Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Erster Abschnitt
Krieg und Revolution

§ 2. Die Tschechen und das Reich


Literatur:

Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907.

Tobolka, Česká politika za svĕtové války, Praha 1922. – Masaryk osvobodilei, Praha 1922. – Diplomatické dokumenty o československém státu, Pařiž 1918. – Papánek, La Tchécoslovaquie, Prague 1923.

Šteidler, Československé hnutí na Rusi, Praha 1921. – Papoušek, Zborow, Praha 1921. – Červinka, Cestcu našeho odboje, Praha 1920. – Červinka, Naši na Sibiři, Praha 1920. – Kratochvil, Cesta revoluce, Praha 1922. – Gajda, Moje paměti, Vinohrady 1920. – Podwojski, Prawda o tschechoslowakach, Moskau 1918 (russisch). – Logai, Československé legie v Italii, Praha 1922.

Urteilsbegründung des k. k. Landwehrdivisionsgerichtes Wien gegen Kramář, Rašín und Genossen vom 3. Juni 1916. – Anklageschrift des k. k. Militäranwalts in Wien gegen Hajek, Dušek, Soukup und Genossen vom 2. August 1916.



Die jugoslawische Revolution hat Habsburg in den Krieg getrieben. Der Krieg hat die tschechische Revolution geweckt. Unter den durch den Krieg entfesselten national-revolutionären Bewegungen der österreichischen Nationen war die Bewegung der Tschechen die mächtigste, die folgenschwerste; sie hat das Schicksal der Habsburgermonarchie entschieden.

Schon unter den Triebkräften der habsburgischen Außenpolitik, die schließlich zum Kriege führten, war die Verschärfung der nationalen Kämpfe zwischen den Tschechen und den Deutschen eine der stärksten. Seit den neunziger Jahren schon hatten die nationalen Kämpfe innerhalb Österreichs, halte vor allem der nationale Kampf zwischen Deutschen und Tschechen immer größere Ausdehnung, immer bedrohlichere Gestalt gewonnen. Das Parlament war seit 1897 durch die nationale Obstruktion gelähmt, die bürokratische Verwaltung durch die nationalen Gegensätze innerhalb des Beamtenkörpers zersetzt, selbst das Gefüge der Armee zeigte sich immer stärker durch die nationalen Kämpfe bedroht. Dieser Auflösungsprozeß drängte Habsburg zu dem Versuch einer gewaltsamen Lösung des österreichischen Problems. Am Hofe Franz Ferdinands wurde längst schon ein Plan eines militärischen Staatsstreichs gegen die durch die nationalen Kämpfe tatsächlich bereits funktionsunfähig gewordene Dezemberverfassung ausgearbeitet. Mit kriegerischer Gewalt nicht nur die Jugoslawen niederzuwerfen, sondern auch die durch einen siegreichen Krieg gestärkte Kraft des Militarismus zu einem Verfassungsoktroi, zur gewaltsamen Einfügung der sich auflehnenden Nationen in ein neugeordnetes Habsburgerreich zu benützen – das war die eigentliche Absicht der schon seit 1907 zu dem Kriege drängenden Militärpartei. Die nationale Revolution war nicht nur das Ergebnis, sie war auch die Ursache des Krieges. Denn die nationale Revolution hat nicht erst 1918, sie hat im Grunde schon 1897 begonnen.

Die soziale Grundlage dieser nationalen Revolution war das Erwachen des Kleinbürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zu selbständigem politischem Leben. Nur solange das öffentliche Leben von einer kleinen Oberschicht der Völker, von dem Feudaladel und der Großbourgeoisie beherrscht wurde, blieb das Gefüge des österreichischen Staates unerschüttert. In dem Maße, als mit der Demokratisierung des öffentlichen Lebens die Volksmassen selbst das staatliche Leben zu bestimmen begannen, wurde der österreichische Staat durch die nationalen Kämpfe zersetzt. Es ist kein Zufall, daß gerade in dem im Jahre 1897 gewählten Parlament, dem ersten Parlament, daß wenigstens zum Teil aus Wahlen des allgemeinen Stimmrechts hervorgegangen war, die nationale Obstruktion ausbrach, der sich der österreichische Parlamentarismus seither nicht wieder zu entwinden vermochte. Diese Selbstauflösung des österreichischen Parlamentarismus durch die nationale Obstruktion war der eigentliche Anfang der nationalen Revolution.

Von 1860 bis 1890 war das politische Leben Österreichs beherrscht durch den Gegensatz zwischen der zentralistischen Großbourgeoisie auf der einen, dem föderalistischen Feudaladel auf der anderen Seite. Die zentralistische Großbourgeoisie war vertreten durch die deutschliberalen Parteien. Der föderalistische Feudaladel vereinigte unter seiner Führung die deutschen Klerikalen mit den Alttschechen und den Südslawen. Es war kein nationaler Gegensatz; denn Deutsche standen hüben wie drüben. Deutsch war die liberale Bourgeoisie. Aber deutsch war auch die klerikale Gefolgschaft des Feudaladels. Beide Parteien aber waren gut österreichisch. Gegenstand des Streites war die Gestaltung der österreichischen Verfassung, nicht die Existenz des österreichischen Staates. Die deutschliberale Bourgeoisie betrachtete sich als die eigentliche Staatspartei; die Verteidigung der Einheit des österreichischen Staates gegen die föderalistischen Zersetzungspläne galt ihr als ihre höchste Aufgabe. Nicht minder gut österreichisch war aber damals auch das alttschechische Bürgertum gesinnt, das in der Gefolgschaft des Feudaladels für die Föderalisierung des österreichischen Staates kämpfte. Denn die Auflösung des österreichischen Staates hätte ja, solange das Deutsche Reich mächtig war, nichts anderes bedeuten können, als daß die alten deutschen Bundesländer vom Riesengebirge bis zur Adria an das Deutsche Reich gefallen, die tschechischen Länder also unter deutsche Herrschaft geraten wären. Aus Furcht davor hatten die Tschechen schon 1848 für Österreich, gegen die nationalen Revolutionen der Deutschen, der Magyaren, der Italiener Partei ergriffen; man müßte Österreich erfinden, wenn es nicht bestünde, schrieb damals Palacký.

Schon in den achtziger Jahren erstarkte aber im deutschen wie im tschechischen Lager die Opposition gegen die Führung der Großbourgeoisie hier, des Feudaladels dort. Der Feudaladel hatte 1878 bis 1885 die Gefolgschaft der Tschechen mit nationalen Zugeständnissen erkauft; das tschechische Schulwesen wurde ausgebaut, tschechische Beamte drangen in wachsender Zahl in die Ämter ein, der Gebrauch der tschechischen Sprache im Amt und Gericht wurde ausgedehnt, viele Gemeindevertretungen gingen aus den Händen des deutschen Großbürgertums in die der tschechischen Kleinbürger über. Der deutsche Liberalismus hatte gehofft, der Ausgleich von 1867 werde der deutschen Bourgeoisie in Österreich die Herrschaft sichern, wie er der magyarischen Gentry in Ungarn die Herrschaft gesichert hat; in den achtziger Jahren erkannte das deutsche Bürgertum, daß es seine Vorherrschaft über die slawische Bevölkerungsmehrheit nicht zu behaupten vermochte. Unter dem Eindruck dieser Enttäuschung begann in der deutschen Jugend eine deutsche Irredenta zu entstehen, die von Deutschösterreichs Rettung in das Hohenzollernreich träumte Die Gegnerschaft der deutschen Intelligenz gegen das feudal-klerikale Regime verschärfte sich zur. Gegnerschaft gegen den österreichischen Staat selbst. Die entstehenden deutschnationalen Parteien stellten, im bewußten Gegensatz gegen die schwarzgelben Liberalen, das deutsche Volksinteresse dem österreichischen Staatsinteresse entgegen. „Wir wollen im Kampfe um die nationalen Rechte der Deutschen keine anderen Rücksichten walten lassen als diejenigen, die durch die nationalen Interessen selbst gegeben sind“, erklärte nach den Wahlen 1885 das Programm der Deutschnationalen Vereinigung. Das Erstarken der deutschnationalen Bewegung schreckte den Hof; um das deutsche Nationalbewußtsein nicht zu reizen, kargte man nunmehr mit nationalen Zugeständnissen an die Tschechen. Die Alttschechen stützten immer noch das feudal-klerikale Regime; aber sie konnten nicht mehr nationale Zugeständnisse als Preis dafür heimbringen. So erstarkte unter den Tschechen der Widerstand gegen die alttschechische Politik. Parallel mit der deutschnationalcn Bewegunggegen die liberale Großbourgeoisie entwickelte sich die jungtschechische Opposition gegen die alttschechische Gefolgschaft des feudalen Regimes. Bei den böhmischen Landtagswahlen von 1889 wurden die Alttschechen von den Jungtschechen hinweggefegt. Damit hatte sich das tschechische Bürgertum von der feudalen Führung befreit. Der „Eiserne Ring“, der die föderalistischen Parteien unter der feudalen Führung vereinigt hatte, war gesprengt.

Zugleich erhob sich aber auch die Arbeiterklasse. 1890 hat sie den Kampf um das Wahlrecht begonnen. Das erste Ergebnis des Wahlrechtskampfes war die Wahlreform von 1896. Ein neues Parlament, den früheren nicht vergleichbar, trat 1897 zusammen. Die Liberalen waren von den Deutschnationalen und den Christlichsozialen, die Alttschechen von den Jungtschechen verdrängt. Trotzdem versuchte es die Regierung Badeni noch einmal, das alte Regime, die Koalition der föderalistischen Parteien unter feudaler Führung, wiederherzustellen. Sie kaufte die Jungtschechen mit ihren Sprachenverordnungen, wie 1880 Taaffe die Alttschechen mit den Stremayrschen Sprachenverordnungen gekauft hatte. Aber Badeni stand anderen Gegnern gegenüber als Taaffe. Die deutschnationalen Parteien beantworteten die Sprachenverordnungen mit der lärmenden, jede parlamentarische Arbeit vereitelnden, die Volksmassen aufwühlenden Obstruktion. Als Badeni die Obstruktion gewaltsam niederwerfen wollte, sprengten die Sozialdemokraten das Parlament. Als Thun an die Stelle des zerstörten Parlamentarismus den Absolutismus des § 14 setzte, erhoben sich die Arbeitermassen. Der Hof kapitulierte. Die Regierung Thun, die letzte Regierung der feudal-föderalistischen Rechten, wurde entlassen; die Regierung Clary hob 1899 die Sprachenverordnungen auf. Dem slawisch-feudalen Regierungssystem folgte nunmehr das deutsch-bürokratische. Die Tschechen hatten eine schwere Niederlage erlitten. Aber nun griffen sie zu der Waffe, die die Deutschen mit so großem Erfolg gebraucht hatten. Die deutsche Obstruktion wurde von der tschechischen abgelöst. Das österreichische Parlament ist ihrer nie mehr ledig geworden.

Die Periode der nationalen Obstruktion hat immer breitere Volksmassen mit den Leidenschaften des nationalen Kampfes erfüllt, die Nationen einander immer tiefer verfeindet, die internationalen Bindungen immer vollständiger aufgelöst. War der Nationalismus zunächst von der Intelligenz und ihrer kleinbürgerlichen Gefolgschaft getragen, so gelang es ihm mit der Verschärfung der nationalen Kämpfe allmählich, auch die anderen Klassen der Führung des nationalistischen Bürgertums unterzuordnen. Zuerst erlag ihm die Bauernschaft. Deutsche und slavische klerikale Bauernabgeordnete, bis 1895 im Hohenwart-Klub zu einer Partei vereinigt, wurden auseinandergerissen, in die „nationale Gemeinbürgschaft“ mit den bürgerlichen nationalen Parteien hineingezwungen und damit der Führung des nationalistischen Bürgertums untergeordnet. Dann wurde die Beamtenschaft in den nationalen Kampf hineingezerrt. Die Landsmannministerien und die nationalen Volksräte machten einander jede Beamtenstelle streitig, das individuelle Interesse des einzelnen Beamten an seinem Avancement wurde an das nationale Interesse im nationalen Machtkampf gebunden, die Beamtenschaft begann sich den nationalen Volksräten unterzuordnen. Die tschechischen Beamten führten „via facti“ die durch die Claryschen Sprachenverordnungen aufgehobene innere tschechische Amtssprache wieder ein. Die deutschen Richter setzten die durch die Stremayerschen Sprachenverordnungen eingeführten Rechte der tschechischen Sprache außer Wirksamkeit. Endlich griff der Nationalismus auch auf die Arbeiterschaft über. Solange das tschechische Bürgertum die feudalen Regierungen Badeni und Thun gestützt hatte, stand die tschechische Arbeiterschaft im heftigsten Kampfe gegen sie; sobald nach 1899 das tschechische Bürgertum im heftigsten Kampfe gegen die deutsch-bürokratischen Regierungen stand, geriet die tschechische Arbeiterschaft immer stärker unter den Einfluß des tschechischen Nationalismus; der tschechische Separatismus sprengte die österreichische Internationale. So entwickelte der fünfzehnjährige Kampf des tschechischen Bürgertums gegen die deutsch-bürokratischen Regierungen von Clary bis Stürgkh allmählich die Kräfte, die über alle Klassen- und Parteigegensätze hinweg die ganze Nation geeint dem österreichischen Regierungssystem entgegenstellten.

Noch einmal wurde diese Entwicklung unterbrochen. Das Kurienparlament hatte durch die nationale Obstruktion alle Wirkensmöglichkeit verloren. Die Siege der russischen Revolution von 1905 gaben dem Wahlrechtskampf des österreichischen Proletariats neue Wucht. Der Konflikt des Kaisers mit dem ungarischen Adelsparlament hatte 1905 in Ungarn zur Einsetzung der Regierung Fejérváry-Kristoffy geführt, die die rebellierende magyarische Gentry mit der Drohung, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, schreckte; um das ungarische Adelsparlament einzuschüchtern, gestand der Kaiser in Österreich das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu. Die demokratische Wahlreform entfesselte mächtige Gegenkräfte gegen den Nationalismus. Nach den Wahlen von 1907 vereinigle Beck die Vertreter des deutschen, des tschechischen und des polnischen Bürgertums zu einer Koalitionsregierung. Ein gewaltiger Fortschritt schien errungen. Die bürokratischen Obrigkeitsregierungen waren von einer Regierung der Parlamentsmehrheit abgelöst. An Stelle der Feudalherren und der Bürokraten saßen die Prade und Pacák, die Petschek und Prašek. die Vertreter der deutschen und der tschechischen Bürger und Bauern, auf der Ministerbank. An die Stelle der nationalen Obstruktion war die gemeinsame Regierung des Bürger- und Bauerntums der drei führenden Nationen getreten. Die Entwicklung der Demokratie hatte seit den achtziger Jahren die nationalen Kräfte geweckt und gestärkt, deren Zusammenstoß den alten Obrigkeitsstaat zersetzt hat; die Machtergreifung der Demokratie schien nun diese nationalen Kräfte zu gemeinsamem Aufbau eines demokratischen Völkerstaates vereinigen zu sollen.

Aber gegen die Machtergreifung der bürgerlichen Demokratie ralliierten sich sofort die durch die Wahlreform entthronten Mächte. Die großkapitalistische Presse schürte den nationalen Kampf. Der Feudaladel intrigierte. Der Militarismus führte den entscheidenden Streich. Die Militärpartei haßte die Regierung Beck, die die Forderungen des Militarismus gegen Ungarn und gegen das österreichische Parlament nicht kräftig genug vertreten habe. Die Militärpartei bereitete die Annexion Bosniens vor und brauchte dazu eine „Regierung der starken Hand“. Auf Franz Ferdinands Befehl stürzte Geßmann die Regierung Beck. Mit Bienerth kehrte das deutsch-bürokratische Regierungssystem, kehrte daher auch die tschechische Obstruktion wieder. Der Imperialismus hatte den ersten, den einzigen Versuch der Demokratie, mit ihren eigenen Mitteln das durch ihre eigene Entwicklung gestellte österreichische Problem zu lösen, vereitelt. Der Imperialismus wollte dieses Problem nunmehr mit seinen Mitteln, mit den Mitteln einer kriegerischen Außenpolitik lösen und eben dadurch hat er es aus einem innerösterreichischen zu einem europäischen Problem erweitert.

Wenige Wochen nach dem Sturze der Regierung Beck wurde die Annexion Bosniens proklamiert. Die Annexionskrise stellte zum erstenmal die Habsburgermonarchie unter Deutschlands Schutz den Ententemächten gegenüber. Die neue Weltlage begann nun das Verhältnis der Nationen zum Staat zu bestimmen.

Sehr schnell veränderte sich die Stellung des deutschnationalen Bürgertums zum Staat. Die deutschnationalen Parteien waren in den achtziger Jahren entstanden im Kampfe gegen die Staatspolitik des Liberalismus, der das deutsche Volksinteresse mit dem österreichischen Staatsinteresse identifizierte. Sie hatten von 1897 bis 1899 in ihren Kämpfen gegen Badeni und Thun dem habsburgischen Staat das großdeutsche Ideal drohend entgegengestellt. Jetzt aber, unter dem Druck der neuen Weltlage, kehrten sie in Habsburgs Lager zurück. Deutschland stand im Westen und im Osten gewaltigen Feinden gegenüber. Die Gefahr eines Krieges zwischen Deutschland und den Ententemächten ward sichtbar. In dem drohenden Kriege mußte die Habsburgermonarchie an Deutschlands Seite fechten. Nun ward den Deutschnationalen die geschichtliche Bestimmung der Habsburgermonarchie klar: ihre Aufgabe war es, die Bajonette von vierzig Millionen Slawen, Magyaren und Romanen unter deutsches Kommando zu stellen. Nun forderte deutsches nationales Interesse, daß der habsburgische Staat möglichst stark, möglichst vollkommen gerüstet sei. Die Deutschnationalen wurden schwarzgelb – mit weniger Vorbehalten schwarzgelber, als es die Liberalen je gewesen. Sie wetteiferten in patriotischem Eifer mit den Klerikalen. Sie standen an Habsburgs Seite in den Tagen der Annexionskrise und des Balkankrieges. Sie bewilligten in begeisterter Stimmung das Wehrgesetz, die Rüstungskredite, das Kriegsleistungsgesetz.

Aber eben damit änderte sich die Stellung der Tschechen zum österreichischen Staat in der entgegengesetzten Richtung. Habsburg hatte in Österreich das deutsch-bürokratische Regime wiederhergestellt, das die Obstruktion der Tschechen, der Slowenen, der Ruthenen mit dem Absolutismus des § 14 beantwortete. Habsburg hatte in Ungarn mit der magyarischen Herrenklasse seinen Frieden geschlossen, ihr die slawischen Nationalitäten wieder ausgeliefert. Habsburg bedrohte Serbien. Habsburg rüstete zum Krieg gegen Rußland. Und je feindlicher Habsburg den slawischen Mächten gegenüberstand, desto mehr ward es auf Deutschlands Schutz angewiesen; desto mehr erschien es als ein Vasall der Hohenzollern. Auch den Tschechen erschien es nun als die geschichtliche Bestimmung der Habsburgermonarchie, die Slawen in Österreich und in Ungarn niederzuhalten, um ihre Volkskraft in dem nahenden großen Kriege unter Deutschlands Führung, unter deutschem Kommando den Slawen Rußlands und den Slawen am Balkan entgegenzuwerfen. Damit mußte sich das Verhältnis der Tschechen zur Habsburgermonarchie verändern. Nun steigerte sich ihre Gegnerschaft gegen das deutsch-bürokratische Regime zur Gegnerschaft gegen den Staat selbst. Diese Entwicklung begann mit der Annexion Bosniens, sie wurde beschleunigt durch Habsburgs antislawische Politik während des Balkankrieges, sie fand ihren Abschluß, als Habsburg mit dem Ultimatum an Serbien den Weltkrieg entfesselte.

Die habsburgische Eroberung im Jahre 1620 hatte nicht nur den böhmischen Staat, sondern auch die tschechische Kultur zerstört. Der rebellische tschechische Adel war ausgerottet, das tschechische Bürgertum seines evangelischen Glaubens wegen des Landes verwiesen worden. Was den Sturm der blutigen habsburgischen Gegenreformation überlebt hatte, erlag den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Von 1620 bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren die Tschechen ein Volk höriger Bauern, die deutschen Gutsherren fronten, ein Volk ohne Bürgertum, ohne städtische Kultur, ohne Literatur, ohne Anteil am staatlichen Leben, nicht anders als die Slowenen eine geschichtslose Nation. Erst mit der kapitalistischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts ward aus dem Schöße des tschechischen Bauernvolkes ein neues Bürgertum geboren, ward der tschechische Bauer von der Hörigkeit befreit, entstand ein selbstbewußtes tschechisches Proletariat. In hartem zähen Kampfe gegen die Herrschaft der deutschen Bürokratie, gegen die ökonomische Übermacht der deutschen Bourgeoisie, gegen die überlegene Anziehungskraft der deutschen Kultur stiegen die Tschechen im Verlauf eines Jahrhunderts zu neuem nationalen Leben auf. Aber in ihren Anfängen, noch um 1848, erschien diese Bewegung schier hoffnungslos. Die Sudetenländer bildeten damals noch einen Bestandteil des Deutschen Bundes; innerhalb des Deutschen Bundes standen drei, höchstens vier Millionen Tschechen 40 Millionen Deutschen gegenüber. In den tschechischen Ländern selbst waren damals ein paar hundert Intellektuelle, auf eine schwache Kleinbürgerschicht gestützt, die Träger der nationalen Bewegung-, der Bauer hatte an ihr noch keinen Anteil, Bourgeoisie und Bürokratie, Kapital und Industrie, Gemeindevertretungen und Schulen waren damals auch in Böhmen überall noch deutsch. Auf ihre eigene Kraft angewiesen, erschien die junge tschechische Bewegung sich selbst aussichtslos; so mußte sie Selbstvertrauen in dem Gedanken suchen, daß hinter dem kleinen tschechischen Volke die große hundertmillionenköpfige slawische Rasse stehe. Schon diese Zeit des Erwachens des tschechischen Volkes versenkte in seine Seele die Hoffnung auf die Gemeinschaft der slawischen Völker; seit Kolárs Slávy deera, der ersten großen. Dichtung des wiedererwachenden Volkes, weckte und stärkte die tschechische Kunst in den nachfolgenden Generationen den romantischen Enthusiasmus für die Einheit der slawischen Rasse. In dieser Überlieferung waren die tschechischen Soldaten erzogen, die nun einrücken mußten, um gegen Serben und Russen, gegen die „slawischen Brüder“ zu kämpfen.

Die Habsburgermonarchie war entstanden, als Ferdinand I. die Königreiche Böhmen und Ungarn mit den deutschen Erbländern vereinigte. Der Absolutismus hat 1620, 1749, 1849 die staatliche Selbständigkeit Böhmens vernichtet. Als auf den Schlachtfeldern von Magenta und Solferino der Absolutismus zusammenbrach, forderten die Tschechen so gut wie die Magyaren die Wiederherstellung ihrer staatlichen Selbständigkeit. 1865, als Habsburg zum Kriege gegen Preußen rüstete, glaubten sie sich dem Ziele nahe; Belcredi sistierte die zentralistische Verfassung. Preußens Sieg entschied gegen sie: der Ausgleich von 1867 sollte sie der Herrschaft der deutschösterreichischen Bourgeoisie unterwerfen, wie er die Slawen in Ungarn der Herrschaft der magyarischen Gentry unterwarf. Als Beust 1869 den Revanchekrieg an Frankreichs Seite gegen Preußen vorbereitete, wandte sich der Kaiser abermals den Tschechen zu; die Regierung Hohenwart wollte 1870 den böhmischen Staat wiederherstellen. Aber nach dem Ausgleich von 1867 war die Macht des magyarischen Adels, nach den deutschen Siegen in Frankreich die Furcht des Kaisers vor deutschem Irredentismus in Böhmen zu stark, als daß dieser Plan hätte gelingen können. Hohenwart fiel, die deutsch-zentralistische Verfassung hatte gesiegt. In der langen Friedensperiode, die nun folgte, hatten die Tschechen keine Hoffnung mehr, ihren Staat wiederherstellen zu können; 1878 gaben sie den passiven Widerstand gegen die zentralistische Verfassung auf, sie traten in das Parlament ein, sie begnügten sich mit der „Brosamenpolitik“, mit Eroberungen innerhalb der zentralistischen Verfassung. Aber in der Nation lebte die Hoffnung fort, neue europäische Umwälzungen würden ihr dereinst die Möglichkeit bieten, den Kampf um die Wiederherstellung ihres Staates von neuem aufzunehmen. Nach jeder ihrer großen Niederlagen, nach 1867, nach 1871, nach 1890, nach 1899, nach 1908 träumte die Nation davon„ es werde „der unvermeidliche Weltkampf des Germanentums mit dem Slawentum kommen“, der der Nation ihren Staat wiedergeben werde. So hatte es Palacký selbst noch 1871 geschrieben; seit der Annexionskrise von 1908, seitdem 1913 der deutsche Reichskanzler selber von dem drohenden Kampf zwischen Germanentum und Slawentum gesprochen hatte, waren diese Gedanken zu neuem Leben erwacht. Als sich 1914 die russischen Heeresmassen der deutschen Grenze zuwälzten, schien die Stunde, von der die Nation so lange geträumt hatte, gekommen. Und nun mußten tschechische Soldaten kämpfen und sterben für die Sache des Germanentums gegen das Slawentum!

So mußte sich das durch die ganze Geschichte der Nation bestimmte Fühlen der Massen gegen den Krieg auflehnen. Die tschechischen Soldaten mußten es als furchtbarste Leibeigenschaft empfinden, daß Habsburg sie zwang, für eine Sache zu kämpfen und zu sterben, die ihnen nicht die Sache ihres Volkes, sondern die Sache der Feinde ihres Volkes war. Das Gefühl der Nation mußte sich gegen Habsburg aufbäumen. „Wir müssen die Befreiung vom Habsburgerjoch anstreben,“ schrieb Bohdan Pavlů, „um für die Zukunft den ungeheuren Seelenqualen des Zwanges, an der Seite unserer Gegner kämpfen zu müssen, zu entgehen.“

Aber nicht nur das Gefühl, nüchterne politische Erwägung selbst mußte die Tschechen gegen Österreich stellen. Die Tschechen hatten es nicht vergessen, daß Königgrätz und Sedan ihre Niederlage in ihrem Kampf um das böhmische Staatsrecht entschieden hatten. Siegten im Weltkrieg die Mittelmächte, so wurde Deutschland zur Vormacht Europas; die Vorherrschaft des Deutschen Reiches in Europa mußte die Machtstellung der Deutschen innerhalb der Habsburgermonarchie gewaltig stärken. Siegte dagegen die Entente, dann war die Wiederherstellung des tschechischen Staates gewiß. Zwar mochten am Anfang des Krieges nur wenige Tschechen die vollständige Zertrümmerung des Habsburgerreiches für möglich, für wünschenswert halten. Aber wenn die Entente siegte, dann war es offenbar ihr Interesse, die Vorherrschaft des deutschen Bürgertums und des magyarischen Adels in der Monarchie zu zertrümmern und eine Umbildung der Monarchie, die der slawischen Bevölkerungsmehrheit die Führung sicherte, zu erzwingen, um Österreich für immer von Deutschland zu trennen. So konnte das tschechische Volk nur von einer Niederlage der Mittelmächte Freiheit und Macht erwarten.

An der Front standen die tschechischen Soldaten. Die Maschinerie des Militarismus hielt sie in Zucht. Und im Gefecht vergaßen auch sie alle Politik: wer auf uns schießt, ist unser Feind. Aber freilich, jene höchste Kraftanspannung, jene volle Selbstaufopferung, die nur der Enthusiasmus des Kampfes um die eigene Sache verleiht, sie durfte man von den tschechischen Regimentern nicht erwarten. Brach der Feind in ihre Linien ein, kam es zum Kampfe Mann gegen Mann, dann streckten sie die Hände hoch; sie waren nicht gewillt, für eine ihnen fremde, ihnen feindliche Sache zu sterben.

Die Heimat aber verstummte. Sie konnte sich nicht offen auflehnen. Aber gegen alle Begeisterung, alle Opferwilligkeit für den Krieg stritten nicht nur alle ihre Gefühle, stritt auch alle politische Erwägung. „Nichts unternehmen, was als eine Billigung des Krieges aussehen könnte“, war Kramářs Parole; nur diese Haltung konnte der Nation im Augenblick des Friedensschlusses den Schutz der Entente sichern.

Indessen hatten die russischen Heere Österreich geschlagen. Die Russen standen am Dunajec, in den Karpathen hart vor den Toren des tschechischen und slowakischen Siedlungsgebiets. Ein Manifest Nikolaj Nikolajewitsch’, des russisphon Oberkommandieronden, versprach den Tschechen die staatliche Selbständigkeit. Der tschechische Nationalrat in Rußland bot einem russischen Großfürsten die böhmische Krone an. Die Nation horchte auf. Der Traum vom nationalen Staat schien zum ersten Male wieder in den Bereich des Möglichen zu treten.

Die politischen Führer blieben stumm. Der Kriegsabsolutismus hatte ihnen den Mund geschlossen. Aber die kleinen Leute im Volke wußten ihr volles Herz nicht zu wahren. Die tschechischen Soldaten sangen:

Weh’, rotes Tüchlein, dreh’ dich ringsum.
Wir ziehn gegen die Russen und wissen nicht warum.

Und im Hinterlande drückte einer dem andern das Manifest des russischen Großfürsten in die Hand. Da begannen die Henker ihr Werk. In den ersten Kriegsmonaten wurden in Mähren allem 500 Hochverratsprozesse eingeleitet. Todesurteile wurden gefällt und vollzogen.

Der Durchbruch von Gorlice machte den tschechischen Hoffnungen ein Ende. Die russischen Heere fluteten zurück. Habsburg triumphierte. Das Selbstbewußtsein des österreichischen Militarismus war mächtig gewachsen. Er hatte in den bösesten Stunden tschechische Regimenter wankend, das tschechische Hinterland unzuverlässig gesehen. Jetzt beschloß er, den fehlenden Patriotismus zu erzwingen. Die Führer des tschechischen Bürgertums wurden verhaftet und von den Militärgerichten nicht wegen Handlungen, sondern wegen Gesinnungen zum Tode verurteilt. Täglich sprachen die Militärgerichte ihre Bluturteile gegen tschechische Soldaten, Arbeiter, Lehrer, Frauen, die ein unvorsichtiges Wort der Kritik gebraucht, ein Flugblatt aufbewahrt hatten oder einem russischen Gefangenen allzu freundlich begegnet waren. Die Organisation der Sokoln wurde aufgelöst. Den tschechischen Zeitungen schickte die Polizei patriotische Artikel ins Haus, die sie veröffentlichen mußten. Ein Konfiskationskrieg gegen tschechische Bücher aus der Vorkriegszeit, gegen Denkmäler der tschechischen Geschichte begann.

Die deutsche Bourgeoisie sah den nationalen Gegner von der eisernen Faust der Militärgewalt niedergeworfen. Jetzt glaubte sip ihre Stunde gekommen. Sie formulierte ihre „Belange“. Sie forderte einen Staatsstreich, durch den die deutsche Staatssprache und die „Sonderstellung“ Galiziens oktroyiert, den Deutschen im Abgeordnetenhause die Mehrheit gesichert werden sollte.

Es war sehr ernst. Bei Luck war der letzte Rest der Selbständigkeit Österreich-Ungarns zusammengebrochen. Die ganze Ostfront wurde unter deutsches Kommando gestellt. „Mitteleuropa“, die Eingliederung Österreich-Ungarns in einen von Deutschland geführten Staatenbund bereitete sich vor. Sollte Österreich in dem deutschen „Mitteleuropa“ aufgehen, so mußte man die deutsche Vorherrschaft innerhalb Österreichs sichern.

Nun war es anschaulich geworden, was der Sieg der Mittelmächte bedeuten sollte: die Herrschaft des deutschen Imperialismus, der durch die Deutschösterreicher und die Magyaren die slawischen Völker der Monarchie gewaltsam niederhalten wird. Und für dieses Ziel sollten tschechische Soldaten bluten, sterben!

Die Ära der Verfolgungen und Staatsstreichpläne hatte zwiefache Wirkungen. Die Führer der politischen Parteien trieben sie dem „Opportunismus“ in die Arme. Sie demonstrierten österreichischen Patriotismus, um den Druck der Militärgewalt zu mildern, das Schlimmste abzuwenden. Die Volksmassen aber verstanden diese Diplomatie der nationalen Führer nicht. In den Volksmassen sammelten sich nur Haß und Trotz gegen das Reich und die Dynastie. Und diese Volksstimmung erfaßte immer stärker auch die Soldaten an der Front. Immer häufiger liefen ganze Bataillone zum Feinde über.

Da durchkreuzte mit einem Male die russische Märzrevolution alle Oktroipläne. Nun war es klar: Der Krieg muß die Revolution zeugen, die die geknechteten Völker befreit. Die Vereinigten Staaten traten in den Krieg ein. Im Westen verkündete Wilson wie im Osten die Revolution das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Ziel des Krieges. Hüben die Blutjustiz, der Absolutismus, die „Belange“, „Mitteleuropa“; drüben die Verheißung der staatlichen Selbständigkeit jeder Nation! Mit seinem ganzen Fühlen, mit all seinen Hoffnungen erwartete nun das ganze tschechische Volk von der Niederlage der Mittelmächte seine Befreiung.

Die russische Revolution hat den österreichischen Kriegsabsolutismus gesprengt. Im Mai 1917 wurde das Parlament einberufen. Nun war offene Sprache möglich. Die tschechischen Abgeordneten aller Parteien begrüßten das Parlament am 30. Mai mit einer Erklärung, die die Aufrichtung eines tschechischen Staates forderte. Freilich, noch forderte sie den tschechischen Staat im Rahmen der Habsburgermonarchie. Noch ließ der Opportunismus der nationalen Führer Habsburg die Möglichkeit einer Versöhnung mit dem tschechischen Volke hoffen. Und Habsburg klammerte sich jetzt an diese Hoffnung. Seit der russischen Revolution zitterte Habsburg um seinen Thron. Kaiser Karl suchte den Frieden mit den Westmächten. Durch seinen Schwager, den Prinzen Sixtus von Parma, verhandelte er mit Frankreich. Aber wie „Mitteleuropa“ die deutsche Vorherrschaft in Österreich vorausgesetzt hätte, so setzte eine Verständigung mit der Entente die Versöhnung mit den slawischen Nationen der Monarchie voraus. Der Kaiser wünschte der Versöhnung den Weg zu bahnen. Im Juni erteilte er den tschechischen „Hochverrätern“ Amnestie. Nun tobten die Deutschnationalen. Haben nicht deutsche Truppenkörper infolge des Versagens tschechischer Nachbarbataillone schwere Verluste erlitten? Wohin sollte es kommen, wenn der Verrat von der Strafe freiblieb?

Aber waren die Deutschen erbittert, so waren die Tschechen nicht befriedigt. Davon, daß die Parma zwischen Wien und Paris Fäden spannen; davon, daß Habsburg den Abfall von Deutschland, die Wendung zur Entente erwog; daß solche Wendung auch die Machtverhältnisse innerhalb der Monarchie umwälzen sollte – von alledem ahnten die tschechischen Volksmassen nichts. Sie beherrschte der aus den blutigen Verfolgungen der beiden ersten Kriegsjahre erwachsene Haß. Sie revolutionierte die große Botschaft der russischen Revolution. Ihre Hoffnungen schwellte die Propaganda des „Rechtes der kleinen Nationen“ im Westen. Der Zusammenbruch des Kriegsabsolutismus war ihnen nur ein Anzeichen der Schwäche des verhaßten Feindes. Die neue Ära gab ihnen die Möglichkeit, endlich offen zu bekennen, was sie unter dem Druck des Absolutismus hatten im Herzen verschließen müssen. Die Volksmassen lehnten sich gegen die opportunistische Führung der tschechischen Parteien auf. Im Herbst 1917 eurde die opportunistische Führung der Jungtschechen, der Nationalsozialen und der Sozialdemokraten gestürzt und durch eine national-revolutionäre ersetzt. Die neue, aus der Massenstimmung des revolutionierten Volkes erwachsene Tendenz fand ihren Ausdruck in der „Deklaration“ des „Generallandtages“ aller tschechischen Abgeordneten vom 6. Jänner 1918. In dieser Deklaration wurde bereits der vollkommen selbständige tschechische Staat gefordert; der noch in der Deklaration vom 30. Mai 1917 enthaltene Zusatz, daß der tschechische Staat unter der Dynastie Habsburg leben solle, wurde hier gestrichen. Damit erst halte sich die offizielle tschechische Politik in der Heimat auf den Boden der nationalen Revolution gestellt. Die Aktion der Tschechen im Heimatland stellte sich damit unter die Führung der revolutionären tschechischen Emigration.

Schon seit dem Beginn des Krieges ging durch die tschechischen Kolonien im Ausland eine starke Bewegung. Schon in den ersten Kriegstagen hatten die tschechischen Kolonien in Rußland, Frankreich, England, der Schweiz und Amerika gegen den Krieg protestiert, einen „nationalen Staat mit einem slawischen König“ gefordert, zur Bildung von Freiwilligenformationen, die in den Ententearmeen gegen Habsburg kämpfen sollten, aufgefordert. Aber größere Bedeutung erlangte diese Bewegung doch erst, als die Heimat ihr den Führer und die Kämpfer schickte: den Führer in der Person Masaryks; die Kämpfer in den Massen, der tschechischen Kriegsgefangenen, die in den Gefangenenlagern Rußlands und Sibiriens, Serbiens und Italiens die revolutionäre Propaganda der tschechischen Auslandskolonien erfaßte.

Im Dezember 1914 begab sich Professor Masaryk in das Ausland. Er hatte ein Leben lang gegen die traditionelle tschechische Romantik, gegen die Vorurteile der Nation gekämpft: gegen den Aberglauben an die Echtheit der Königinhofer Handschrift, gegen den romantischen Historismus des böhmischen Staatsrechtes, gegen die antisemitische Pogromhetze, gegen den naiven Glauben an die allslawische Geistesgemeinschaft. Er trat auch in der Emigration der traditionellen Romantik entgegen. Dem Ideal der Wiederherstellung der Krone des heiligen Wenzel stellte er das Ideal einer demokratischen tschechoslowakischen Republik, der Hoffnung auf den russischen Zarismus die Hoffnung auf die Demokratie des Westens entgegen. Nur dadurch gewann er die Arbeiter, die die überwiegende Mehrheit der tschechischen Emigration bildeten, für die nationale Bewegung. Nur dadurch konnte er sie auch nach den russischen Niederlagen im Jahre 1915 aufrechterhalten. Nur dadurch konnte sie aus der russischen Revolution von 1917 neue Kraft schöpfen. Zugleich aber sicherte seine Persönlichkeit der Bewegung die Sympathien der Intelligenz des Westens und Beziehungen zu den Regierungen der Ententemächte.

Nachdem Masaryk im Herbst 1914 in das Ausland gekommen war, ging er zunächst daran, die tschechischen Kolonien im Ausland zu organisieren. Es gelang ihm, sie zusammenzufassen, ihnen in dem im Mai 1916 konstituierten „Nationalrat“ in Paris, dessen führende Männer Masaryk, Beneš und Štefanik waren, ein einheitliches leitendes Organ zu schaffen, innerhalb ihrer die Einflüsse der von der russischen Regierung unterstützten zarophilen Strömung zurückzudrängen und aus den eigenen Kräften der tschechischen Auslandskolonien die Mittel für eine großzügige Propaganda zugunsten eines selbständigen tschechoslowakischen Staates zu gewinnen. Zugleich wurde dafür gesorgt, daß die revolutionäre tschechische Emigration in enger Verbindung mit der Heimat blieb. Schon im Herbst 1914; hatte sich in Prag eine geheime Vereinigung revolutionärer Politiker, die später sogenannte „Maffie“ gebildet, die die Verbindung mit der revolutionären Emigration aufrechterhielt Sie empfing auf illegalen Wegen von Masaryk Informationen und Weisungen und schickte ihm Berichte über die Heimat. Indessen hatte die Bewegung der Emigration bis zum Jahre 1917 doch nur den Charakter einer großen Propagandaaktion. Zu realer Macht wurde die tschechische Emigration erst, als es ihr gelang, an einer Stelle in der Welt, der die Kriegsereignisse zeitweilig besondere Bedeutung gaben, ein Heer in ihren Dienst zu stellen.

Schon im Herbst 1914 hatte die zarische Regierung aus in Rußland ansässigen Tschechen eine tschechische „Druschina“ gebildet, die im Verband des russischen Heeres kämpfte. Aber die Druschina zählte kaum mehr als 1.000 Mann. Erst nachdem die russische Märzrevolution die tschechischen Kriegsgefangenen in den Lagern Rußlands und Sibiriens mit revolutionärer Kampflust erfüllt hatte, erst als mit dem Zarat auch die zarophile Führung der tschechischen Emigration in Rußland, deren reaktionäre Ideologie die demokratisch denkenden Kriegsgefangenen abstieß, gestürzt, Masaryk selbst nach Rußland gekommen war und dort die Emigration reorganisiert hatte, erst dann erlangte die militärische Bewegung der Tschechen in Rußland größere Ausdehnung. Nun gelang es, binnen wenigen Monaten ein tschechisches Heer von 42.000 Mann in der Ukraine zu formen. Seine erste Division kämpfte im Juni 1917 bei Zborow gegen die Österreicher. Als sich aber im Herbst 1917 die große russische Armee aufzulösen begann, bewahrte sich das tschechische Korps mitten in dieser allgemeinen Auflösung sein Gefüge, seine Disziplin. Die russische Armee wurde durch die soziale Revolution aufgelöst; dem tschechischen Korps gab die Idee der nationalen Revolution stärksten Halt. Im Winter 1917/18, in den Wochen von Brest-Litowsk war das tschechische Korps die einzige geordnete, disziplinierte militärische Kraft auf dem ganzen weiten Boden Rußlands. Als die deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen nach dem Sonderfrieden mit der ukrainischen Rada in die Ukraine einbrachen, zog sich das tschechoslowakische Korps kämpfend nach Osten zurück. Schulter an Schulter mit den bolschewikischen Rotgardisten schlug es bei Bachmatsch und Kiew seine Nachhutgefechte gegen die Deutschen. Als dann aber auch die Sowjetregierung mit den Mittelmächten Frieden schloß, als sie sich verpflichtete, auf russischem Boden keine fremden bewaffneten Formationen zu dulden, vereinbarten die Vertreter des Pariser Nationalrates mit der Sowjetregierung, daß die tschechischen Soldaten ihre Waffen den Sowjets abliefern und als „ freie Bürger“ in geschlossenen Transporten über Sibirien nach Wladiwostok gebracht werden sollten; dort wollten sie sich nach Frankreich einschiffen, um auf französischem Boden den Krieg gegen die Mittelmächte weiterzuführen.

Aber dieser Plan konnte nicht durchgeführt werden. Die Zerrüttung der russischen Eisenbahnen machte den Transport der tschechischen Legionen zu einer unlösbaren Aufgabe. Wochen-, ja monatelang standen die tschechischen Transporte auf den einzelnen Eisenbahnstationen. Im Mai hatten erst drei Regimenter Wladiwostok erreicht. Vier Regimenter standen noch, auf verschiedene Transporte verteilt, in Westsibirien und Transbaikalien auf dem weiten Raum zwischen Tscheljabinsk und Tschita. Drei Regimenter aber harrten des Transports noch im europäischen Rußland, im Raum von Pensa.

Während des monatelangen Wartens aber hatte sich eine immer größere Spannung zwischen den tschechischen Bataillonen, die auf den Eisenbahnstationen müßig des Transports harrten, und den lokalen Sowjets, die in den benachbarten Städten herrschten, entwickelt. Die Russen sahen die tschechischen Legionäre mit großem Mißtrauen. Schon daß sie sich militärische Ordnung und Disziplin bewahrt hatten und unter dem Kommando ihrer Offiziere geblieben waren, ließ sie damals als Konterrevolutionäre erscheinen. Und daß sie, nachdem sich das russische Volk für den Frieden um jeden Preis erhoben hatte, den Krieg weiterführen, ihn als Verbündete des der Sowjetrepublik feindlichen französischen Imperialismus weiterführen wollten, machte sie zu Feinden der Proletarierrevolution. Anderseits betrachteten die tschechischen Legionäre die russischen Kommunisten als Verräter. Sie hatten ja das slawische Rußland von der Entente losgerissen, hatten mit Deutschland Frieden geschlossen, hatten dadurch die Hoffnung auf die Niederwerfung der Mittelmächte, von der allein sie für die kleinen slawischen Nationen die Befreiung, für sich selbst die Möglichkeit ungefährdeter Heimkehr erhofften, erschüttert. Mit diesem politischen Gegensatz vermengten sich nationale Gegensätze. Die Bolschewiki hatten in Sibirien aus deutschen, deutschösterreichischen und magyarischen Kriegsgefangenen die „internationalistischen“ Bataillone formiert, die damals in weiten Teilen Sibiriens ihre stärkste, oft ihre einzige bewaffnete Macht bildeten. Im Gegensatz zwischen den „Internationalisten“ und den tschechischen Legionären lebten die nationalen Gegensätze der Heimat in neuer Verkleidung auf. Die Bolschewiki suchten, stellenweise nicht ohne Erfolg, ihre Agitation auch in die tschechischen Bataillone zu tragen; der Abwehrkampf der tschechischen Offiziere gegen diese Agitation, die die nationale Armee zu sprengen drohte, verschärfte die Gegensätze. Das Mißtrauen beider Parteien gegeneinander wuchs. Die Bolschewiki fürchteten, daß sich die Tschechen mit der russischen Konterrevolution verbünden könnten; waren doch schon am Don im Verband der weißen Truppen des Generals Alexejew tschechische Abteilungen aufgetaucht. Die Tschechen wieder fürchteten, daß die Sowjetregierung sie den Mittelmächten, den österreichischen Henkern ausliefern werde. Je schroffer die Gegensätze wurden, desto hartnäckiger verweigerten die Tschechen die vereinbarte Ablieferung ihrer Waffen an die Sowjets. So trieben die Gegensätze einer Krise zu.

Im April hatte Japan in Wladiwostok Truppen auf das Land gesetzt. In Transbaikalien hatten sich die konterrevolutionären Banden Semenows weiter Gebiete bemächtigt. Die konterrevolutionäre Intervention der Entente im fernen Osten hatte begonnen. Nun entschloß sich die Sowjetregierung, den. weiteren Transport der tschechischen Legionen gegen Wladiwostok nicht mehr zuzulassen; sie wollte nicht selbst der Konterrevolution ein schlagkräftiges Heer zuführen. Die Sowjetregierung vereinbarte mit dem Vertreter des Pariser „Nationalrats“ in Moskau, daß die noch im europäischen Rußland und in Westsibirien stehenden tschechischen Regimenter nicht über Wladiwostok, sondern über Archangelsk nach Frankreich gebracht werden sollten. Die Regimenter, die monatelang unter unsäglichen Schwierigkeiten einen Teil des Weges nach Osten zurückgelegt hatten, sollten jetzt plötzlich umkehren, den Weg nach Westen nehmen. Die Legionen lehnten sich gegen diesen Befehl auf. Sie fühlten sich stark. Rußland hatte keine Armee. Die schwachen Roten Garden, in Sibirien zumeist aus den deutschen und magyarischen Kriegsgefangenen zusammengesetzt, zu überrennen, erschien nicht schwer. In den tschechischen Legionen erstarkte der Gedanke, sich gewaltsam der Herrschaft über die sibirische Bahn zu bemächtigen, um sich den Transport nach Wladiwostok zu erzwingen.

Die Spannung führte schon am 14. Mai zu gewaltsamem Zusammenstoß. Auf dem Bahnhof von Tscheljabinsk hatten die Tschechen einen magyarischen Kriegsgefangenen erschlagen. Als darum der Sowjet von Tscheljabinsk die tschechische Wache verhaften ließ, drangen die Tschechen in die Stadt ein, sie bedrohten den Sowjet, sie entwaffneten einen Teil der Roten Garde. Zwei Tage später traten in Tscheljabinsk die Delegierten der Legionen zu einem Kongreß zusammen. Sie beschlossen, die Fahrt über Archangelsk abzulehnen und sich „aus eigener Ordnung“ den Weg nach Wladiwostok zu bahnen. Nun entschloß sich die Sowjetregierung zu entschiedenster Abwehr. Am 23. Mai befahl das Kriegskommissariat „alle tschechischen Transporte zu entwaffnen und aufzulösen und aus ihnen Teile der Roten Armee oder Arbeitsabteilungen zu bilden“. Am 25. Mai befahl Trotzki: „Jeder Tschechoslowake, der mit der Waffe in der Hand an der Bahn betreten wird, ist auf der Stelle zu erschießen. Jede Abteilung, in der auch nur ein bewaffneter tschechoslowakischer Soldat gefunden wird, ist in einem Gefangenenlager zu internieren. Allen Eisenbahnern ist bekanntzugeben, daß sich kein Waggon mit Tschechoslowaken mehr nach Osten bewegen darf.“

An demselben Tage, an dem Trotzki diesen Befehl erließ, schlugen die Tschechen in Westsibirien los. Sie bemächtigen sich der Eisenbahnstationen, drangen in die Städte ein, überwältigten und entwaffneten die schwachen roten Besatzungen, verhafteten die Mitglieder der Sowjets. Binnen wenigen Tagen war die ganze sibirische Bahn von Tscheljabinsk bis zum Bajkal in den Händen der Tschechen.

Nun erhoben sich auch die noch im europäischen Rußland stehenden Regimenter. Am 29. Mai nahmen sie Pensa. Von dort erzwangen sie sich den Transport nach Osten. Bei Lipjag schlugen sie rote Streitkräfte, die sich ihnen entgegen warfen; so fiel Samara in ihre Hand. Hier, an der Wolga, bildete sich eine neue Front. Es waren in der ersten Zeit auf beiden Seiten der Front Österreicher, die den neuen Krieg führten: hüben Deutsche und Magyaren unter roter Flagge, drüben die Tschechen. Am 6. Juni wurde die Verbindung zwischen Samara und Tscheljabinsk hergestellt; von der Wolga bis zum Bajkal war nun die Eisenbahn in den Händen der Legionen.

In diesem ganzen Gebiet hatten die Tschechen die Sowjets gestürzt. Unter dem Schutze der tschechischen Bajonette bildeten sich die „demokratischen“ Regierungen von Samara und Omsk, die im Namen der von den Bolschewiki auseinandergejagten Konstituante die Herrschaft übernahmen. Es waren die rechten Sozialisten-Revolutionäre und die Kadetten, die das Erbe der Sowjets antraten. Die Tschechen verband mit diesen Parteien der Glaube an die Demokratie und die Gegnerschaft gegen den Frieden von Brest-Litowsk. Sie glaubten, durch ihren bewaffneten Schutz das große slawische Rußland wiederherzustellen, den Frieden von Brest-Litowsk zu vernichten, die Ostfront gegen die Mittelmächte wieder aufzubauen. Von der Fahrt nach Wladiwostok war nun keine Rede mehr. Nun galt es, die tschechischen Regimenter an der neuen Front an der Wolga zu konzentrieren, damit sie die Front halten, bis die russische Demokratie in ihrem Rücken eine neue nationale Armee aufstellt.

Der Maiaufstand der tschechischen Legionen war ein Ereignis von geschichtlicher Bedeutung. Seine Wirkung war konterrevolutionär gegen das proletarische Rußland, revolutionär gegen das feudale Österreich-Ungarn. Der zwieschlächtige Charakter jeder bürgerlichen Revolution, die, revolutionär gegen das feudale Regime, zugleich konterrevolutionär wird gegen das Proletariat, erweist sich mit größter Anschaulichkeit an der nationalen Revolution der Tschechen.

Die russische Revolution geriet infolge des Aufstandes der Tschechen in die schwerste Gefahr. Das Wolgagebiet, der Ural und ganz Sibirien wurden von der Sowjetrepublik losgerissen. Rußland verlor die Verfügung über die Getreidespeicher Sibiriens und über die Bergwerke des Ural, über die Verkehrsstraßen zum Kaukasus und nach Turkestan. Die Sowjetrepublik wurde dadurch in die schwerste Nahrungsmittel- und Rohstoffkrise gestürzt. Zugleich mußte die Sowjetregierung eine neue Armee aufstellen, einen neuen Krieg führen, um sich an der Wolga des Ansturms der sich unter dem Schutz der tschechischen Legionen sammelnden Konterrevolution zu erwehren. Zunächst war es die kleinbürgerliche Demokratie, der die Tschechen die Herrschaft in den von der Sowjetrepublik losgerissenen Gebieten übergeben hatten. Aber die Demokratie, nur von fremden Truppen eingesetzt, geriet in dem Maße, als sie hinter der tschechischen Front ein neues russisches Heer aufzustellen versuchte, unter die Kontrolle des konterrevolutionären russischen Offizierskorps; und sobald dieses Offizierskorps, auf die neugebildete Armee gestützt, hinreichend erstarkt war, stürzte es die demokratischen Regierungen und erhob den Zarenadmiral Koltschak zum Diktator des von den Tschechen „befreiten“ Gebietes. Der zerstörende Bürgerkrieg zwischen der weißen und der roten Diktatur war das schließliche Ergebnis des tschechischen Aufstandes.

Aber so sehr der tschechische Aufstand Rußland gegenüber konterrevolutionär gewirkt hat, so sehr hat er Österreich-Ungarn gegenüber revolutionär gewirkt. Denn nun war die Stellung des tschechischen Volkes in der Welt mit einem Male vollständig verändert. Der Pariser tschechische Nationalrat war nun keine bloße Propagandagesellschaft mehr. Er war mit einem Male zu einer kriegführenden Macht geworden, die an einer für den Kriegsverlauf überaus wichtig gewordenen Stelle über ein Heer verfügte.

Der Friede von Brest-Litowsk hatte die Sowjetrepublik verpflichtet, die Millionen deutscher, österreichisch-ungarischer, türkischer Kriegsgefangener, die in Sibirien gefangengehalten wurden, den Mittelmächten zu übergeben. Das bedeutete viele neue Armeen gegen die Entente! Der Friede von Brest-Litowsk gab den Mittelmächten die Möglichkeit, über Rußland die Lebensmittel und Rohstoffe Asiens zu beziehen. Das bedeutete den Durchbruch der Blockade! Es war eine Lebensfrage für die Entente, die Sowjetrepublik von Sibirien zu trennen. Das haben die tschechischen Legionen besorgt. Ihre Erhebung riegelte Sibirien gegen Rußland ab, sie vereitelte den Transport der Kriegsgefangenen und die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus Sibirien nach Deutschland; sie sicherte der Entente die Verfügung über die sibirische Bahn. Mit Recht sagte Guinet, der französische Kommissär bei den tschechischen Legionen, der tschechische Aufstand bedeute nichts weniger als die „Wiederherstellung der Ostfront gegen Deutschland“. Waren es auch kaum 50.000 Mann, die diese neue Front hielten: in dem Rußland von damals, in dem die Zarenarmee nicht mehr und die Rote Armee noch nicht existierte, waren 50.000 Mann eine gewaltige Macht, ihre Wolgafront trennte den Ural, Sibirien, Turkestan völlig vom europäischen Rußland, ihre Bajonette hielten die ganze sibirische Bahn im Bann. Und diese 50.000 Mann folgten den Beschlüssen des Pariser Nationalrates, der nunmehr als Verbündeter der Ententemächte auftreten, von Macht zu Macht mit ihnen verhandeln konnte.

Das Selbstbewußtsein der tschechischen Nation wurde durch diese Ereignisse mächtig gestärkt. Zum ersten Male wieder seit dreihundert Jahren gab es ein selbständiges tschechisches Heer. Zum ersten Male seit der Niederlage am Weißen Berg hatte die Nation selbständig in das Weltgeschehen eingreifen können. Der Gedanke des selbständigen tschechischen Heeres gewann nun wachsende Kraft. Auch an der französischen und italienischen Front kämpften schon tschechische Freiwilligenformationen; die an der italienischen Front kämpfende Legion wuchs im Sommer 1918, unter dem mächtigen Eindruck der Ereignisse an der Wolga, durch starken Zuzug aus den Gefangenenlagern zur Stärke von 17.000 Mann an. Immer häufiger drangen zu den tschechischen Soldaten in die österreichischen Schützengräben tschechische Patrouillen in italienischer Uniform ein, um sie aufzufordern, zu ihnen überzugehen, mit ihnen für die Befreiung des tschechischen Volkes zu kämpfen. Und wenn die tschechischen Legionäre, gefangengenommen und als Überläufer zum Tode verurteilt, erhobenen Hauptes zum Galgen schritten, galten sie auch den tschechischen Soldaten in der kaiserlichen Uniform als Märtyrer der nationalen Idee.

In den tschechischen Ländern selbst nahm die nationale Bewegung nun unzweideutig revolutionären Charakter an. Am 13. Juli wurde in Prag der „Národní Výbor“ gebildet. Er trat mit einer Erklärung ins Leben, die kaum noch einen Zweifel offen ließ, daß er sich als Keimzelle der künftigen Revolutionsregierung betrachtete. In der Tat ging er unverzüglich daran, die Pläne für die Übernahme der Staatsgewalt in den tschechischen Ländern auszuarbeiten.

Aber der Maiaufstand des tschechischen Heeres an der Wolga und in Sibirien hat nicht nur die Revolutionierung des Bewußtseins der tschechischen Volksmassen vollendet, er hat zugleich auch das Verhältnis der Entente zu der tschechischen Revolution vollständig umgewälzt.

Noch im Jahre 1917 war die Zerstörung Österreich-Ungarns keineswegs ein Kriegsziel der Entente. In den durch den Prinzen Sixtus von Parma vermittelten Friedensverhandlungen zwischen dem Wiener Hofe und der französischen Regierung im Frühjahr 1917, in dem Friedensangebot, das im August 1917 der französische Generalstabsoberst Graf Armand dem von Czernin bevollmächtigten österreichischen Diplomaten Grafen Revertera übermittelte, in Wilsons 14 Punkten vom Jänner 1918 war von der Aufrichtung eines souveränen tschechischen Staates nicht die Rede. Erst nachdem alle Versuche, zum Frieden zu gelangen, gescheitert waren und Czernins Rede vom 2. April 1918 ihre Fortführung unmöglich gemacht hatte, gewann zunächst in Paris die Neigung Oberhand, Österreich-Ungarn zu zerschlagen, um auf diese Weise Deutschland den Bundesgenossen, der von ihm nicht mehr loszulösen schien, zu entziehen. Als nun wenige Wochen später der Maiaufstand des tschechischen Heeres in Rußland den tschechischen Nationalrat in Prag plötzlich zu einer kriegführenden Macht erhoben, seine Autorität gegenüber der Entente mächtig gestärkt hatte, konnten Masaryk und Beneš diese veränderte Stimmung ausnützen, um der tschechischen Revolution die förmliche Anerkennung durch die Entente zu erringen.

Schon am 4. Juni, unter dem unmittelbaren Eindruck des Maiaufstandes, teilten die Ententeregierungen der Sowjetregierung mit, daß sie die tschechoslowakischen Verbände als eine verbündete kriegführende Macht ansehen, ihre Entwaffnung als eine feindliche Handlung betrachten würden. Am 29. Juni erkannte die französische Regierung das Recht des tschechischen Volkes auf Selbständigkeit und den Pariser Nationalrat als das oberste Organ des tschechischen Volkes an. Am 1. Juli schloß sich die englische Regierung dieser Erklärung an; am 9. August erkannte England, an demselben Tage Japan das tschechische Heer als eine verbündete Kriegsmacht an. Am 2. August hatten die Vereinigten Staaten eine ähnliche Erklärung abgegeben; in ihr wurde der Pariser Nationalrat als de facto-Regierung anerkannt. Endlich teilte am 3. Oktober, nachdem sich die tschechische Legion an der italienischen Front im Kampfe am Doss’ Alto ausgezeichnet hatte, auch Orlando mit, daß auch Italien den Pariser Nationalrat als de facto-Regierung anerkannt habe. So hatte das selbständige Auftreten des tschechischen Heeres reiche Frucht getragen: nachdem die Tschechen an der Wolga ihre Waffen in den Dienst der Entente gestellt hatten, erkannte die Entente die Tschechen als verbündete kriegführende Macht an; damit wurde die Aufrichtung des tschechoslowakischen Staates, wurde also auch die Zerstörung des österreichisch-ungarischen Reiches zum Kriegsziel der Entente.

Und dieses Ziel rückte in greifbare Nähe, als im August das deutsche Heer in Frankreich geschlagen ward. Solange Deutschland stark war, galt für die Tschechen immer noch Palackýs Wort: daß man Österreich erfinden müßte, wenn es nicht bestünde; konnte also nur der tschechische Staat innerhalb des habsburgischen Reiches ihr Ziel sein. Sobald Deutschland geschlagen war, sobald nicht mehr die Gefahr bestand, daß nach der Auflösung des Habsburgerreiches auch die Sudetenländer an Deutschland fallen könnten, hatte das tschechische Volk an der Existenz des habsburgischen Reiches kein Interesse mehr. Nun dachte es an das andere Wort Palackýs: „Wir waren vor Österreich und wir werden nach Österreich sein.“ Das tschechische Volk kümmerte sich nicht mehr um das groteske, in tragikomischen Widerspruch zur historischen Wirklichkeit geratene Spiel der österreichischen Politik, die, um die seit der Enthüllung der Parmaintrigen von 1917 gegen den Kaiser erbitterten Deutschnationalen zu versöhnen, noch unmittelbar vor der Katastrophe einen „deutschen Kurs“ in Österreich proklamierte, noch im August, als die deutsche Macht an der Westfront schon zusammengebrochen war, durch die Teilung der böhmischen Landesverwaltungskommission in nationale Sektionen deutsche „Belange“ zu oktroyieren versuchte. Der Národní Výbor arbeitete die Pläne für die Übernahme der Staatsgewalt in den tschechischen Ländern aus. Das tschechische Volk harrte der unabwendbaren Kapitulation der Habsburgermonarchie.

Dreihundert Jahre vorher hatte der tschechische Adel die nationale Adelsrepublik vor dem Angriff des habsburgischen Absolutismus zu retten versucht. Er war den Heeren des deutschen Kaisers erlegen. Mit zwei Jahrhunderten der Knechtschaft, der Geschichtslosigkeit hatte die Nation diese Niederlage bezahlt. Aber die Entwicklung des Kapitalismus und der Demokratie im 19. Jahrhundert hatte die tschechischen Volksmassen geweckt. Ihr Aufstieg hatte sie in immer heftigeren Gegensatz, hatte sie schließlich zum offenen Zusammenstoß mit dem habsburgischen Imperialismus geführt. Als das deutsche Kaisertum zusammenbrach, konnte die tschechische Volksmasse die nationale Republik wiederherstellen, die dreihundert Jahre vorher der tschechische Adel verspielt hatte.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008