Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




10. Die Voraussetzungen der Sozialisierung


Wir haben in einer Reihe von Abhandlungen eine Übersicht darüber zu gewinnen versucht, welche Maßregeln in Angriff genommen werden müssen, damit die große gesellschaftliche Umwälzung planmäßig und zielbewusst, im Interesse der Volksgesamtheit und ohne Störung der Produktion vollzogen werden könne. Jetzt gilt es schließlich, noch zu zeigen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die lange Kette mannigfaltiger durchgreifender Reformen überhaupt möglich werde.

Diese erste Voraussetzung der Sozialisierung ist selbstverständlich der Friede. Keine der Maßregeln, die wir erörtern haben, ist möglich, solange wir noch im Kriegszustand leben, solange unsere Grenzen noch nicht festgesetzt sind, solange das Meer noch nicht frei ist. Wir können zum Beispiel die Vermögensabgabe nicht durchführen, solange wir nicht wissen, welche Gebiete zu unserem Staat gehören werden, solange wichtige Teile unseres Staatsgebietes von fremden Truppen besetzt sind und solange die Aufteilung der Kriegsanleihe auf die einzelnen neuen Staaten noch nicht geregelt ist. Wir sind nicht frei, unsere Gesellschaftsverfassung nach unserem eigenen Willen, unabhängig von den herrschenden Klassen der Ententeländer, neuzugestalten, solange wir Lebensmittel und Kohle nicht mit den Erzeugnissen unserer Arbeit bezahlen, sondern nur auf Borg aus den Händen des Siegers zugeteilt bekommen können. Wir müssen zuerst wieder Frieden haben, die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen muss zuerst wieder Frieden haben, die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen muss zuerst wieder frei werden, unsere Maschinen müssen zuerst wieder in Gang gebracht werden, wir müssen zuerst wieder zu arbeiten beginnen, damit wir nicht mehr von der Gnade des Siegers abhängig, nicht mehr von seinem Willensgebot unterworfen, sondern frei seien, unsere gesellschaftlichen Verhältnisse nach unserem eigenen Bedürfnis und unserem Willen zu gestalten.

Friede und Arbeit sind die äußeren Voraussetzungen der Erfüllung unserer Aufgabe. Ihre innere Voraussetzung aber ist, dass das Volk, dass die breiten arbeitenden Volksmassen in Stadt und Land die soziale Neugestaltung wollen. Manche meinen freilich, es genüge, dass sich ein paar tausend beherzte und tatkräftige Männer durch einen Handstreich der Staatsgewalt bemächtigen; die würden dann der breiten Masse des Volkes den Sozialismus dekretieren können. Aber das ist ein Irrtum. Denn wie könnte eine kleine Minderheit, die mit terroristischen Mitteln die breiten Volksmassen zur Unterwerfung unter ihren Willen zwänge, den großen gesellschaftlichen Produktionsapparat verwalten? Gewiß, auch sie könnte durch erbarmungslosen Terror die Kapitalistenklasse expropriieren, auch sie von irgendeiner revolutionären Zentralstelle aus den Produktionsapparat beherrschen. Aber das würde ein bürokratischer Sozialismus, kein demokratischer: denn die revolutionäre Zentralstellen könnte die Fabriken und die Bergwerke und die Landgüter nicht anders regieren als durch eine von ihr eingesetzte Bureaukratie, deren Geboten ihre Armee Gehorsam erzwänge. Wir aber wollen nicht einen bureaukratischen Sozialismus, der die Beherrschung des ganzen Volkes durch eine kleine Minderheit bedeuten würde. Wir wollen den demokratischen Sozialismus, das heißt die wirtschaftliche Selbstverwaltung des ganzen Volkes. Durch ein ganzes System demokratischer Organisationen soll das Volk sein Wirtschaftsleben selbst verwalten; wir haben diese Organisationen in unseren früheren Abhandlungen kennengelernt. Die Arbeiterausschüsse in den einzelnen Betrieben, die Mieterausschüsse in den einzelnen Miethäusern, die Gewerkschaften, Konsumvereine und die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die Stadt- und Landgemeinden, die Verwaltungsräte der einzelnen Industriezweige und die Aufssichtsräte der einzelnen Landgüter, die Bezirksagrarbehörden und ihre Beiräte, die Landeskulturräte und der Reichslandwirtschaftsrat, der Verwaltungsrat der nationalen Zentralbank und schießlich die Nationalversammlung und die aus ihr gebildete Regierung, das sind die wirtschaftlichen Organisationen, die an die Stelle der Kapitalisten und der Grundherren treten, die Arbeitsmittel verwalten, die Arbeit leiten das Wirtschaftsleben regeln werden. Ein solches System wirtschaftlicher Selbstverwaltung des Volkes setzt aber die werktätige Teilnahme, die freudige Mitarbeit der breiten Volksmassen voraus. Es kann dem Volke nicht durch eine kleine Minderheit aufgezwungen werden, sondern nur aus dem eigenen Willen der arbeitenden Volksmassen hervorgehen. Darum ist die erste Voraussetzung des Sozialismus, dass die breiten Massen des Volkes, dass die Mehrheit des Volkes von sozialistischer Überzeugung erfüllt, vom Willen zum Sozialismus beseelt wird.

Aber der Sozialismus hat noch eine andere Voraussetzung: er setzt einen Staat voraus, der seinem Wesen nach fähig ist, die soziale Umwälzung durchzuführen. Diese Voraussetzung müssen gerade wir in Deutschösterreich wohl beachten. Denn noch stehen wir vor der großen Frage, ob unser Deutschösterreich ein Bestandteil der großen Deutschen Republik werden oder ob es sich mit Tschechen, Südslawen, Ungarn, Polen und Rumänen zu einem Staatenbund, einer „Donauföderation“, vereinigen soll. Von dieser Entscheidung hängt die Zukunft unserer Gesellschaftsverfassung zunächst ab.

Stellen wir uns einmal eine solche Föderation der Donauvölker vor! Wer sollte innerhalb dieser Föderation den Sozialismus durchführen? Die deutschösterreichische Regierung? Aber man kann sich nicht vorstellen, dass in einer und derselben Föderation, in einem und denselben Wirtschaftsgebiet ein sozialistisches Deutschösterreich mit kapitalistischen Nachbarstaaten vereinigt sein könnte. Oder soll die ganze Föderation gemeinsam den Weg zum Sozialismus gehen? Soll eine Bundesregierung, von all den vielen Nationen gemeinsam eingesetzt, die Sozialisierung durchführen? Die Sozialisierung setzt vor allem eine starke, einheitliche, handlungsfähige Regierung voraus, die von Widerstand der Kapitalisten und der Grundherren zu brechen, die sozialistische Organisation tatkräftig einheitlich, zielbewusst aufzubauen vermag. Die Bundesgewalt einer nur lockeren Föderation könnte diese gewaltige Aufgabe nie bewältigen. Unsere Eingliederung in eine Donauföderation würde uns als oden Weg zum Sozialismus für lange Zeit sperren.

Ganz anders sind unsere Aussichten, wenn Deutschösterreich zu einem Gliedstaat der großen Deutschen Republik wird. Die große Deutsche Republik wird kein lockere Staatenbund sein, sondern ein fest gefügter Bundesstaat mit starker einheitlicher Regierung und gemeinsamen gesetzgebenden Parlament; dort wird die starke Staatsgewalt vorhanden sein, die allen die Widerstände der Herrenklassen zu überwinden, die neue gesellschaftliche Organisation aufzurichten vermag. Und dass diese Staatsgewalt vom Wollen zum Sozialismus beherrscht sein wird, dafür bürgen uns die Zahl, die geistige Reife und die revolutionäre Entschlossenheit der deutschen Arbeiter. Der Anschluß an Deutschland bahnt uns also den Weg zum Sozialismus. Es ist die erste Voraussetzung zur Verwirklichung des Sozialismus. Darum muß der Kampf um den Sozialismus hierzulande zunächst geführt werden als ein Kampf um den Anschluß an Deutschland.

So haben wir gezeigt, wie wir zum Sozialismus kommen können und wollen. Aber freilich, der Weg zum Sozialismus, den wir beschrieben habe, ist nicht der einzige denkbare Weg. Der Sozialismus kann auch auf anderen Wegen kommen. Wenn unser Volk die Notwendigkeiten der Stunde nicht begreift, wenn sich die besitzenden Klassen dem Notwendigen und Unvermeidlichen widersetzen und die arbeitenden Volksmassen, beirrt und betört, ihr eigenes Interesse nicht erkennen und die politischen Machtmittel, die die demokratische Republik ihnen gegeben hat, nicht zu gebrauche verstehen, dann würde der Sozialismus freilich auf andere Weise kommen:

Nicht als das Ergebnis planmäßig aufbauender Arbeit, sondern als die Folge eines furchtbaren Sturmes, der zuerst alles zerstört, alles vernichtet, damit dann auf den Trümmern der alten Welt eine neue erstehe. Käme der Sozialismus auf diesem Wege, dann müssten wie alle ihn furchtbar teuer erkaufen: erkaufen mit Jahren des Bürgerkrieges, erkaufen mit ungeheuerlicher Zerstörung unserer Produktionsmittel, erkaufen mit noch vielen Jahren gesteigerten Elendes, mit noch viel schrecklicherer Not, als die ist, die der Krieg über uns gebracht hat. Der Sozialismus ist zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden; kommen wird er auf jeden Fall. Fraglich ist nur, auf welchem Wege er kommen soll. Arbeiten wir alle daran, dass er komme, nicht als das Ergebnis verheerender Katastrophen, sondern als die Frucht zielbewusster Arbeit!

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007