Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Erster Abschnitt
Krieg und Revolution

§ 1. Die Südslawen und der Krieg


Literatur:

Ranke, Die serbische Revolution, Berlin 1844. – Kállay, Geschichte der Serben, Budapest 1878. – Novaković, Die Wiedergeburt des serbischen Staates, Sarajevo 1912.

Seton-Watson, Die südslawische Frage im Habsburgerreich, Berlin 1913. – Südland, Die südslawische Frage und der Weltkrieg, Wien 1918. – Wendel, Aus dem südslawischen Risorgimento, Gotha 1921.

Šuman, Die Slowenen, Wien 1881. – Dimitz, Geschichte Krains, Laibach 1874.

Georgevitch, Das Ende der Obrenovitch, Leipzig 1905. – Molden, Graf Ährenthal, Stuttgart 1917. – Conrad, Aus meiner Dienstzeit, Wien 1921. – Bauer, Der Balkankrieg und die deutsche Weltpolitik, Berlin 1912. – Kautsky, Serbien und Belgien in der Geschichte, Stuttgart 1917.

Šišić, Dokumenti o postanku kraljevine SHS 1914-1919, Zagreb 1920. – Potočnjak, Iz emigracije, Zagreb 1919. – Tomić, Jugoslavija u emigraciji, Beograd 1921. – Djordjević, Srbija i Jugosloveni, Beograd 1922.



Das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien hat den Weltkrieg herbeigeführt. Seine unmittelbare Ursache war der Zusammenstoß des habsburgischen Imperiums mit dem Freiheits- und Einheitsdrang des südslawischen Volkes.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich aus den südslawischen Bauernstämmen das südslawische Bürgertum entwickelt. Unter der Führung ihres Bürgertums standen die südslawischen Stämme im Kampfe gegen den Zustand der nationalen Fremdherrschaft und der nationalen Zersplitterung, die der Feudalismus in Jugoslawien begründet hatte. Dieser Kampf war die bürgerliche Revolution der Jugoslawen. Sein Ziel war die Liquidierung der feudalen Herrschaftsverhältnisse auf südslawischem Boden. Diese nationale Revolution der Jugoslawen war der Ausgangspunkt des Krieges. Sie leitete die nationale Revolution ein, der die Habsburgermonarchie erlegen ist.

Schon im 9. Jahrhundert sind die Slowenen – der nordwestliche Stamm des südslawischen Volkes – unter deutsche Fremdherrschaft gefallen. In ganz Slowenien wurden die slawischen Bauern deutschen Grundherren zins- und fronpflichtig. Deutsch war der Herrenhof, slowenisch das Bauerndorf. Den deutschen Grundherren folgten deutsche Bürger. Sie begründeten die Städte im Wendenland; die Städte waren deutsch, die Dörfer blieben windisch. So fielen hier Klassenscheidung und nationale Scheidung zusammen. Noch im 19. Jahrhundert klagte der krainische Dichter Franc Pešeren:

Deutsch sprechen in der Regel hierzulande
Die Herrinnen und Herren, die befehlen;
Slowenisch die, so von dem Dienerstande.

So war ein Jahrtausend lang die slowenische Sprache bloße Bauernmundart, das slowenische Volk eine geschichtslose Nation. Ein slowenisches Schulwesen konnte nicht entstehen; denn Schulen gab es nur für die Söhne der deutschen Grundherren und Bürger, nicht für die der slawischen Bauern. Eine slowenische Literatur konnte sich nicht entwickeln; denn wer hätte in einer Sprache, die nur die unwissenden, analphabetischen Bauern sprachen, Bücher schreiben wollen? Als in den Sturmtagen der Reformation protestantische Prädikanten auch den Bauern das Evangelium predigen wollten, stellte einer von ihnen, Primož Trubar, fest, daß „kein Brief oder Register, noch weniger ein Buch in unserer windischen Sprache zu finden war; denn man hielt dafür, die windische Sprache wäre so grob und barbarisch, daß man sie weder schreiben noch lesen könne“. Trubar und Juri Dalmatin, die die Bibel in die slawische Bauernsprache übertrugen, mußten hunderte Wörter fremden Sprachen entlehnen; denn die slowenische Sprache hatte Bezeichnungen nur für Begriffe des bäuerlichen Lebens. Habsburgs blutige Gegenreformation bereitete auch diesen ersten Versuchen, eine slowenische Literatursprache zu schaffen, ein schnelles Ende: Trubars ketzerische Schriften wurden verbrannt; und wiederum verschwand für zwei Jahrhunderte die slowenische Sprache aus der Literatur.

Und wie an allem höheren Kulturleben, so hatte auch an allem staatlichen Leben das slowenische Bauernvolk ein Jahrtausend lang keinen Anteil. Denn nur die Grundherrenklasse, nicht die Bauernschaft war in diesem Jahrtausend Trägerin des staatlichen Lebens. Mit der Unterwerfung unter die deutschen Grundherren fielen die slowenischen Bauern unter die Herrschaft des deutschen Herzogtums Karantanien; mit den Ländern, in die das Herzogtum zerfiel, fielen sie an das deutsche Österreich. Über den Grundherrschaften, in denen die slowenischen Bauern den deutschen Feudalherren fronten, baute sich die politische Herrschaft des deutschen Österreich über den slowenischen Volksstamm auf.

Ein halbes Jahrtausend später als der nordwestliche verfiel der südöstliche Zweig des jugoslawischen Volkes ähnlichem Schicksal. Nach der Niederlage am Amselfeld (1389) wurden die serbischen Fürsten zu Vasallen der türkischen Großherren; nach der Katastrophe von Varna (1444) wurden die serbischen Länder zu türkischen Provinzen. Das serbische Volk wurde zur geknechteten ausgebeuteten Rajah. Die Städte wurden zu türkischen Festungen; nur die Dörfer blieben serbisch. Und über die serbischen Bauern herrschten die türkischen Spahis und die griechischen Priester. Nur in Bosnien behauptete sich ein Teil des nationalen Adels; aber er behauptete Besitz und Würde nur um den Preis, daß er den Islam annahm und damit in dem herrschenden Osmanentum aufging. So war auch das serbische Volk unter Fremdherrschaft gefallen.

Nur im Zentrum des Siedlungsgebietes der Südslawen, in Kroatien, hat sich ein nationales Staatswesen behauptet. Nur dort lebte das Volk unter der Herrschaft nicht eines fremden, sondern eines nationalen Adels. Aber auch dort ging in furchtbaren Stürmen ein Stück nationaler Selbständigkeit nach dem andern verloren. Von den Türken bedroht, war das dreieinige Königreich nicht imstande, Dalmatien gegen die Venezianer zu schützen. So verfiel dieses slawische Land italienischer Fremdherrschaft. Kroatien selbst aber warf die Türkennot zuerst den Habsburgern in die Arme. Dann, nach der Zurückdrängung der Türken, stürzte sich der kroatische Adel, vom habsburgischen Absolutismus im Besitz seiner ständischen Privilegien bedroht, Ungarn in die Arme, um, sei es auch um den Preis des Verzichts auf staatliche Selbständigkeit, mit dem mächtigeren magyarischen Adel vereint, die ständischen Rechte zu verteidigen. So verlor, zwischen Türken und Venetianern, zwischen Österreich und Ungarn, der kroatische Adel nationale und staatliche Selbständigkeit. Viele Adelsfamilien wurden in den Türkenkriegen ausgerottet. Andere endeten in den Kuruzzenkriegen auf österreichischem Schafott. Deutsche, magyarische, italienische Feudalherren erbten die Latifundien der kroatischen Magnaten. Der Rest des höheren kroatischen Adels erlag der mächtigen Anziehungskraft der Wiener höfischen Sitte; war die lateinische Sprache die Verhandlungssprache des Sabors und die Amtssprache der Behörden, so bediente sich der gebildete Adel im täglichen Umgang der deutschen oder der italienischen Sprache. Nur der unwissende Bauernadel, die „Zwetschkenjunker“, sprachen noch kroatisch. Die staatlichen Sonderrechte Kroatiens aber gab der kroatische Adel Ungarn preis, um sich, mit dem magyarischen Adel vereint, als una eademque nobilitas, des habsburgischen Absolutismus zu erwehren: als Josef II. die Leibeigenschaft in Ungarn und Kroatien aufhob, übertrug der kroatische Sabor sein Steuer- und Rekrutenbewilligungsrecht dem ungarischen Reichstag, um in ihm seinen Beschützer gegen die Bauernbefreiung zu finden. So ward Kroatien zum bloßen „angegliederten Teil“ Ungarns. So war auch der kroatische Adel kein Träger nationaler Kultur und nationaler Selbständigkeit mehr.

So hatte der Feudalismus den jugoslawischen Stämmen eine furchtbare Erbschaft hinterlassen. Österreich und Ungarn, Venedig und die Türkei hatten ihr Gebiet untereinander geteilt. In Slowenien saßen deutsche, in Dalmatien italienische, im Banat und in der Bacska magyarische Herren, in Serbien türkische Spahis, in Bosnien mohammedanische Begs über den hörigen slawischen Bauern. Überall waren die Jugoslawen zu einem geschichtslosen Bauernvolk, zu Hintersassen fremder Grundherren geworden; selbst in Kroatien war der nationale Adel seinem Volkstum entfremdet. Nur der Bauer war der Träger des nationalen Lebens. Aber der Gesichtskreis des armen, unwissenden Bauern reichte über die Grenzen der Grundherrschaft, der er fronte, kaum hinaus. Den windischen Bauern Kärntens galten schon die Krainer als Fremde. Die katholischen Bauern in Kroatien haßten die griechisch-orthodoxen Nachbarn als Ungläubige. Ein Bewußtsein nationaler Gemeinschaft der jugoslawischen Stämme gab es nicht. Es hat einer langen Kette gewaltiger Umwälzungen bedurft, um das jugoslawische Volk aus diesem Zustand der Knechtschaft, der Geschichtslosigkeit, der Zerstückelung emporzuführen.

Der Krieg, den Josef II. und Katharina II. im Jahre 1788 gegen die Türkei begannen, war der Wendepunkt der serbischen Geschichte. Österreich rief damals die serbische Rajah zum Kampfe gegen die Türkenherrschaft auf. Den lautesten Widerhall fand dieser Ruf in dem kleinen Splitter des serbischen Stammes, der sich ein Jahrhundert vorher unter der Führung des flüchtigen Patriarchen von Ipek in Ungarn angesiedelt hatte. Viele von den serbischen Kolonisten hatten in dem fremden Lande, wie es entwurzelte, in fremdes Land verpflanzte Gastvölker zu tun pflegen, im Handel Erwerb gefunden; so hatte sich hier ein handeltreibendes serbisches Bürgertum entwickelt, von dessen Söhnen so mancher den Weg an deutsche Universitäten fand, dort unter den Einfluß der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts geriet und gewahrte, wie eben damals in der Wissenschaft die lateinische Kirchensprache durch die deutsche Volkssprache ersetzt wurde. Da setzte nun unter den ungarischen Serben lebhafte Bewegung ein. Schulen und Kirchengemeinden wurden gegründet. Dositej Obradović imd Vuk Karadžić ersetzten die kirchenslawische Schulsprache durch die Volkssprache, „wie sie auf dem Markt geredet und beim Reigentanz gesungen wird“, und schufen damit die neue serbische Schriftsprache und die Anfänge des neuen serbischen Schrifttums. Zugleich aber weckte der Waffenlärm auch die Rajah jenseits der Save. Serbische Freischaren kämpften unter österreichischem Kommando gegen die Türken. Und wenngleich Österreich die serbische Rajah den Türken wieder preisgab, als die Schreckensnachrichten über die Anfänge der großen Französischen Revolution die Aufmerksamkeit des Wiener Hofes nach dem Westen lenkten, haben die Waffentaten der Kriegszeit das Selbstbewußtsein der Serben doch mächtig gestärkt. „Was habt ihr aus unserer Rajah gemacht?“ klagten nun die Türken.

Der Krieg hatte die Schwäche des türkischen Lehensstaates gegen den modernen Absolutismus geoffenbart. Unter dem Eindruck dieser Erfahrung versuchte der Sultan Selim III. eine Reform des Staats- und Heerwesens nach europäischem Vorbild. Gegen diese Reformversuche erhoben sich die Janitscharen. Der Gouverneur des Belgrader Paschaliks Hadschi Mustafa Pascha bot selber die serbischen Bauern gegen die rebellischen Dahia auf. So erhoben sich 1804 die Serben, von Kara Georg geführt. Aber sobald sie die Dahia besiegt hatte, richtete die rebellierende Rajah ihre Waffen gegen die Türkenherrschaft überhaupt. So begann der große Befreiungskampf des serbischen Bauernvolkes gegen den türkischen Feudalismus. Bald von Rußland, bald von Österreich benützt, bald von dem Zaren, bald von dem Kaiser verraten, erkämpfte sich der serbische Bauer schließlich seine Freiheit. Der erste Aufstand brachte den Serben die Autonomie, der Friede von Adrianopel (1829) die staatliche Selbständigkeit, der Friede von San Stefano (1878) die Unabhängigkeit von der Türkei. Und mit dem Wachstum des Staates wurde die Nation: der Staat schuf die serbische Schule; der Staat schuf die serbische Bürokratie, deren Söhne von ausländischen Universitäten europäische Ideen heimbrachten; langsam, allmählich begann sich aus dem Bauernvolk ein Bürgertum herauszulösen als Träger der werdenden nationalen Kultur. So wurde im Verlauf eines Jahrhunderts aus der Rajah eine Nation.

Was der Türkenkrieg von 1788 für die Serben, war der Franzosenkrieg von 1809 für die Kroaten. Das von Napoleon I. gegründete Königreich Illyrien vereinigte zum ersten Male Slowenien, Kroatien und Dalmatien zu einem Staate, es befreite die Bauern von der Fronpflicht und der Patrimonialgerichtsbarkeit, es führte die slawische Sprache in den Volksschulen ein. Wohl stellte Österreich schon 1813 das alte Regime wieder her; aber der Anstoß, einmal gegeben, wirkte weiter. Die kroatischen Studenten an den Hochschulen von Wien und Pest schwärmten nun von der „illyrischen“ Freiheit, von der nationalen Einheit aller südslawischen Stämme. Die nationalen Befreiungskämpfe der Deutschen und der Italiener, der Polen und der Magyaren wurden ihnen zum Vorbild. Die Lehren der entstehenden Slawistik nahmen sie gierig auf. Es war vorerst nur eine Bewegung weniger junger Schwärmer. Aber sie gewann bald geschichtliche Bedeutung. Ljudevit Gaj, der den Kroaten zuerst eine einheitliche Orthographie schuf, war das Haupt der illyrischen Bewegung; der nationalen Einheit der drei „illyrischen“ Stämme zustrebend, legte er seiner Orthographie denselben štokawischen Dialekt zugrunde, aus dem Vuk Karadžić die serbische Schriftsprache geformt hatte; so gelangten Kroaten und Serben zu einer gememsamen Schriftsprache. Und diese literarische Bewegung wurde zur geschichtlich wirksamen Kraft, als sich der kroatische Adel ihrer zu bemächtigen begann.

Nach der französischen Julirevolution von 1830 gewann der Kampf des ungarischen Reichstages gegen den Wiener Hof revolutionären Charakter. Der reaktionäre kroatische Adel geriet in Gegensatz zur magyarischen Reformbewegung. Er widersetzte sich, als der ungarische Reichstag auch Kroatien die Gleichberechtigung der Protestanten aufzwingen wollte. Er geriet in Wut, als man in Preßburg und Pest die Aufhebung der Hörigkeit der Bauern zu fordern begann. Als Ungarn die lateinische Staatsprache durch die magyarische ersetzte, widersetzte sich der Sabor ihrer Einführung in Kroatien; nun machte er sich die illyrische Kulturbewegung zunutze und führte in Kroatien, die kroatische Staatssprache ein. Der Wiener Hof, von dem revolutionären Ungarn bedroht, stellte sich an die .Seite der Kroaten. Als 1848 die revolutionäre Bewegung Ungarns zur Revolution ward, unterwarf das kroatische Aufgebot Jellačić’ den Habsburgern das revolutionäre Ungarn und das revolutionäre Wien, während zugleich auch die Serben des Banats der ungarischen Revolution in den Rücken fielen. Aber bald lernten die Jugoslawen den „Dank vom Hause Österreich“ kennen. Wohl löste der triumphierende Absolutismus Kroatien und die ungarisch-serbische Wojwodina von Ungarn los, aber nur um sie derselben brutalen Gewaltherrschaft zu unterwerfen, der Ungarn unterworfen ward. Und nach 1859 und 1866 schloß Habsburg seinen Frieden mit dem magyarischen Adel auf Kosten der Südslawen. Die Wojwodina wurde wieder an Ungarn ausgeliefert. Dalmatien blieb bei Österreich, der Anschluß an Kroatien wurde ihm verwehrt. Kroatien selbst aber wurde der Ausgleich von 1868 gewaltsam oktroyiert. Und der Rest der alten staatsrechtlichen Selbständigkeit, den er Kroatien ließ, wurde zum bloßen Schein. Der Banus wurde von der ungarischen Regierung ernannt. Der Landtag ging aus Wahlen hervor, bei denen dank dem engen Zensuswahlrecht die Beamten die Mehrheit der Wähler bildeten; da das Wahlrecht öffentlich ausgeübt werden mußte, konnte es kein Beamter wagen, gegen die Regierung zu stimmen. So konnte der von der ungarischen Regierung ernannte Banus den Landtag nach seinem Gutdünken zusammensetzen. Kroatien ward damit ein magyarisches Paschalik, mit brutalar Gewalt und zynischer Korruption regiert. Der doppelte Haß gegen den Wiener Hof, der es nach 1848 verraten, und gegen die magyarische Herrenklasse, die es seit 1868 geknechtet hat, erfüllte die Seele des kroatischen Volkes.

In diesem doppelten Haß erwuchsen die Kroaten zu einer modernen Nation. Mochte die magyarische Fremdherrschaft das Land noch so sehr benachteiligen, so verbreiterte doch auch hier die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts das städtische Bürgertum. Mochte der Ausgleich von 1868 von der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes noch so wenig übrig lassen, so sicherte er ihm doch ein nationales Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität und Akademie. So erstand auch hier ein nationales Bürgertum als Träger der nationalen Kultur. Auch im politischen Leben trat nach 1868 das Bürgertum allmählich an die Stelle des Adels.

Aber nicht als der Stamm eines einheitlichen südslawischen Volkes, sondern als eine besondere Nation fühlten sich noch die Kroaten. Von der illyrischen Einheit hatten die Studenten der dreißiger Jahre geträumt; als der Adel die Führung der nationalen Bewegung an sich gerissen hatte, war nicht mehr das natürliche Recht der „Illyrier“ auf Einheit und Freiheit, sondern das historische Staatsrecht Kroatiens, an dem weder Serben noch Slowenen Anteil hatten, die Fahne im Kampf. Die von europäischer Aufklärung beeinflußten Studenten mochten die Kluft zwischen katholischen Kroaten und orthodoxen Serben nicht für breiter ansehen als die Scheidung zwischen evangelischen und katholischen Deutschen; als aber die kroatischen Kleinbürger und Bauern, von ihrem Klerus geführt,. in die politische Arena eindrangen, brachten sie ihren Haß gegen die serbischen Schismatiker mit. Die magyarische Herrschaft beutete den Gegensatz aus und verschärfte ihn, indem sie sich auf die geschichtslosen. Serben gegen die ihr historisches Recht fordernden Kroaten stützte.

Noch fremder aber als der Masse der Kroaten war den Slowenen der Gedanke der jugoslawischen Einheit. Die Serben hatten sich in revolutionärem Sturm ihren Staat erkämpft. In Kroatien konnte sich die nationale Entwicklung an die Überbleibsel einstiger staatlicher Selbständigkeit klammern. Die Slowenen hatten keinen Staat, keine Städte, kein Bürgertum. Wohl machte auch hier die österreichische Volksschule im 19. Jahrhundert eine nationale Literatur möglich, indem sie auch Bauern und Kleinbürger lesen lehrte. Aber die Literatur – nicht für Gebildete, sondern für Bauern geschrieben – mußte sich der bäuerlichen Mundart bedienen, wenn sie Leser finden wollte. Daran scheiterte trotz der nahen Verwandtschaft zwischen Slowenen und Kroaten der Versuch des Illyrismus, auch die Slowenen der gemeinsamen kroatisch-serbischen Schriftsprache zu gewinnen; aus der krainischen Bauernmundart schufen sich die Slowenen ihre eigene Schriftsprache. Es konnte freilich nur eine dürftige Literatur sein, die das arme Völkchen hervorbringen konnte; und dürftig erschien zunächst auch seine politische Geschichte. Erst die allmähliche Demokratisierung des öffentlichen Lebens ermöglichte es den slowenischen Kleinbürgern und Bauern, sich Keimzellen einer nationalen Selbstverwaltung zu erstreiten; nach der Erteilung des Wahlrechtes an die Fünfguldenmänner eroberten die slowenischen Kleinbürger 1882 den bis dahin noch von der deutschen Bourgeoisie beherrschten Gemeinderat von Laibach, die slowenischen Bauern ein Jahr später den bis dahin noch von den deutschen Großgrundbesitzern beherrschten krainischen Landtag. Nur in furchtbar schwerem Kampfe konnte das kleine Volk die bescheidensten Kulturerfordernisse der deutschösterreichischen Bourgeoisie abringen. Sie stürzte noch 1893 eine Regierung, über die Zumutung erbost, den Slowenen ein paar slowenische Parallelklassen an einem deutschen Gymnasium zu bewilligen.

Aber so gewaltig auch die Hindernisse waren, gegen die sich alle Stämme des südslawischen Volkes emporarbeiten mußten, das Ergebnis der ganzen Entwicklung im 19. Jahrhundert war doch, daß sich nun überall, in Serbien wie in Kroatien, in Dalmatien wie in Slowenien ein nationales Bürgertum entwickelt hatte, das die geistige Führung der jugoslawischen Stämme an sich gezogen hatte und mittels der Schule, der Presse, der Organisationen auch die kleinbürgerlichen und bäuerlichen Volksmassen mit Nationalbewußtsein erfüllte. Diesem Nationalbewußtsein mußte der unwürdige Zustand unerträglich werden, dem noch am Anfang des 20. Jahrhunderts das jugoslawische Volk unterworfen war.

Auch am Anfang des 20. Jahrhunderts lebte noch der bei weitem größere Teil des jugoslawischen Volkes unter Fremdherrschaft. In Altserbien und Mazedonien herrschten noch die Türken; dort kämpften eben damals Bulgaren, Serben, Griechen gegeneinander und gegen die Türkenherrschaft in wildem Bandenkrieg. In Bosnien herrschte seit 1878 der militärische Absolutismus der Habsburgermonarchie. Kroatien hielt seit 1883 Graf Khuen-Hederváry „mit Peitsche und Hafer“ in Fesseln. Nur in Serbien und in Montenegro genoß das jugoslawische Volk staatliche Selbständigkeit. Aber was bedeutete diese Selbständigkeit! Der Fürst des montenegrinischen Zwergstaates war ein Stipendiat des Wiener und des Petersburger Hofes. In Serbien aber war es noch schlimmer. Die Familienskandale der entarteten Dynastie der Obrenović waren zum Schicksal des Landes geworden. Das verachtete Geschlecht hatte das Land einem orientalischen Despotismus unterworfen: Parlamentswahlen, Parlamentsabstimmungen, Richtersprüche wurden vom Hofe kommandiert, Häftlinge in den Gefängnissen auf königliches Geheiß ermordet; noch 1898, nach dem Attentat auf Milan Obrenović rettete nur ausländischer Einspruch den oppositionellen Parteiführern das Leben. Und dieses Regime, despotisch im Innern, war zudem noch knechtisch nach außen. Unter Milan Obrenović war Serbien zum Vasallenstaat Österreich-Ungarns geworden, als Preis für den Schutz ihres schamlosen Despotismus im Innern entsagten Milan und Alexander jeder Selbständigkeit gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Aber indessen lasen junge Menschen mit leuchtenden Augen und brennenden Wangen die große Geschichte des italienischen Risorgimento. Sie lasen, daß auch Italien einst zerstückelt, zerteilt, von Habsburg beherrscht war. Und sie träumten davon, daß Serbien für die Jugoslawen zu leisten berufen sei, was Piemont für Italien geleistet hat. Noch war es ohnmächtige Idee, lächerlich fast der furchtbaren Wirklichkeit gegenüber. Aber die Idee wurde zur Gewalt.

Mit dem Jahre 1903 begann die jugoslawische Revolution. Der Aufstand in Mazedonien, der Sturz der Dynastie Obrenović in Serbien und der Sturz Khuen-Hedervárys in Kroatien – das sind die drei Ereignisse, mit denen die revolutionäre Umwälzung einsetzte.

Der blutige Bandenkrieg, den die bulgarischen, serbischen und griechischen Komitatschi in Mazedonien gegeneinander führten, hatte die Türkei schließlich gezwungen, den Banden mit eiserner Faust entgegenzutreten. Mit blutigen Gewalttaten rächte Abdul Hamid die Opfer des Bandenkrieges. Die Banden, die eben noch im Kampfe gegeneinander gestanden waren, vereinigten sich nun gegen die Türken. Und sobald sie sich gegen die verhaßten Feudalherren wandten, fanden sie die Unterstützung der Bauern. So endete der Bandenkrieg im Jahre 1903 in einer revolutionären Erhebung Mazedoniens gegen die Türkenherrschaft. Nun griffen die Großmächte ein. Rußland, in der Mandschurei beschäftigt, verständigte sich im Oktober 1903 in Mürzsteg mit Österreich-Ungarn über ein Reformprogramm für Mazedonien. Europäische Gendarmerie stellte die Ruhe im Lande notdürftig wieder her. Aber die Balkanfrage war von neuem aufgerollt.

In demselben Jahre hatte in Serbien Alexander Obrenović die Verfassung aufgehoben und eine neue Verfassung oktroyiert. Dem Staatsstreich des Königs antwortete die Militärrevolution. Alexander und Draga wurden ermordet, Peter Karadjordjević zum König gewählt. Trotz der orientalischen Formen war es eine echte Revolution: der Absolutismus war gebrochen, der kleinbürgerlich-bäuerliche Radikalismus erlangte die Herrschaft, eine demokratische Verfassung wurde geschaffen. Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit waren gewonnen. Das neue Regime suchte das Land von dem Abhängigkeitsverhältnis zur Habsburgermonarchie zu befreien. Aber eben damit geriet es sehr bald in Konflikt mit Österreich-Ungarn. 1906 bot die Habsburgermonarchie Serbien die Erneuerung des Handelsvertrages nur unter der Bedingung an, daß es auf die Ausfuhr von Lebendvieh nach Österreich verzichte und sich verpflichte, Eisenbahnmaterial und Geschütze nur aus Österreich zu beziehen; als Serbien das Diktat ablehnte, sperrte die Habsburgermonarchie den serbischen Agrarprodukten ihre Grenzen. Der Zollkrieg traf die serbische Bauernschaft furchtbar schwer. Und als Serbien in einer Zollunion mit Bulgarien den Ausweg aus unerträglicher wirtschaftlicher Hörigkeit zu finden hoffte, erhob Österreich-Ungarn auch dagegen drohend Einspruch. Nun verschärften sich die Gegensätze zwischen Serbien und Österreich-Ungarn sehr schnell.

Aber auch den Jugoslawen in Österreich-Ungarn hatte das Jahr 1903 eine Wendung gebracht. Das korrupte Gewaltregime Khuen-Hedervárys in Kroatien war schließlich unhaltbar geworden. Zugleich aber hatte der Ausbruch des letzten großen Konflikts zwischen der habsburgischen Königsgewalt und der magyarischen Grundherrenklasse im jugoslawischen Volk neue Hoffnungen erweckt. Der Kampf um die Kommandosprache der ungarischen Truppenkörper war zum Entscheidungskampf darum geworden, ob die Krone oder das ungarische Adelsparlament über die bewaffnete Macht verfügen solle. Am 16. September 1903 erließ Franz Joseph den Armeebefehl von Chlopy; er werde sich nie „der Rechte und Befugnisse begeben, welche dem Obersten Kriegsherrn verbürgt sind. Gemeinsam und einheitlich, wie es ist, soll Mein Heer bleiben“. Vergebens versuchte im ungarischen Parlament Stephan Tisza den Widerstand der Unabhängigkeitspartei gegen die militärischen Forderungen des Königs zu brechen; die Neuwahlen vom Jahre 1905 brachten den koalierten Unabhängigkeitsparteien die Mehrheit, das Parlament verweigerte Steuern und Rekruten, die Komitate hoben die Steuern nicht ein. Da nahm die Krone den Kampf auf: im Juni 1905 wurde die „Trabantenregierung“ Fejérváry gebildet, im Februar 1906 ließ sie das Parlament von einer Kompagnie Honvéd auseinanderjagen. Die ganze Verfassung der Habsburgermonarchie war ins Wanken geraten. Kroaten und Serben hofften die schwere Reichskrise für ihre Sache ausnützen zu können. Am 2. Oktober 1905 traten Abgeordnete aus Kroatien, Dalmatien und Istrien in Fiume zusammen und beschlossen jene berühmte, von dem Dalmatiner Trumbić verfaßte Resolution, die die Grundlinien der neuen jugoslawischen Politik festsetzte. „Kroaten und Serben“, so hieß es nun, „sind durch Blut und Sprache eine Nation.“ Auch diese Nation habe wie jede andere „das Recht, frei und unabhängig über ihre Existenz und ihr Schicksal zu entscheiden“. Auf dieser Grundlage boten Kroaten und Serben den um die Unabhängigkeit kämpfenden Parteien Ungarns ein Bündnis gegen die „Wiener Kamarilla“ an.

Die Fiumaner Resolution zeigte an, welch tiefe Wandlung sich im Denken der Südslawen vollzogen hatte. Daß sich Kroaten und Serben, deren Gegensätze die magyarische Herrschaft jahrzehntelang ausgenützt hatte, um beide zu beherrschen, für eine Nation erklärten; daß beide sich in der schweren Reichskrise nicht wieder, wie 1848, an die Seite Habsburgs gegen ihre magyarischen Bedrücker, sondern an die Seite ihrer magyarischen Gegner stellten, zeigte zum ersten Male, daß die Südslawen nur noch von der schwersten Erschütterung des Habsburgerreiches ihre nationale Befreiung erhofften. In der Tat war ihre Allianz mit dem magyarischen Adel, die sie in diesen Tagen schlossen, keineswegs fruchtlos. Zwar schloß der magyarische Adel, durch die Drohung der Krone mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht erschreckt, schon im Mai 1906 mit der Krone wieder Frieden. Aber die ungarische Koalition, die nun unter der Regierung Wekerle zur Macht kam, mußte ihren kroatischen und serbischen Verbündeten doch ein Zugeständnis machen. Zum ersten Male wurde ein kroatischer Sabor ohne Regierungsdruck gewählt. Ungarn konnte Kroatien nun nicht mehr durch einen gefügigen Sabor regieren lassen; lebte der Gegensatz zwischen Ungarn und Kroatien wieder auf, so mußte er die Gestalt eines Konflikts zwischen dem Banus und dem Sabor annehmen und damit zum Verfassungskonflikt werden. Das geschah in der Tat sehr bald. Als die ungarische Regierung im Jahre 1907 die Magyarisierungspolitik auf den kroatischen Eisenbahnen wieder aufnehmen wollte, setzte sich der Sabor kräftig zur Wehr. Dem Banus Baron Rauch blieb nichts übrig, als den Sabor zur Seite zu stoßen und unverhüllt absolutistisch zu regieren.

Indessen aber hatte die Bewegung schon einen neuen Anstoß gewonnen. Nach dem Russisch-Japanischen Kriege hatten sich England und Rußland einander genähert. Der gemeinsame Gegensatz gegen die deutsche Schutzherrschaft über die Türkei und die gemeinsame Bedrohung durch die Gärung in der mohammedanischen Welt, die in Persien schon 1906 zu revolutionärem Ausbruch geführt hatte, hatte die beiden Mächte einander nähergebracht. Tölpelhaft förderte Ährenthal ihre Annäherung durch einen Vorstoß auf dem Balkan: die österreichisch-ungarische Konzession für den Bau der Sandschakbahn (Jänner 1908) rief nicht nur den Protest Italiens und Serbiens hervor; sie gab auch Rußland den Anlaß, die Vereinbarung: von Mürzsteg für aufgelöst zu erklären. Der alte Gegensalz zwischen Rußland und Österreich-Ungarn lebte nun von neuem auf und gab damit Serbien neue Hoffnung. Rußland aber verständigte sich im Juni 1908 in Reval mit England: die Entente war geschlossen. Ihre erste Tat war ein neues Reformprogramm für Mazedonien. Gegen dieses Programm bäumte sich das Nationalgefühl der türkischen Offiziere auf. Am 24. Juli 1908 mußte Abdul Hamid vor der revolutionären Armee kapitulieren. Die jungtürkische Revolution fand in Bosnien und der Herzegowina lauten Widerhall.

Österreich-Ungarn selbst hatte einmal in Serbien Hoffnungen auf die Erwerbung Bosniens und der Herzegowina erweckt. 1869 hatten Andrássy und Kállay Serbien die beiden damals noch türkischen Provinzen versprochen, um dadurch Serbien vom russischen Einfluß loszulösen und um den Gegensatz zwischen Kroatien, das auf diese Provinzen Anspruch erhob, und Serbien zu verschärfen. Aber diese Hoffnungen Serbiens waren bitter getäuscht worden: der Berliner Kongreß, der 1878 die Unabhängigkeit Serbiens anerkannte, ermächtigte zugleich Österreich-Ungarn zur Okkupation Bosniens. Damals schon lehnte sich die Volksleidenschaft in Serbien wild dagegen auf, daß abermals ein südslawisches Land der Fremdherrschaft preisgegeben wurde. Die Habsburgermonarchie regierte seither das Land mit den Methoden eines militärischen Absolutismus. Der kommandierende General schaltete als Vizekönig im Lande. Fremde Beamte – Deutsche, Magyaren, polnische Juden – führten die Verwaltung. Im Lande selbst stützte sich die Monarchie auf den mohammedanischen Adel und hielt sie die feudale türkische Agrarverfassung aufrecht. Diese Fremdherrschaft wurde um so unerträglicher, als sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung und mit der Entwicklung des Schulwesens doch auch in Bosnien ein nationales Bürgertum zu entwickeln begann, das das Leben Belgrads und Agrams mitlebte. Als selbst in der Türkei schon der Absolutismus fiel, wurde er in Bosnien unhaltbar. Nun, erinnerte sich Bosnien, daß es völkerrechtlich immer noch türkische Provinz war, und drohte mit der Beschickung des türkischen Parlaments durch bosnische Abgeordnete.

So stand die Monarchie 1908 schon im Zollkrieg mit Serbien, in schwerem Verfassungskonflikt mit Kroatien, vor gefährlicher Gärung in Bosnien; da entschloß sie sich, durch eine Tat, die ihre Kraft beweisen sollte, die Südslawen einzuschüchtern. Am 5. Oktober 1908 wurde die Annexion Bosniens proklamiert. Nun lohte der Volkszorn in Serbien wild auf. Und Serbien stand diesmal nicht mehr allein. Rußland, England,. Frankreich führten seine Sache. Die Jugoslawen begannen in der Entente ihren Beschützer gegen Habsburg zu sehen.

Im Kampfe gegen den magyarischen Adel hatte die Krone 1905 das allgemeine Wahlrecht für den ungarischen Reichstag gefordert; so hatte sie den Nationen Ungarns Hoffnung auf ihre Befreiung von der magyarischen Adelsherrschaft erweckt. Jetzt erkaufte die Krone die Zustimmung des magyarischen Adels zur Annexion Bosniens mit der Preisgabe der ungarischen Nationalitäten. Die Wahlreform Andrássys erhielt im November 1908 die Vorsanktion der Krone. Im Mai 1912 warf Stephan Tisza die Revolte der ungarischen Arbeiter nieder und zwang eine Wahlreform durch, die die Rechtlosigkeit der ungarischen Nationen verewigen sollte. Damit war wie allen Nationen Ungarns auch den Serben der Wojwodina alle Hoffnung auf die Unterstützung der Krone im Kampfe gegen die ungarische Adelsherrschaft genommen.

Noch unmittelbarer und stärker waren die Wirkungen der Annexionskrise in Kroatien. Als Österreich-Ungarn seine Truppen drohend an der serbischen Grenze zusammenzog; als es durch Kriegsdrohung Serbien. demütigte, erkannte es, wie stark das serbisch-kroatische Einheitsgefühl nun schon geworden war. Die Sympathien nicht nur der Serben, auch eines Teiles der Kroaten in der Monarchie waren nun schon auf Serbiens Seite. Da glaubten Wien und Budapest diesem „Hochverrat“ mit Richtersprüchen beizukommen. Aber der Agramer Hochverratsprozeß führte nur zur furchtbaren Niederlage der Regierung; der Nachweis, daß ihre Beweisurkunden von der k.u.k. Diplomatie fabrizierte Fälschungen waren, fügte zum Haß des jugoslawischen Volkes die Verachtung. Die Widerstandskraft der Nation erstarkte; vergebens bemühte sich der Banus Tomasić, sich durch offenen Terror eine Mehrheit im Sabor zu schaffen. Da alle Bemühungen mißlangen, wurde am 3. April 1912 die kroatische Verfassung suspendiert und unter Cuvaj als „königlichem Kommissär“ die nackte Gewaltherrschaft aufgerichtet.

In demselben Jahre 1912, in dem der Staatsstreich Tiszas in Ungarn und das Kommissariat Guvajs in Kroatien den Südslawen alle Hoffnung auf demokratische Entwicklung innerhalb der Habsburgermonarchie raubten, im Herbst desselben Jahres griff Serbien, mit Bulgarien und Griechenland verbündet, die durch den Tripoliskrieg geschwächte Türkei an. In ruhmvollen Schlachten schlug das serbische Heer die Türkei und befreite die Volksgenossen in Altserbien und Mazedonien vom Joch der türkischen Feudalherren. Das war nicht mehr das barbarische Serbien der Obrenović, auf das die Kroaten stolz hinabgesehen. Den Siegern von Kumanowo schlug das Herz aller südslawischen Stämme zu. Auch die Slowenen wurden nun von der mächtigen Welle des Enthusiasmus für das sieggekrönte Serbien mitgerissen. „Dort, bei Tschataldscha,“ sagte Krek, ein katholischer Priester, im österreichischen Abgeordnetenhause, „kämpft man auch für den letzten slowenischen Bauern des bedrohten Kärntner Dorfes.“ Der Gedanke der nationalen Einheit der Jugoslawen drang nun sieghaft vor. „Als Kroaten und Slowenen bilden wir eine nationale Einheit“, beschlossen am 20. November 1912 90 slowenische und kroatische Abgeordnete aller südslawischen Kronländer. Die Habsburgermonarchie aber trat während des ganzen Balkankrieges Serbien abermals als Feind entgegen, sie ließ abermals ihre Truppen drohend an der serbischen Grenze aufmarschieren, sie gab sich abermals der Verachtung preis, als sie ihre Agenten jene Lügen über die Verstümmelung des Konsuls Prochaska erfinden ließ, die den Kriegsvorwand liefern sollten. So setzte sich Habsburg in den furchtbarsten Gegensatz zu dem durch den Krieg gewaltig entflammten Nationalgefühl der Jugoslawen.

Nun sah Habsburg den ganzen slawischen Süden seines Reiches in Auflehnung. Es zitterte vor der südslawischen Revolution. Die Furcht peitschte es in den Krieg. Längst schon hatte die Militärpartei am Wiener Hofe, vor allem ihr Haupt, der Generalstahschef Conrad v. Hötzendorff, zu dem Kriege gedrängt. Schon 1907 hatte er in einer Denkschrift die „Einverleibung Serbiens inklusive des Zentralraums von Nisch“ als Ziel gestellt; denn „ein selbständiges Serbien ist der konstante Herd jener Aspirationen und Machinationen, welche auf die Abtrennung aller südslawischen Gebiete abzielen“. Während der Annexionskrise hatte er mit allen Kräften danach gedrängt, loszuschlagen und Serbien zu annektieren. Ährenthal meinte freilich, man müsse zu diesem Zwecke „eine günstige europäische Konstellation abwarten“, und Franz Joseph tröstete den Drängenden: „Dieser Krieg wird ohnehin von selber kommen.“ Aber allmählich gewöhnte man sich an den Gedanken. Hatte Ährenthal noch widerstanden, so gab Berchthold nach. Das Attentat von Sarajevo gab den ersehnten Vorwand. Diesmal war man entschlossen, sich von niemandem hindern zu lassen. Das Ultimatum ward so gefaßt, daß der Krieg unvermeidlich wurde.

Der Mechanismus der Bündnisse erweiterte den Zusammenstoß zwischen der Habsburgermonarchie und dem jugoslawischen Volke zum Weltkrieg unerhörter Ausdehnung. Aber was immer der Krieg sonst in der Welt bedeuten mochte, auf jugoslawischem Boden war sein Sinn jedem Bauern verständlich: hüben die Deutschen, die Magyaren, die Türken, die drei Nationen, die seit Jahrhunderten die südslawischen Bauern unterworfen, in ihre Hörigen verwandelt, das südslawische Volk zerstückelt hatten; drüben der serbische Bauer, der eben erst in glänzenden Waffentaten die Volksgenossen in Altserbien von der Fremdherrschaft der türkischen Feudalherren befreit hatte und jetzt abermals auszog, die Volksgenossen im Habsburgerreich von der Fremdherrschaft der deutschen und der magyarischen Grundherren zu befreien. So war der Krieg dem jugoslawischen Volke seine nationale und seine soziale Revolution.

In den Tagen, in denen die große Offensive der Armeen des Feldzeugmeisters Potiorek auf serbischem Boden furchtbar zusammenbrach; an demselben 7. Dezember 1914, an dem die kaiserliche Armee hinter die Kolubara zurückgeworfen wurde, erklärte die serbische Regierung in der in Niš versammelten Skupština zum erstenmal „die Befreiung und Vereinigung aller unserer geknechteten Brüder Serben, Kroaten und Slowenen“ für das Kriegsziel Serbiens.

Diese Erklärung mußte unter den Südslawen innerhalb der Habsburgermonarchie ihr Echo finden. Auf südslawischem Boden waren Habsburgs Heere gegen Serbien aufmarschiert; aber in jedem serbischen Dorfe fürchteten sie den Verrat. Südslawische Reservisten hatte Habsburg zum Kriege gegen Serbien aufgeboten; aber jeder Serbe im kaiserlichen Heere war den deutschen und magyarischen Offizieren des Verrates verdächtig. So arbeitete die Kriegsmaschine mit furchtbarer Gewalt: ohne vieles Federlesen ließen die Offiziere die griechisch-orthodoxen Popen in Bosnien, in Slawonien, in der Woiwodina an den nächsten Baum aufhängen, die Kriegsgerichte fällten täglich ihre Todesurteile, alle jugoslawischen Patriotismus verdächtigen Politiker, Intellektuellen, Geistlichen, Lehrer wurden aus der Heimat in die Internierungslager verschleppt; die Monarchie führte den Krieg gegen die eigenen Staatsbürger. Der Haß wuchs in dem mißhandelten Volke. In der Monarchie selbst hielt die brutale Gewalt des Kriegsabsolutismus seine stimme nieder. Aber die Emigration konnte sprechen und sie sprach. Schon am Anfang des Krieges nahmen in Amerika Versammlungen und Kongresse der Auswanderer aus dem slawischen Süden der Monarchie leidenschaftlich gegen die Habsburgermonarchie, für Serbien Partei. Und diese Emigration fand ihre Führung in einer Gruppe von Politikern aus dem Süden der Monarchie, denen es zu Kriegsbeginn gelungen war, in das Ausland zu fliehen. Am 1. Mai 1915 konstituierte sich, von Trumbić geleitet, der„Jugoslovenski odbor“ in London, der die Propaganda für die Losreißung der südslawischen Länder von der Monarchie und ihre Vereinigung mit Serbien und Montenegro zu einem unabhängigen Staate organisierte.

Das serbische Königreich und die jugoslawische revolutionäre Emigration hatten sich die Befreiung und Einigung der Südslawen als Ziel gesetzt. Aber zwischen den Zielen beider bestand doch wesentliche Verschiedenheit. Das Ziel der serbischen Regierung war ein Großserbien, das sich die südslawischen Gebiete der Habsburgermonarchie einverleiben solle. Das Ziel der revolutionären Emigration war ein Jugoslawien, in dem die Königreiche Serbien und Montenegro ebenso aufgehen sollten wie die südslawischen Stämme Österreich-Ungarns. Die serbische Regierung dachte sich den künftigen Südslawenstaat unter serbischer Hegemonie. Die jugoslawische Emigration lehnte die serbische Hegemonie entschieden ab. „Wir sind sieben Millionen, ihr nur vier“, hielten die Südslawen aus der Monarchie den Serben aus dem Königreich entgegen. Das Selbstbewußtsein der alten historischen Nation der Kroaten, die sich dem erst im letzten Jahrhundert aus geschichtslosem Dasein aufgestiegenen Serbentum kulturell überlegen fühlt; die alte Stammeseifersucht der Kroaten und Slowenen gegen die Serben; der Gegensatz des kroatischen und slowenischen Katholizismus gegen die serbische Orthodoxie; die demokratische, revolutionäre, rationalistische Ideologie der Intelligenz gegenüber der historischen Gestaltung des serbischen Staatswesens – all das setzte die jugoslawische Emigration in sehr entschiedenen Gegensatz gegen das Großserbentum der Karadjordjević. Das Großserbentum stellte sich den künftigen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen als einen Einheitsstaat unter serbischer Führung, das Jugoslawentum als eine Föderation, als einen Bundesstaat der gleichberechtigten südslawischen Stämme vor. Das Großserbentum stellte sich Belgrad, das Jugoslawentum Agram oder Sarajevo als Hauptstadt des Südslawenstaates vor. Das Großserbentum stellte sich ihn als Monarchie unter dem Zepter der Karadjordjević vor; das Jugoslawentum wollte die Entscheidung über seine Staatsform einer Konstituante vorbehalten, der sich die Dynastien Serbiens und Montenegros ebenso unterwerfen müßten wie die südslawischen Stämme Österreich-Ungarns. Das Großserbentum träumte von der Eroberung und Annexion der südslawischen Gebiete der Monarchie durch Serbien; das Jugoslawentum stellte sich vor, daß die südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns, von der Herrschaft Habsburgs befreit, als selbständiger Staat konstituiert, in freiem Vertrag mit Serbien und Montenegro die Bedingungen der Vereinigung vereinbaren werden. Das Jugoslawentum betrachtete auch die Bulgaren als einen Stamm des jugoslawischen Volkes; es hoffte, die künftige südslawische Föderation werde auch die Bulgaren in sich aufnehmen können. Die Serben dagegen betrachteten die Bulgaren als einen Erb- und Todfeind ihrer Nation. Die revolutionäre Emigration war zur Adria hin orientiert; um die durch die Ansprüche Italiens bedrohten slawischen Länder an der Adria besorgt, maß sie dem Streit der Serben mit den Bulgaren um Mazedonien geringe Bedeutung bei. Serbien dagegen, zum Agäischcn Meere hin orientiert, hielt hartnäckig an dem Besitz Mazedoniens und Altserbiens, der mit Strömen von Blut erkauften Errungenschaft der beiden Balkankriege, fest, während ihm die Grenzstreitigkeiten der Kroaten und Slowenen mit Italien die entferntere Sorge waren. Der Jugoslovenski odbor betrachtete sich als berufenen Repräsentanten der von Österreich-Ungarn beherrschten Südslawen, er verlangte für sich, die Verfügung über die aus Auswanderern und Kriegsgefangenen gebildeten südslawischen Freiwilligenbataillone, die im Verband der Ententearmeen kämpften; er forderte schließlich, daß aus Vertretern der serbischen Regierung und der revolutionären Emigration noch während des Krieges eine gemeinsame Regierung gebildet werde, die allein die Gesamtnation zu führen und zu vertreten berechtigt sei; die serbische Regierung lehnte eine solche revolutionäre Neuerung ab, sie beanspruchte die Befreiung und Einigung der südslawischen Stämme als die historische Aufgabe der verfassungsmäßigen Regierung und Skupština des Königreiches Serbien. So zog sich durch die ganze Geschichte der südslawischen Emigration während des Krieges der Gegensatz zwischen Großserbentum und Jugoslawentum, zwischen der serbischen Regierung und dem Jugoslovenski odbor, zwischen Pasić und Trumbić – ein Gegensatz, wohl dem Gegensatze zwischen Bismarck und dem Nationalverein, zwischen Cavour und Mazzini vergleichbar.

Im Jahre 1915, dem Jahre der großen Siege der Mittelmächte, mußte freilich den Massen des südslawischen Volkes in Österreich-Ungarn das Kampfziel der revolutionären jugoslawischen Emigration ebenso als eine Utopie erscheinen wie das Kampfziel des Großserbentums; ein Ausgang des Krieges, durch den die südslawischen Länder von der Habsburgermonarchie losgerissen würden, war ihnen unwahrscheinlich. Der Gedanke, daß der Krieg, aus dem Kampfe der südslawischen Stämme nach ihrer Befreiung von der Fremdherrschaft, nach ihrer Vereinigung zu einem Staate entstanden, die Befreiung und Einigung bringen müsse, hatte die Massen mächtig gepackt; erschien es aber unwahrscheinlich, Befreiung und Einigung gegen Habsburg zu erringen, so lag der Gedanke nahe, sie mit Habsburg, durch Habsburg zu erreichen. So mußte der großserbischen und der jugoslawischen Idee eine dritte politische Konzeption entgegentreten: der Gedanke einer Vereinigung der südslawischen Länder der Monarchie mit Serbien und Montenegro zu einem Staate unter Habsburgs Zepter, der zu Österreich und Ungarn als dritter Staat der Monarchie hinzutreten sollte. Der Gedanke des Trialismus war nicht neu; am Hofe Franz Ferdinands, in den Erörterungen der Militärpartei war er seit 1905 oft erwogen worden. Er lag ihr nahe als eine Rechtfertigung einer kriegerischen und annexionistischen Balkanpolitik, als ein Mittel, die jugoslawische Einheitsbewegung, die das Gefüge der Monarchie zu sprengen drohte, in einen Anlaß zu ihrer Vergrößerung zu verwandeln, auch als ein Mittel ihrer inneren Politik: den Übergang vom Dualismus zum Trialismus hoffte sie benützen zu können, um die Reichseinheit zu festigen, der ungarischen Staatlichkeit engere Grenzen zu setzen. An diese Pläne der Militärpartei klammerte sich nun die Hoffnung vieler Poltiker in Agram und Laibach. Was wir vor allem brauchen, so argumentierten sie, ist die Einigung; ob sich die Einigung unter Franz Josef oder unter Peter Karadjordjević vollzieht, ist weit weniger wichtig. Und die Einigung unter Franz Josef erschien damals nicht nur leichter erreichbar als die Einigung unter Peter, sie konnte dem kroatischen und slowenischen Stammespartikularismus sogar verlockender erscheinen. Mochte sie auch nicht die volle Freiheit, die volle Selbständigkeit bringen, so mußte sie dafür Agram über Belgrad, den Kroaten über die Serben, den Katholiken über die Orthodoxen die Hegemonie sichern. So trat dem revolutionären Jugoslawentum wie von der einen Seite her das Großserbentum, so von der anderen das Großkroatentum entgegen, das die Lösung des nationalen Problems in einem Jugoslawien innerhalb der Habsburgermonarchie erhoffte.

Die Kriegsereignisse des Jahres 1915 stärkten die großkroatische, die trialistische Richtunng. Am 23. Mai 1915 erklärte Italien der Habsburgermonarchie den Krieg. Kannte man die Einzelheiten des Londoner Vertrages nicht, mit dem die Westmächte die Waffenhilfe Italiens erkauft hatten, so wußte man doch, daß er Italien slawisches Land an der Adria zusprach. Der Angriff Italiens auf die Monarchie erschien den Südslawen als ein Angriff auf südslawisches Land. Am Isonzo verteidigte die kaiserliche Armee slawischen Boden gegen Italiens Eroberungsgier. Die Stimmung in den südslawischen Ländern wendete sich der Monarchie zu. Am 14. Juni 1915 trat der kroatische Sabor zusammen. Er demonstrierte nicht gegen Serbien, nicht gegen Rußland; aber unter stürmischen Rufen „Es lebe das kroatische Meer!“ demonstrierte er für den Sieg der kaiserlichen Waffen über Italien. „Die Erbitterung gegen Italien ist in unseren Ländern ungeheuer und allgemein. Unsere Regimenter schlagen sich am Isonzo wie die Löwen“, schrieb am 11. Juli 1915 Dr. Trumbić.

Brachte schon der Angriff Italiens die Südslawen der Monarchie näher, so mußte die Eroberung Serbiens durch die Armeen Mackensens im Herbst 1915 die Richtung, die die Einigung der Südslawen durch die Monarchie in der Monarchie hoffte, abermals stärken. Nun war der ganze slawische Süden Habsburg unterworfen. Nun schienen alle großserbischen Pläne, alle Wünsche der revolutionären Emigration ganz aussichtslos, schien dagegen die Einigung aller jugoslawischen Stämme unter Habsburgs Zepter in den Bereich des Möglichen gerückt.

Aber gerade nun zeigte es sich, welche Hindernisse der großkroatischen Lösung des jugoslawischen Problems entgegenständen. Mochte Conrad von Hötzendorff auch jetzt für die Annexion Serbiens eintreten, Stephan Tisza lehnte sie unbedingt ab. Er wollte Belgrad und die Mačva annektieren, Niš und Mazedonien den Bulgaren übergeben, das übrige Serbien aber als ohnmächtigen, armen Bauernstaat bestehen lassen. Die magyarische Herrenklasse wollte die Annexion Serbiens nicht; sie verstand, daß solche Vermehrung der südslawischen Untertanen Habsburgs unvermeidlich den Trialismus herbeigeführt und damit Ungarn vom Meere getrennt, Ungarns Machtstellung innerhalb des Reiches geschwächt hätte. Selbst ein vollständiger Sieg der Mittelmächte hätte schwerlich das ganze jugoslawische Volk im Rahmen der Monarchie vereinigt.

Aber so vollständigen Sieg der Mittelmächte ließen die Kriegsereignisse des Jahres 1916 höchst unwahrscheinlich erscheinen. Und damit schwand jede Hoffnung auf die Vereinigung der drei jugoslawischen Stämme in einem habshurgischen Jugoslawien. Denn mochten Kroaten und Slowenen die Einheit vor die Freiheit stellend, der Annexion Serbiens durch die Monarchie zuzustimmen bereit sein, um nur die ganze Nation in einem Staatswesen zu vereinigen, die Serben aus dem Königreich dachten ganz anders. Sie wollten um der Einheit willen nicht ihre Freiheit der verhaßten Monarchie opfern; ihnen galt jeder Südslawe, der der Annexion Serbiens durch die Monarchie das Wort sprach, als Verräter. Und hinter Serbien stand die Entente; sie sicherte Serbien zu, daß sie ohne die Wiederherstellung Serbiens so wenig wie ohne die Wiederherstellung Belgiens Frieden schließen werde.

So erschien die Vereinigung der ganzen Nation zu einem Staat unerreichbar. Die Südslawen innerhalb der Monarchie mußten sich vorerst ein bescheideneres Ziel setzen: die Voreinigung der in Österreich-Ungarn lebenden Südslawen zu einem Staat innerhalb der Habsburgermonarchie. Aber es war offenbar, daß sich die Monarchie selbst zu dieser Lösung nicht freiwillig entschließen werde. Südslawisches Land trennt ja sowohl Deutschösterreich als auch Ungarn vom Meer; es war offenbar, daß die beiden herrschenden Klassen des Reiches, die deutschösterreichische Bourgeoisie und die magyarische Gentry, der Übergabe Sloweniens und Kroatiens an einen südslawischen Staat, sei es auch ein Staat im Rahmen der Monarchie, stärksten Widerstand entgegensetzen würden, den nur mächtiger Druck von außen brechen könnte. Daß die Entente solchen Druck üben werde, war die einzige Hoffnung, die den Südslawen blieb. In ihrer Note vom 10. Jänner 1917 an den Präsidenten Wilson bezeichnete die Entente die Befreiung der Slawen Österreich-Ungarns als eines ihrer Kriegsziele; es war offenbar, daß die Entente bei dem Friedensschluß eine innere Umgestaltung Österreich-Ungarns zu erzwingen plante, um die Vorherrschaft der deutschen Bourgeoisie und der magyarischen Gentry in der Monarchie zu brechen und dadurch die Monarchie vom Deutschen Reiche zu trennen. Nur solcher Zwang, von der Entente geübt, konnte die Slowenen von der deutschen, die Kroaten von der magyarischen Herrschaft befreien, die Vereinigung der südslawischen Gebiete Österreichs-Ungarns und Bosniens zu einem Staat im Rahmen der Habsburgermonarchie erzwingen. So mußten die Südslawen ihre ganze Hoffnung auf die Entente setzen. Das Großserbentum und das revolutionäre Jugoslawentum der Emigration standen von Anfang an im Lager der Entente; jetzt konnten auch diejenigen kroatischen und slowenischen Parteien, die die Lösung noch innerhalb der Monarchie suchten, nur auf den Schutz der Entente ihre Hoffnung gründen.

Der Ausbrach der russischen Revolution im März 1917 und der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg im April 1917 stärkten die südslawische Einheitsbewegung. Die russische Revolution festigte die Überzeugung, daß dem Krieg große innere Umwälzungen folgen werden. Wilsons Propaganda des Selbstbestimmungsrechtes der Völker fand im slawischen Süden lauten Widerhall. Habsburg zitterte seit der russischen Revolution um seinen Thron. Habsburg begann geheime Friedensverhandlungen mit der Entente. Die Südslawen glaubten den Augenblick nahe, in dem Österreich-Ungarn den Frieden mit innerer Umgestaltung erkaufen werde.

Im Mai 1917 trat zum erstenmal seit dem Beginn des Krieges der österreichische Reichsrat wieder zusammen. Das Auftreten der südslawischen Abgeordneten ließ keinen Zweifel mehr offen, daß ihre Sympathie auf der Seite der Entente, ihre Hoffnung der Sieg der Entente war. Es ließ keinen Zweifel mehr offen, daß sie sich mit keiner Lösung im Rahmen der dualistischen Verfassung der Monarchie mehr begnügen wollten, daß nichts mehr die Nation befriedigen konnte als der selbständige jugoslawische Staat. Aber es ließ doch die Bildung dieses Staates immer noch im Verband der Habsburgermonarchie zu. Die Deklaration des „Jugoslawischen Klubs“, die Korošec am 30. Mai 1917 im Abgeordnetenhause verlas, forderte „auf Grund des Nationalitätenprinzips und des kroatischen Staatsrechtes die Vereinigung aller Gebiete der Monarchie, in denen Slowenen, Kroaten und Serben leben, in ein selbständiges, von jeder Herrschaft fremder Nationen freies, auf demokratische Prinzipien gegründetes Staatswesen unter dem Zepter der Dynastie Habsburg-Lothringen“. Diese „Maideklaration“ fand im kroatischen Sabor, in zahllosen Kundgebungen slowenischer und kroatischer Organisationen stürmisches Echo. Sie erschien nun als das eigentliche Programm der Südslawen in der Monarchie.

Das Großserbentum und das revolutionäre Jugoslawentum der Emigration waren durch die geheimen Friedensverhandlungen zwischen der Monarchie und der Entente beunruhigt. Sie fürchteten, daß vorzeitiger Friedensschluß Slowenien, Kroatien und Bosnien im Besitz der Monarchie belassen werde. Um die Propaganda für die Losreißung der südslawischen Länder von der Monarchie zu verstärken, suchten sie sich untereinander zu einigen. Im Juli 1917 verhandelte auf Korfu die serbische Regierung mit dem Londoner Jugoslovenski Odbor. Am 20. Juli unterschrieben Pasić und Trumbić die „Deklaration von Korfu“. Die Deklaration war ein Kompromiß zwischen dem Großserbentum und dem revolutionären Jugoslawentum der Emigration. Sie forderte die Vereinigung aller südslawischen Länder zu einem „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“. Das Königreich solle eine „konstitutionelle, demokratische, parlamentarisch regierte Monarchie mit der Dynastie Karadiordjević an der Spitze“ sein. Ihre Verfassung, die den drei jugoslawischen Stämmen volle Gleichberechtigung sichern müsse, sei durch eine „Verfassunggebende Skupština“ festzusetzen, deren Beschlüsse aber der Sanktion des Königs bedürfen.

So stand nun der Maideklaration die Deklaration von Korfu gegenüber. Beide Programme warben um die Seelen. Je mehr der Verlauf der russischen Revolution die Hoffnung stärkte, daß dem Kriege überall gewaltige revolutionäre Umwälzungen folgen werden; je mehr Wilsons Propaganda die Überzeugung festigte, daß aus dem Kriege eine neue Weltordnung hervorgehen werde, die jedem Volke sein uneingeschränktes Selbstbestimmungsrecht sichern werde; je mehr sich in Österreich-Ungarn selbst die Anzeichen wirtschaftlicher Erschöpfung, militärischer Zersetzung, revolutionärer Spannung häuften, desto mehr erstarkte in den von Habsburg beherrschten südslawischen Stämmen die Hoffnung, daß sie sich mit der unvollständigen Lösung im Sinne der Maideklaration nicht werden bescheiden müssen, daß sie die vollständige Vereinigung und Befreiung der ganzen Nation im Sinne der Deklaration von Korfu werden erreichen können. Das Ideal der revolutionären Emigration erschien den Südslawen der Monarchie nun nicht mehr, wie 1914 und 1915, als eine Utopie, im Verlauf des Jahres 1917 verschwand allmählich aus den Kundgebungen der südslawischen Organisationen für den selbständigen jugoslawischen Staat die Einschränkung, daß dieser Staat „unter dem Zepter der Dynastie Habsburg-Lothringen“ leben solle.

Aber noch hatte das revolutionäre Jugoslawentum nicht die Unterstützung der Westmächte erlangt. Die Westmächte hofften immer noch, die Habsburgermonarchie zu einem Sonderfrieden zu bewegen. Wohl waren die Verhandlungen, die Kaiser Karl im Frühjahr und Sommer 1917 durch den Prinzen Sixtus von Parma mit Frankreich, geführt hatte, an dem Einspruch Italiens gescheitert; waren auch die Verhandlungen mit Frankreich, die Czernin durch den Grafen Revertera im August 1917 anzuknüpfen versuchte, ergebnislos geblieben. Aber Ende 1917 und Anfang 1918 wurden neue Fäden gesponnen; es war die Zeit der Konferenzen Smuts’ mit Mensdorff, des Briefwechsels des Kaisers mit Wilson. Die Friedenshoffnung bestimmte noch die Stellung der Entente zum südslawischen Problem. Wilsons 14 Punkte vom 8. .Jänner 1918 forderten für Serbien nur die Wiederherstellung und einen Zugang zum Meer, für die Südslawen der Monarchie nur „Möglichkeit einer autonomen Entwicklung“; ebenso verlangte Lloyd-George in einer Erklärung im englischen Parlament am 9. Jänner 1918 für die Nationen Österreich-Ungarns nur die Autonomie. Da zerriß plötzlich Czernin die Friedensfäden. Eine Rede Czernins vom 2. April 1918 provozierte leichtfertig Clemenceau, die geheimen Verhandlungen von 1917 zu enthüllen. Damit war alle Hoffnung auf neue Verhandlungen vereitelt. Die Entente gab den Gedanken an Sonderverhandlungen mit Österreich-Ungarn auf. Konnte sie nicht mehr hoffen, Österreich-Ungarn von Deutschland loszureißen, so entschloß sie sich, das so locker gewordene Gefüge des österreichisch-ungarischen Staatswesens zu sprengen. Die Haltung der Entente gegen die Habsburgermonarchie änderte sich nun vollständig.

Der Londoner Jugoslovenski Odbor verkündete die Wendung den Südslawen. Italienische Flieger warfen in Istrien, Slowenien und Kroatien eine Proklamation Trumbić’ ab, die verkündete: „Die Vorstellung, daß man Österreich reorganisieren und von Deutschland trennen könne, ist von allen Verbündeten aufgegeben. Alle Verbündeten sind nun überzeugt, daß Österreich nach dem Kriege nicht mehr existieren kann. Jetzt können wir unsere Freiheit, unsere Vereinigung erreichen.“ Vollständige Befreiung, vollständige Einigung schien nun erreichbar. Der Gedanke der Losreißung der südslawischen Gebiete von der Monarchie, die revolutionäre Konzeption der jugoslawischen Einheit und Freiheit, wie sie die Emigration seit 1914 verfochten hatte, gewann nun vollends die Südslawen in der Monarchie. Die innere Entwicklung dieses Gedankens verstärkte seine Anziehungskraft. Seit der russischen Revolution erstarkte innerhalb der jugoslawischen Emigration der republikanische Gedanke. Die Idee einer Föderativrepublik der jugoslawischen Stämme mußte Kroaten und Slowenen stärker locken als der Gedanke einer Monarchie der Karadjordjeviće, in der sie die Hegemonie der Serben zu fürchten hatten. Und der republikanische Gedanke erschien nun keineswegs aussichtslos. Im Sommer 1918 zirkulierten in Kroatien und Dalmatien Abschriften eines Briefes Trumbić’, in dem er versicherte, seit dem Eintritt Amerikas in den Krieg herrsche unter den Verbündeten die demokratische Strömung; Wilsons Macht verbürge, daß sowohl über die Staatsform des jugoslawischen Staates als auch über seine Grenzen nach dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker entschieden werde. Die Hoffnungen, die Wilsons Propaganda weckte, bannten so sowohl die Furcht vor der serbischen Hegemonie als auch die Furcht vor den italienischen Eroberungsgelüsten.

Im Sommer 1918 erkannte die Entente die tschechoslowakischen Legionen als verbündete kriegführende Macht, den tschechoslowakischen Nationalrat als de facto-Regierung an. Damit hatte sich die Entente tatsächlich schon für die Auflösung der Habsburgermonarchie entschieden. Damit stärkte sie die Hoffnung der Jugoslawen auf volle nationale Selbständigkeit; und diese Hoffnung erstarkte mächtig, als sich seit dem Juli das Kriegsglück an der Westfront der Entente zuwendete. Die Monarchie aber vermochte den Südslawen auch jetzt noch nichts zu bieten. Man diskutierte in der Monarchie das südslawische Problem. Aber die magyarische Herrenklasse wollte den Südslawen auch jetzt noch nicht mehr bieten als die Vereinigung Dalmatiens mit Kroatien, das unter ungarischer Oberherrschaft bleiben sollte, und die Einverleibung Bosniens in das ungarische Königreich mit einem eigenen Banus, einer besonderen, der kroatischen ähnlichen Verfassung. Der deutschösterreichischen Bourgeoisie aber erschien es schon als ein fast unerträgliches Opfer, daß sie diesem Lösungsversuch zuliebe Dalmatien und Bosnien an Ungarn abtreten sollte; die Slowenen glaubte sie mit lokaler Autonomie innerhalb der historischen Landesgrenzen abfertigen zu können. Das war alles, was die Monarchie dem Volke, dem die Entente volle Einheit und Freiheit verhieß, zu bieten vermochte! Die beiden herrschenden Klassen der Monarchie blieben unbelehrbar bis zur letzten Stunde. Selbst noch im September 1918, als die Niederlage der Mittelmächte schon entschieden war, donnerte Stephan Tisza, als Vertrauensmann des Kaisers nach Sarajevo entsandt, die Wortführer der bosnischen Kroaten und Serben an: „Es ist möglich, daß wir untergehen; aber vorher werden wir noch stark genug sein, euch zu zerschmettern.“ So wendeten sich denn die letzten Getreuen der Monarchie im slawischen Süden von Habsburg ab. Der Prozeß der Revolutionierung der Südslawen war vollendet. Der revolutionäre jugoslawische Einheitsgedanke beherrschte nun die ganze Nation.

Seit dem Sommer sahen die Jugoslawen Österreich-Ungarns den militärischen Zusammenbruch der Mittelmächte nahen. Im Einvernehmen mit dem Londoner Jugoslovenski Odbor entwarfen sie ihren Revolutionsplan. Zunächst sollten die südslawischen Gebiete der Monarchie zu einem unabhängigen Staate zusammengefaßt werden; der sollte dann, mit Serbien von Macht zu Macht über die Bedingungen des Zusammenschlusses verhandeln. Schon am 16. August 1918 konstituierte sich in Laibach, aus allen slowenischen Parteien zusammengesetzt, der Narodni svet; offen verkündete er als seine Aufgabe, „als ein Teil des allgemeinen jugoslawischen Nationalrates in Agram, der binnen kurzem zusammentreten wird, die Übernahme aller Rechte der staatlichen Souveränität vorzubereiten“. Die Südslawen rüsteten zu dem ersehnten Tage der Befreiung.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008