzuführen, die Wahl der Soldatenräte in den neuen Bataillonen zu organisieren, die die Führung der neuen Bataillone an sich zu ziehen hatten. Zugleich setzten die Parteiorganisationen mit der Agitation für die Volkswehr ein; sie bemühten sich, alte, verläßliche Genossen zum Eintritt in die Volkswehr zu bewegen und ihnen die Aufgabe, die sie innerhalb der Volkswehr lösen sollten, verständlich zu machen. So bildeten sich innerhalb der neuen Bataillone Kader organisierter Sozialdemokraten, die die Volkswehr unter ihre Führung und damit unter die Führung der Partei stellten, sie mit ihrer Ideologie erfüllten, den Ansturm des politischen Abenteurertums auf die Volkswehrmänner in harten, zähen Kämpfen abwehrten und die verbrecherischen Elemente aus der Volkswehr allmählich hinauszudrängen versuchten.

Die Volkswehr war nicht von Anfang an eine Parteitruppe, In den Tagen ihres Entstehens war sie ein recht bunt zusammengewürfelter Haufe armer, unwissender, durch den Krieg verrohter Menschen, die der Sold in die Kasernen gelockt hatte. Hätte man diese Haufen sich selbst überlassen, so wären sie zu Söldnerbanden geworden, die ihre Waffen nur benützt hätten, das Land zu plündern, und zur Beute des politischen Abenteurertums jener Tage, zur Beute jener politischen Naivität, die damals glaubte, man brauche nur ein paar hundert Bewaffneter und ein paar Maschinengewehre, um von Ternitz oder von Traisen aus die Gesellschaftsordnung Europas umzustürzen. Sollte die neue Truppe nicht zu ernster Gefahr werden, so mußte sie unter feste, zielbewußte Führung gestellt werden. Dazu gab es nur zwei Wege. Der eine war, die Macht der Offiziere wiederherzustellen. Aber das wäre in jener Zeit, in der die Autorität des Offizierskorps völlig zusammengebrochen, der Haß gegen die Offiziere, eine Frucht der Kriegserlebnisse, die Volksleidenschaft des Tages war; schwerlich gelungen; und wenn es gelungen wäre, so hätte es die Revolution in die schwerste Gefahr gebracht, die bewaffnete Macht in der entstehenden Republik dem konterrevolutionären, monarchistisch gestimmten Offizierskorps überantwortet. Es war daher nur der andere Weg offen. In diesen Tagen des Zusammenbruchs aller überlieferten Autoritäten war mächtiger denn je die Autorität der Sozialdemokratie. Sie allein konnte die Haufen bewaffneter Proletarier, die sich in den Kasernen sammelten, disziplinieren, sie ihrer Führung unterordnen, mit ihrer Ideologie erfüllen und dadurch verhindern, daß sie der nach vier Kriegsjahren so großen Versuchung zum Mißbrauch ihrer Waffen erliegen.

Die Aufstellung der Volkswehr hat das Land vor der drohenden Gefahr der Anarchie bewahrt. Die Volkswehr übernahm die Bewachung der Depots und Magazine. Volkswehrbataillone wehrten – am 14. und 15. November in blutigen Kämpfen – die Angriffe tschechischer und magyarischer Truppen, die durch deutschösterreichisches Gebiet in die Heimat transportiert wurden, ab. Die Volkswehr ordnete sich die „Rote Garde“ ein und zwang sie, sich ihrem Kommando und ihrer Ordnung zu unterwerfen. Aber es war eine von Sozialdemokraten geführte, mit roten Fahnen unter den Klängen der Arbeitermarseillaise marschierende Truppe, die nun über die Sicherheit des Landes zu wachen hatte. Dadurch wurde die Aufstellung der Volkswehr zum revolutionären Akt, zu dem ersten Akt der proletarischen Revolution, in die die nationale Revolution damit umzuschlagen begann.

In den klassischen Revolutionen der Vergangenheit fiel die Entscheidung im Barrikadenkampf. Durch den Sieg auf den Barrikaden entwaffnete die Revolution die Gewalten des allen Regimes und aus dem Sieg auf den Barrikaden ging ihre eigene bewaffnete Macht hervor. Was sich sonst im Barrikadenkampf vereinte, zerlegt sich in der deutschösterreichischen Revolution in zwei Akte. Die Entwaffnung des alten Regimes ward durch die Selbstauflösung der kaiserlichen Armee vollzogen. Die bewaffnete Macht des neuen Regimes entstand in der Volkswehr. Der Übergang der Waffengewalt aus den Händen des alten in die des neuen Regimes, der in anderen Revolutionen nur im blutigen Bürgerkrieg erfolgen konnte, konnte hier nach der Selbstauflösung der alten Armee ohne blutigen Kampf, als bloße organisatorische Leistung durch die Aufstellung der Volkswehr vollendet werden. Daß diese Leistung der Romantik der Barrikadenschlacht entbehrt, darf nicht darüber täuschen, daß ihre geschichtliche Wirkung dieselbe war, die in anderen Revolutionen nur auf den Barrikaden erkämpft werden konnte. An die Stelle der kaiserlichen Armee war die republikanische Volkswehr getreten; und diese republikanische Wehr war ein proletarisches, ein von sozialistischem Geist erfülltes Heer. Die tatsächliche Verfügung über die Waffengewalt war nicht nur vom Kaiser auf das Volk, sie war zugleich innerhalb des Volkes von den besitzenden Klassen auf das Proletariat übergegangen.

Diese Revolution in den Kasernen entfesselte sofort die Revolution in den Fabriken. Während des Krieges hatte das industrielle Unternehmertum die Arbeiter unter dem unmittelbaren Schutz der Militärgewalt beherrscht: militärische Betriebsleiter kommandierten in den Fabriken und Militärwachen hielten die Arbeiterschaft in Zucht. Jetzt brach mit der Militärgewalt die ganze Autorität des Unternehmertums und seiner Organe zusammen. Das Selbstbewußtsein, das Machtbewußtsein der Arbeiter erstarkte gewaltig. Die drohende Gärung in den Arbeiterbezirken schüchterte die bürgerlichen Parteien ein und unterwarf sie dem Willen der Sozialdemokratie. So ging die Revolution ihren Gang weiter.

Deutschösterreich hatte sich am 30. Oktober schon eine tatsächlich republikanische Verfassung gegeben; aber in Wien saß noch der Kaiser, ohne auf den Thron zu verzichten. Die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre hatten in den ersten Novembertagen die Zweige der k. k. Ministerien, die deutschösterreichisches Gebiet zu verwalten hatten, übernommen. Aber daneben bestanden als „liquidierende Ministerien“ immer noch die Departements fort, die Einrichtungen und Vermögenschaften des alten Reiches verwalteten, deren sich zu bemächtigen die deutschösterreichische Regierung nicht gewagt hatte, weil sie noch als gemeinsamer Besitz aller Nachfolgestaaten des Reiches angesehen wurden. So waren denn diese„liquidierenden Ministerien“ vorläufig noch in der Verwaltung der Regierung Lammasch geblieben. In allen Zentralstellen saßen noch der vom Staatsrat ernannte deutschösterreichische Staatssekretär und der vom Kaiser ernannte österreichische Minister nebeneinander. Dieser Dualismus republiknischer und monarchischer Verwaltung auf demselben Boden war unhaltbar. Er wurde unerträglich, als endlich auch im Deutschen Reich das Kaisertum zusammenbrach. Als am 9. November Deutschland zur Republik wurde, drängte die republikanische Bewegung der Arbeitermassen auch in Deutschösterreich nach der Beseitigung der letzten Reste der monarchischen Ordnung. Am folgenden Tag erklärten die Vertreter der Sozialdemokratie im Staatsrat den bürgerlichen Parteien, die gewaltsame Erhebung der Arbeiter und der Soldaten sei unvermeidlich, wenn nicht unverzüglich auch in Deutschösterreich die Republik proklamiert werde. Die bürgerlichen Parteien, durch die Bewegung in den Fabriken und in den Kasernen eingeschüchtert, wagten keinen Widerstand mehr. Die Christlichsozialen, die noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November, ihren Widerstand .ufzugeben, da ein Beschluß des Tiroler Nationalrats für die Republik und Berichte aus Oberösterreich und Kärnten anzeigten, daß auch durch die Bauernschaft schon eine mächtige republikanische Welle ging. Der Staatsrat beschloß mit Stimmenmehrheit, die Provisorische Nationalversammlung für den 12. November einzuberufen und ihr einen Gesetzentwurf über die Proklamierung der Republik vorzulegen. Auch der Kaiser gab nun, von Lammasch beraten, allen Widerstand auf. Am 11. November legte der letzte Habsburger die Regierung nun auch förmlich nieder. „Nach wie vor“, so sagte die Proklamation des Kaisers, „von unwandelbarer Liebe für alle meine Völker erfüllt, will ich ihrer freien Entfaltung meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen. Im voraus kenne ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften. Gleichzeitig enthebe ich meine österreichische Regierung ihres Amtes.“

Mit dem Gedanken der Republik hatte sich schon im Verlauf des Oktober der Gedanke des Anschlusses Deutschösterreichs an Deutschland vermählt. Der Anschlußgedanke war zuerst in unserem Nationalitätenprogramm der „Linken“ ausgesprochen worden. Sobald die revolutionäre Situation, für die unser Nationalitätenprogramm gedacht war, eingetreten war, hatten wir begonnen, ihn zu propagieren. Schon am 13. Oktober hatte ich die Artikelserie in der Arbeiter-Zeitung begonnen, die den Anschlußgedanken auf die Tagesordnung stellte. Er hatte sehr schnell Macht gewonnen.

Mit dem Zusammenbruch seiner Herrschaft über die anderen Nationen sah das deutschnationale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um derentwillen es bisher die Trennung vom deutschen Mutterland willig ertragen hatte; konnte es der Machtstellung der deutschen Nation nicht mehr, vom Deutschen Reiche getrennt, durch seine Herrschaft über die anderen Völker der Habsburgermonarchie dienen, so wollte es sich durch seinen Anschluß an das Reich davor schützen, selbst unter Fremdherrschaft zu fallen, wo es bisher Fremdherrschaft geübt hatte. Die Deutschen in Böhmen, Schlesien, Nordmähren, von den deutschen Alpenländern durch das tschechische Gebiet räumlich geschieden, hatten ja keine andere Wahl als die zwischen der tschechischen Fremdherrschaft und dem Anschluß an das Reich. Die sechs Millionen Deutschen der Alpenländer, seit Jahrhunderten mit den drei Millionen Deutschen der Sudetenländer eng verbunden, konnten diese Verbindung nur im Rahmen des Deutschen Reiches aufrechterhalten. Wie hilflos Deutschösterreich, auf seine eigene Kraft angewiesen, den neuen Nationalstaaten gegenüberstand, hatte man schon in den ersten Anfängen der Revolution erfahren: Hungersnot war in Deutschösterreich sofort eingetreten, als die Tschechen die Nahrungsmittel- und Kohlenzufuhr eingestellt hatten. Der erste Schritt des entstehenden deutschösterreichischen Staates hatte sein müssen, die Berliner Regierung um eine Aushilfe mit Getreide zu bitten. Deutschösterreichs Volkswirtschaft, auf das große österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet gegründet, mußte durch den Zerfall des Wirtschaftsgebietes in furchtbarste Bedrängnis geraten. Allein war es der Feindseligkeit der neuen Nationalstaaten wehrlos preisgegeben; nur der Rückhalt des großen, wirtschaftsstarken Reiches konnte seine wirtschaftliche Machtstellung gegen die Nachbarstaaten stärken und die notwendige Umschichtung der deutschösterreichischen Volkswirtschaft erleichtern. Unter dem mächtigen Eindruck dieser Erwägungen, Interessen, Gefühle hatten schon im Verlauf des Oktober breite Schichten des Bürgertums, zumal der Intelligenz, in der Hoffnung auf den Anschluß Trost über den Zusammenbruch ihres alten Herrschaftsgebäudes gefunden.

Die Masse der Arbeiterschaft dagegen stand dem Anschlußgedanken damals noch kühl gegenüber, obwohl Sozialdemokraten seine ersten Verkünder waren; sie hatte den deutschen Imperialismus während des Krieges allzu tief gehaßt, als daß sie sich nun hätte für den Anschluß an dasselbe Deutschland begeistern können. Erst der 9. November eroberte dem Anschlußgedanken die Arbeitermassen. Erst als das Kaisertum im Deutschen Reiche gestürzt war und eine sozialistische Regierung, auf Arbeiter- und Soldatenräte gestützt, die Macht ergriffen hatte, als die deutsche Revolution so mit einem gewaltigen Schlage die unsere weit überholt zu haben schien,. ward den Arbeitermassen der Gedanke verständlich, daß das große, hochindustrielle Reich dem Kampf um den Sozialismus weit günstigere Bedingungen biete als das kleine, von agrarischen Nachbarländern hilflos abhängige und selbst zur Hälfte agrarische Deutschösterreich.

Wie aber erst der Sieg der Republik im Reiche der Anschlußbewegung in Österreich die Massen erobert hat, so stützten auch in Deutschösterreich selbst der republikanische und der Anschlußgedanke einander gegenseitig. Die republikanische Bewegung schöpfte aus der Forderung nach dem Anschluß starke Kraft. Denn daß ein habsburgisches Österreich im Reiche nicht aufgehen könne, Deutschösterreich also erst mit Habsburg brechen müsse, um zum Anschluß fähig zu werden, war einleuchtend. So warb der Anschlußgedanke der Forderung des Proletariats nach der Republik Bundesgenossen im Bürgertum. Anderseits aber schöpfte auch der Anschlußgedanke selbst aus der republikanischen Bewegung starke Kräfte. Der Streit zwischen Habsburg und Hohenzollern hatte Deutschösterreich von. Deutschland getrennt; stürzte nun Habsburgs und Hohenzollerns Herrschaft zugleich, so erschien die Vereinigung des einen Volkes zu einem Gemeinwesen als die natürliche Folge des Sturzes der Dynastien, die es zerrissen hatten. So knüpfte die Bewegung, den Gedanken der Republik mit dem der deutschen Einheit vermählend, an die Überlieferung der Demokratie von 1848 wieder an.

Soeben erst war der Waffenstillstand auf der Grundlage der 14 Punkte Wilsons, die allen Völkern das Selbstbestimmungsrecht verhießen, abgeschlossen worden. Wollte Deutschösterreich, mit keiner anderen Waffe als dem Appell an das auch ihm verheißene Recht ausgerüstet, den Anschluß durchzusetzen versuchen, dann durfte der Anschluß nicht der Traum einzelner, nicht das Programm von Parteien bleiben; dann mußte das deutschösterreichische Volk zeigen, daß es in demselben Augenblick, in dem es seine Freiheit erlangte und sein Schicksal in seine Hände nahm, sofort auch einig war, sich dieses Ziel zu setzen. Darum beantragten die Vertreter der Sozialdemokratie im Staatsrat, daß gleichzeitig mit der Republik auch der Anschluß verkündet werden solle. Dieser Antrag wurde am 11. November mit Stimmenmehrheit angenommen.

Am folgenden Tage trat die Provisorische Nationalversammlung zu ihrer dritten Sitzung zusammen. Der Gesetzesbeschluß dieses Tages faßte die Ergebnisse der großen Umwälzung zusammen. Er schloß die demokratische Revolution ab: er erklärte Deutschösterreich zur demokratischen Republik, übertrug alle Rechte des Kaisers dem Staatsrat, erklärte alle Vorrechte der Familie Habsburg für aufgehoben, alle auf politische Privilegien gegründeten Körperschaften – die Delegationen, das Herrenhaus, die auf Grund des Zensuswahlrechtes gewählten Landtage und Gemeindevertretungen – für aufgelöst, er ordnete die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung und die Neuwahl der Landes- und der Gemeindevertretungen auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes auf Grund der Verhältniswahl an. Die Republik, die Zertrümmerung der plutokratischen Wahlrechtsprivilegien in den Ländern und in den Gemeinden, das Frauen Wahlrecht, der Proporz waren die Errungenschaften der demokratischen Revolution. Zugleich zog derselbe Gesetzesbeschluß die letzte Folgerung aus der nationalen Revolution: „Deutschösterreich“, erklärte der Artikel 2, „ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“ Und dieser Abschluß der demokratischen und der nationalen Revolution war zugleich der erste Akt der sozialen Revolution, der Machtverschiebung zwischen den Klassen, die sich vollzogen hatte. Denn es war der Wille der Arbeiterklasse, der den besitzenden Klassen die Republik aufgezwungen hatte. Am 21. Oktober, in der ersten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung, hatten sich noch die beiden großen bürgerlichen Parteien für die konstitutionelle Monarchie erklärt; am 12. November, in der dritten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung, haben sie beide, zitternd vor der drohenden Erhebung des Proletariats, für die Republik gestimmt. Auch hier war es, wie nach Marxens Darstellung am 25. Februar 1848 in Paris: das Proletariat befahl der Bourgeoisie, die Republik auszurufen.

Die Arbeitermassen hatten am 12. November die Arbeit eingestellt, Während die Provisorische Nationalversammlung im Saale des Herrenhauses tagte, war die Wiener Arbeiterschaft vor dem Parlamentsgebäude versammelt. Aber die gewaltige soziale Gährung in den Massen offenbarte sich auch in dieser riesigen Demonstration. Als zum erstenmal die rotweißrote Fahne, die sich die Republik an Stelle der schwarzgelben Fahnen Habsburgs gab, auf den Fahnenmasten des Parlamentsgebäudes gehißt werden sollte, rissen revolutionäre Arbeiter die weißen Teile aus dem Fahnentuch heraus. Kurze Zeit später stürzte sich ein Haufe kommunistischer Soldaten auf das Parlamentstor und begann eine ziel- und sinnlose Schießerei, die zwei Menschen das Leben kostete und die versammelte Masse zersprengte. So sinnlos das war: der grelle Mißklang, mit dem die Kundgebung endete, war doch ein Symptom und Symbol der Erregung, der Gärung, der elementaren Bewegung in den Massen, die über die errungene politische Freiheit und Gleichheit hinausdrängte.

Die Republik hat im April 1919 den 12. November, den Tag des Abschlusses der demokratisch-nationalen Revolution, zum Nationalfeiertag: erklärt. Aber die Bourgeoisie hat den gesetzlichen Feiertag nie mitgefeiert; ihr ist er immer der Tag ihrer Kapitulation vor dem Proletariat geblieben. Die Arbeiterklasse dagegen feiert den Nationalfeiertag alljährlich als den Tag ihres Sieges. Darin drückt sich tiefer geschichtlicher Zusammenhang aus: als die nationale Politik der Bourgeoisie, deren Ziel die Aufrechterhaltung und Befestigung ihrer Herrschaft über die anderen Nationen gewesen war, zusammengebrochen war, hatte das Proletariat die Führung der Nation übernommen. Unter der geistigen Führung der Sozialdemokratie war der deutschösterreichische Staat begründet worden; unter dem Drucke der Arbeitermassen hatte er sich von dem habsburgischen Imperium gelöst und, sich allem Streben nach der Wiedervereinigung mit den jungen, befreiten Nationen entsagend, die Vereinigung mit dem Deutschen Reiche zum Ziel gesetzt. Die nationale Revolution war zur Sache des Proletariats, die proletarische Revolution zur Trägerin der nationalen Revolution geworden.

Am 12. November hatten wir erreicht, was die „Linke“ schon im Jänner 1918 als erste notwendige Etappe der nahenden österreichischen Revolution: vorgezeichnet, was sich dann, unter dem mächtigen Eindruck weltgeschichtlicher Wendung den Gegensatz zwischen links und rechts überwindend, die ganze Partei in den ersten Oktobertagen als nächstes Ziel gestellt hatte. Und dieses Ziel hatten wir im Verlauf von sechs Wochen ohne Straßenkampf und Bürgerkrieg, ohne Gewaltanwendung und Blutvergießen erreicht. Wohl war wie jede Revolution auch diese ein Werk der Gewalt. Aber die Gewalt, die die Revolution ermöglichte, wirkte nicht in den Straßen Wiens. Auf den Schlachtfeldern am Balkan und in Venetien zerschlug sie den ehernen Mechanismus, der der Revolution im Wege stand. Deshalb konnten wir die Revolution im Hinterland ohne Gewalt, vollziehen. Wir vollzogen sie, indem wir in diesen entscheidungsvollen Wochen vom 3. Oktober bis zum 12. November an jedem Tage immer nur das, was schon gereift war, forderten, immer nur das, was schon ohne schwere Opfer durchsetzbar war, durchsetzten, so erreichten wir, Schritt für Schritt vorgehend, schließlich doch das Ganze, das wir uns als Ziel gesetzt hatten. Zum letzten Male leitete in diesen Wochen Viktor Adler die Aktion der Partei. Sein unvergleichlicher Tatsachensinn erfaßte an jedem Tage, was nun gerade schon möglich, schon notwendig geworden war. Sein Verantwortlichkeitsgefühl duldete nicht, daß wir um den Preis schwerer Opfer heute schon zu nehmen versuchten, was uns morgen als reife Frucht in den Schoß fallen mußte. Sein Ansehen, sein menschliches Verständnis für den unterliegenden Gegner erleichterte den Besiegten das Zurückweichen Er starb am 11. November angesichts der vollendeten Tat. Er starb, als die Erziehung, die Organisation, die Kraft der österreichischen Arbeiterschaft, die seiner Lebensarbeit Ergebnis war, ihren höchsten Triumph feierten; als der Sieg der Partei, die er in der Jugend geeint, die er im Mannesalter zur Macht empor geführt, der er in den letzten Lebensjahren die Einheit, gerettet hatte, ihre inneren Gegensätze aufhob, als sich in dem revolutionären Erlebnis seiner letzten Lebenstage der nationale Traum seiner Jugend mit dem sozialen Werk seines Mannesalters vermählte. Er hinterließ der Arbeiterklasse das große Erbe eines revolutionären Sieges, der, nicht mit Handgranaten und Maschinengewehren, sondern als geistige Tat, als Werk taktischer Kunst und organisatorischer Leistung errungen, den weiteren Verlauf des revolutionären Prozesses als geistiger Umwälzung, geistiger Selbstbestimmung der Masse ermöglichte.

Denn der revolutionäre Prozeß ging weiter. Er erfaßte sozial immer weitere Gesellschaftsschichten, er gewann räumlich immer weitere Ausdehnung. Längst schon hatte er, von Wien ausgehend, auch die Länder erfaßt und dort eine Bewegung entfesselt, die, in ihren Anfängen derselben revolutionären Wurzel entsprossen wie die Wiener Bewegung, in ihrem weiteren Verlauf doch unvermeidlich in Gegensatz gegen das revolutionäre Wien geraten mußte.

Als nach dem 14. Oktober die tschechische Grenzsperre die Lebensmittelnot in Deutschösterreich furchtbar verschärfte, waren in Steiermark die Organisationen der industriellen Unternehmer und der industriellen Arbeiter in Verhandlungen über die Sicherung der Lebensmittelversorgung der Industriearbeiter eingetreten. Da der Ernährungsdienst der Statthalterei vollständig versagte, beschlossen sie, den Ernährungsdienst selbst in ihre Hand zu nehmen. Mit Vertretern der politischen Parteien gemeinsam bildeten sie in Graz den Wohlfahrtsausschuß, der sich schon am 25. Oktober des ganzen Verwaltungsapparats der Statthalterei bemächtigte, die Leitung der Statthalterei dem Industriellenvertreter Dr. Wutte als Wirtschaftskommissär und dem Sozialdemokraten Dr. Eisler als seinem Stellvertreter übertrug; der kaiserliche Statthalter trat zurück.

Wie in Steiermark die Ernährungsnot, so trieb in Tirol die Furcht vor der Verheerung des Landes durch die von der Front zurückflutenden Truppen die Parteien dazu, sich der Landesregierung zu bemächtigen. Am 26. Oktober wählten die Reichsrats- und Landtagsabgeordneten Tirols einen „Nationalrat“, der am 1. November die Landesregierung übernahm. Vorarlberg, bisher von der Tiroler Statthalterei mitverwaltet, folgte sofort diesem Beispiel, es trennte sich von Tirol, der autonome Landesausschuß übernahm die Geschäfte der Statthalterei.

Am 28. Oktober hatten sich die Tschechen der böhmischen und der mährischen Statthalterei bemächtigt. Aber die tatsächliche Macht des an diesem Tage entstandenen tschechischen Staates erstreckte sich nur auf das tschechische Sprachgebiet. Die deutschen Gebiete der Sudetenländer, die ihre Unterwerfung unter die tschechische Staatsgewalt einmütig ablehnten und sich zum deutschösterreichischen Staat bekannten, zerrissen ihre Verbindungen mit der böhmischen und der mährischen Statthalterei. Für diese Gebiete mußte daher eine ganz neue Verwaltungsorganisation geschaffen werden. Am 29. Oktober konstituierten sich die Reichsratsabgeordneten Deutschböhmens als deutschböhmische Landesversammlung und wählten aus ihrer Mitte eine deutschböhmische Landesregierung, die in Reichenberg ihren Sitz nahm. Am folgenden Tage versammelten sich die Reichsratsabgeordneten der zusammenhängenden deutschen Bezirke Schlesiens, Nordmährens und Ostböhmens, sie beschlossen, diese Gebiete zu einem neuen Lande, dem sie den Namen Sudetenland gaben, zu vereinigen und wählten eine Landesregierung für dieses Land. Die neuen Landesregierungen der beiden von dem übrigen Deutschösterreich räumlich getrennten Gebiete mußten unter unsäglichen Schwierigkeiten eine ganz neue Verwaltungsorganisation einrichten, neue Eisenbahn-, Post-, Finanz-, Gerichtsbehörden organisieren, um die Verwaltung dieser Gebiete von den tschechischen Behörden in Prag und in Brünn loszulösen und den Fortgang der Verwaltung, des Verkehrs, der Lebensmittelversorgung notdürftig zu sichern. Dieselbe Organisationsarbeit mußte, hier unter etwas günstigeren Bedingungen, in den an Nieder- und Oberösterreich angrenzenden deutschen Gebieten Südmährens und Südböhmens geleistet werden, die sich in den ersten Novembertagen als Znaimer Kreis und als Böhmerwaldgau konstituierten und sich autonome Kreisregierungen einsetzten. So kurzlebig alle diese Gebilde auch waren, sie haben nicht nur in der Übergangszeit bis zur gewaltsamen Unterwerfung dieser Gebiete durch die tschechoslowakische Republik ihre Verwaltung ermöglicht, ihre Lebensmittelversorgung gesichert, sondern zugleich auch vor aller Welt den Anspruch ihrer Bewohner auf ihre Selbstbestimmung, ihren Protest gegen ihre Annexion durch die Tschechoslowakei durch die Tat kundgetan.

In allen diesen revolutionären Gebilden aber war, in Steiermark wie in Tirol, in Deutschböhmen wie im Sudetenland, ein neuer Typus von Landesregierungen entstanden. An die Stelle der k. k. Statthalter waren von. den Volksvertretern des Landes gewählte, aus den politischen Parteien des Landes verhältnismäßig zusammengesetzte Landesregierungen getreten. Der der altösterreichischen Verwaltungsorganisation eigentümliche, aus der Organisation des ständischen Staatswesens überlieferte Dualismus der landesfürstlichen und der autonomen Verwaltung wurde überwunden, indem die von der Volksvertretung des Landes gewählte Landesregierung die Funktionen des kaiserlichen Statthalters übernahm. Die Bewegung drängte nun in allen Ländern nach diesem Ziele: die Ersetzung der k. k. Statthalter durch autonome Landesregierungen erschien als die notwendige Folge des Zusammenbruchs des Kaisertums. Der Staatsrat hatte nicht die Macht, sich dieser Bewegung zu widersetzen. Die Nationalversammlung konnte nur sanktionieren, was sich in den Ländern schon auf revolutionärem Wege vollzog. So fand das Grundgesetz vom 12. November seine Ergänzung in dem Gesetz über die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern, das die Provisorische Nationalversammlung am 14. November beschloß. Das Gesetz setzte an die Stelle der aus dem. Privilegienwahlrecht hervorgegangenen Landtage provisorische Landesversammlungen; sie wurden in der Weise gebildet, daß zu den Landtagsabgeordneten des Bürgertums und der Bauernschaft Vertreter der Arbeiterschaft hinzutraten. Diese Landesversammlungen hatten die Landesregierungen zu wählen, die die Amtsgeschäfte, welche bisher die Statthalter versehen hatten, übernahmen. Die Landesregierungen wurden nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, so daß die Arbeiterschaft, die bisher von den Landtagen gänzlich, ausgeschlossen gewesen war, überall unmittelbaren Anteil an den Landesregierungen erlangte.

Zugleich wurde aber damit auch das Verhältnis der Länder zum Staat vollständig umgewälzt. Der Statthalter, vom Kaiser auf Antrag der Regierung ernannt und abberufen, war ein Organ der Zentralregierung gewesen. Der von der Landesversammlung gewählte, nur von ihr abberufbare Landeshauptmann wurde von der Zentralregierung vollständig unabhängig. Nicht die Weisungen der Staatsregierung, sondern die Beschlüsse der Landesversammlung bestimmten seine Amtsführung. Die Länder wurden damit tatsächlich zu selbständigen Republiken, der Staat zu einer losen Föderation der Länder. Der Verfassungskampf zwischen dem Staat und den Ländern, die Entwicklung Deutschösterreichs zum Bundesstaat waren damit bereits vorgezeichnet.

Es war die demokratische Revolution in den Alpenländern und die nationale Revolution in den Sudetenländern, die die Ersetzung der Obrigkeitsregierung in den Ländern durch die Selbstverwaltung erzwungen hatten. Aber auch diese Ergebnisse der demokratischen und der nationalen Revolution mußten sofort soziale Bedeutung erlangen. Die Staatsregierung stand unter dem mächtigen Druck des Proletariats Wiens und der Industriegebiete. Die Landesregierungen der agrarischen Alpenländer mußten unter den bestimmenden Einfluß der Bauernschaft und des kleinstädtischen Bürgertums geraten. Im Gegensatz zwischen dem Staat und den Ländern barg sich von Anfang an der Klassengegensatz.

Anfänge dieser Entwicklung wurden schon in den Sturmtagen der Revolution erkennbar. Das erste Land, das sich dem Staat drohend entgegenstellte, war Tirol. Unter dem Eindruck der Panik, die in den Tagen der Auflösung der alten Armee in Tirol entstanden war, hatte der Tiroler „Nationalrat“ zuerst das Deutsche Reich gebeten, mit reichsdeutschen Truppen den Brenner zu sperren, um die Verwüstung Nordtirols durch die rückflutenden Truppen zu verhüten. Als dann aber die Deutschen wirklich die Tiroler Grenze überschritten, fürchtete der Tiroler Nationalrat, Tirol könne zum Kriegsschauplatz der Deutschen und der Entente werden. Jetzt protestierte der Tiroler „Nationalrat“ gegen den Einmarsch der Deutschen, die er selber gerufen hatte, und er suchte jetzt umgekehrt bei der Entente Hilfe. Er schickte eine förmliche Gesandtschaft in die Schweiz, die unmittelbare Verbindungen mit der Entente anknüpfen sollte. Gegen diese Versuche einer selbständigen auswärtigen Politik Tirols mußte der Staatsrat protestieren. Der Konflikt vertiefte sich sehr schnell. Der Tiroler „Nationalrat“, um das Schicksal Deutschsüdtirols zitternd, glaubte durch Trennung Tirols von Deutschösterreich seinem Lande die Gnade der Sieger zuwenden zu können. Diese Hoffnung war der Ursprung der Tiroler Selbständigkeitsbewegung. Aber mit dem Gegensatz zwischen dem partikularen Landesinteresse und dem allgemeinen nationalen Interesse verknüpfte sich der Klassengegensatz. Die Tiroler Bauernschaft hatte im Kriege den Militarismus hassen gelernt. Der republikanische Gedanke gewann sie sehr schnell. Am 11. November forderte der Tiroler Nationalrat die Proklamierung der Republik. Aber sehr bald stieß er sich daran, daß die Republik in Wien proletarischen Charakter zu gewinnen begann. Das bäuerlich-kleinbürgerliche Tirol wandte sich gegen das „rote“ Wien. So beschloß die Tiroler Landesversammlung am 21. November eine förmliche Selbständigkeitserklärung. Der Zusammenhang Tirols mit den anderen deutschösterreichischen Ländern habe auf der Pragmatischen Sanktion, auf der Gemeinschaft des Herrscherhauses beruht. Mit der Entthronung der Habsburger sei dieses Band zerrissen. Dadurch sei Tirol frei geworden, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Seine nur vorläufige staatliche Zugehörigkeit zu Deutschösterreich könne sein wiedergewonnenes Selbstbestimmungsrecht nicht aufheben. Das Beispiel Tirols wirkte auf die anderen Alpenländer. Die bäuerlich-bürgerliche Mehrheit verteidigte überall gegen das proletarische Wien die Selbstherrlichkeit des Landes.

Während sich aber die Alpenländer gegen die staatliche Einheit Deutschösterreichs aufzulehnen begannen, führten Deutschböhmen und das Sudetenland, der Böhmerwaldgau und der Znaimer Kreis den schwersten Kampf um ihre Zugehörigkeit zu Deutschösterreich. Denn die junge tschechische Republik erhob Anspruch auf alle diese deutschen Gebiete. In Deutschösterreich war die nationale Politik der Bourgeoisie zusammengebrochen, die Führung der Nation war in die Hände des Proletariats übergegangen, nicht mehr die Herrschaft über andere Nationen, sondern die Behauptung des Selbstbestimmungsrechtes der eigenen Nation war hier nun der Inhalt der nationalen Politik; in der Tschechoslowakei dagegen hatte die nationale Politik der Bourgeoisie am 28. Oktober ihren größten Sieg errungen, der triumphierende nationale Gedanke ordnete ihrer Führung die Volksmassen unter und sie griff, kaum erst selbst von fremder Herrschaft befreit, schon nach der Herrschaft über fremde Völker. Der junge tschechische Imperialismus bereitete der Aufrichtung der deutschösterreichischen Verwaltung in Deutschböhmen und im Sudentenland, der Aufrechterhaltung des Verkehrs und der Lebensmittelversorgung in diesen Ländern unendliche Schwierigkeiten. In den Grenzgebieten gab es täglich Konflikte, nicht selten Scharmützel zwischen deutschösterreichischer Volkswehr und tschechischen Truppen. Die deutschböhmische Landesregierung versuchte es, zu einer Vereinbarung mit der tschechischen Regierung zu gelangen, die bis zur Entscheidung des Friedenskongresses über das Schicksal Deutschböhmens das friedliche Zusammenwirken beider Verwaltungen sicherstellen sollte. Aber der tschechische Minister Rašín antwortete dem deutschböhmischen Landeshauptmann-Stellvertreter Seliger am 4. November: „Mit Rebellen verhandeln wir nicht.“ Die tschechische Bourgeoisie, soeben noch selbst. wegen Hochverrats an Österreich verfolgt, weil sie für das Selbstbestimmungsrecht ihres Volkes gekämpft hatte, betrachtete nun die um ihr Selbstbestimmungsrecht kämpfenden Deutschböhmen als Hochverräter. So drohte der jungen Republik ein schwerer Konflikt mit der Tschechoslowakei. Und zugleich bedrohten auch schon die slowenischen Truppen des Generals Majstr deutsche Städte in Untersteiermark und deutsche Gebiete in Kärnten.

Hatte sich die nationale Revolution in Wien und in den Industriegebieten Deutschösterreichs zur proletarischen Revolution weiterentwickelt, so wurden zugleich doch auch schon die Schranken erkennbar, die der Entfaltung der proletarischen Revolution gesetzt waren. Sie wurden sichtbar in dem Widerstand der Bauernschaft und des Bürgertums der agrarischen Alpenländer, die sich gegen die Weiterentwicklung der Revolution über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinaus zur Wehr setzten, und in der Bedrohung durch die Bourgeoisie der befreiten Nachbarvölker, die, über ihre Grenzen hinausgreifend, Deutschböhmen und das Sudetenland – die größten Industriegebiete Deutschösterreichs, die stärksten Zentren der Kraft des deutschösterreichischen Prolelariats – ihrer Herrschaft zu unterwerfen suchte. Die Republik, eben erst aus dem Willen des Proletariats erstanden, war schon bedroht durch den Länderpartikularismus der alpenländischen Bauernschaft im Innern und durch den Imperialismus der tschechischen und der jugoslawischen Bourgeoisie von außen. Der 12. November hatte die Republik nur proklamiert; es bedurfte der Arbeit und der Kämpfe von Jahren, sie zu schaffen und zu sichern.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008