Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




9. Expropriation der Expropriateure


Der Sozialismus will dem Volke wiedergeben, was sich Kapitalisten und Grundherren auf Kosten des Volkes angeeignet haben. Die Enteignung derer, die bisher das Volk enteignet haben, die Expropriation der Expropriateure, ist darum die erste Voraussetzung einer sozialistischen Gesellschaft. Aber was heute in Frage steht, das ist nicht mehr, ob sich die Expropriation vollziehen, sondern wie sie sich vollziehen soll. Sie kann und soll sich nicht vollziehen in der Form einer brutalen Konfiskation des kapitalistischen und grundherrlichen Eigentums; denn in dieser Form könnte sie sich nicht anders vollziehen als um den Preis einer gewaltigen Verwüstung der Produktionsmittel, die die Volksmassen selbst verelenden, die Quellen des Volkseinkommens verschütten würde. Die Expropriation der Expropriateure soll sich vielmehr in geordneter, geregelter Weise vollziehen; so vollziehen, daß der Produktionsapparat der Gesellschaft nicht zerstört, der Betrieb der Industrie und Landwirtschaft nicht gehemmt wird. Zu dem wichtigsten Mittel einer solchen geregelten Expropriation können die Steuern werden.

Wir haben in den früheren Abhandlungen gezeigt, dass zunächst die Schwerindustrie und der Bergbau, die Forste, die Latifundien und der Großgrundbesitz der Toten Hand vergesellschaftet werden müssen. Der Entschädigungsbetrag, den die bisherigen Eigentümer zu bekommen haben, soll durch eine Vermögensabgabe aufgebracht werden. Man kann für Deutsch-Österreich schätzen, daß eine Vermögensabgabe von durchschnittlich einem Sechstel des gesamten Vermögens der besitzenden Klassen genügen würde, um diese Expropriation zu vollziehen. Natürlich müßte die Vermögensabgabe progressiv gestaltet sein, so daß also die kleinen Besitzenden weit weniger, die großen weit mehr als ein Sechstel ihres Vermögens zu steuern hätten. Eine solche Vermögensabgabe in der Höhe von durchschnittlich einem Sechstel des Vermögens bietet keinerlei technische Schwierigkeiten; mittels einer für diesen Zweck zu schaffenden Kreditorganisation kann sie eingehoben werden, ohne daß empfindliche wirtschaftliche Störungen hervorgerufen werden. Auch abwälzbar ist eine solche Vermögensabgabe nicht; nach allen gesichteten Erkenntnissen der Finanzwissenschaft kann sie weder die Warenpreise emportreiben noch die Löhne drücken. Es ist also auf diese Weise ohne weiteres möglich, einen wichtigen Theil des gesellschaftlichen Produktionsapparats ohne jede Störung des Wirtschaftslebens und ohne jede Belastung der arbeitenden Volksmassen in den Besitz der Volksgesamtheit überzuführen.

Eine zweite, nicht minder wichtige Aufgabe der Gesetzgebung wird es sein, das Volk von dem drückenden Tribut an die Staatsgläubiger zu befreien. Der Krieg hat den Staat mit ungeheuren Schulden belastet. Diese Schulden müssen verzinst werden. Der Staatsbankrott in der Form einer einfachen Einstellung der Zinsenzahlung ist nicht möglich; denn er würde den sofortigen Bankrott aller Banken, Sparkassen, Versicherungsgesellschaften, Waisenkassen, Raiffeisenkassen bedeuten, daher Millionen kleiner Beamter, Angestellter, Handwerker, Bauern ihrer kleinen Ersparnisse berauben, aber auch allen Industriellen und Kaufleuten ihr ganzes Betriebskapital nehmen. Eine solche Katastrophe muß verhütet, die Zinsen der Kriegsanleihen müssen also gezahlt werden. Aber sie dürfen nicht von der Arbeiterklasse, sie müssen vielmehr von den besitzenden Klassen gezahlt werden; denn der Staat darf nicht die Arbeiter besteuern, um den Steuerertrag den Kapitalisten als Zins abzuführen. Die Zinsen für die Staatsgläubiger müssen also durch eine Sondersteuer aufgebracht werden, die allem arbeitslosen Einkommen auferlegt wird. Der Staat erhebt von jedem arbeitslosen Einkommen aus Kapital und Grundbesitz eine besondere progressive Steuer in der Höhe durchschnittlich eines Drittels dieses Einkommens, so daß also die großen Kapitalisten mehr, die kleinen weniger als ein Drittel zu steuern hätten. Das Erträgnis der Steuer würde genügen, die Kriegsschulden zu verzinsen. Diese Verzinsung würde sich ganz auf Kosten der Kapitalisten und Grundherren vollziehen, denn wenn die Sondersteuer vom arbeitslosen Einkommen nicht als Ertragssteuer, sondern als Einkommenssteuer konstruiert und wenn sie progressiv gestaltet wird, so ist sie nach den Lehren der Finanzwissenschaft nicht abwälzbar.

Die beiden Steueroperationen, die wie angeführt haben, würden also darauf hinauslaufen, daß die besitzenden Klassen selbst durch Abgaben von ihrem Vermögen und von ihrem Einkommen die Entschädigungsbeiträge aufbringen müßten, um deren Preis die Gesellschaft die Schwerindustrie und den Großgrundbesitz in ihr Eigentum überführen würde, und anderseits selbst die Zinsen aufbringen müssten, die der Staat ihnen als seinen Gläubigern bezahlen muß. Und dabei würde sich die ganze Operation verhältnismäßig schmerzlos vollziehen. Die besitzenden Klassen würden etwa ein Sechstel ihres Vermögens und damit auch ihres Einkommens durch die Vermögensabgabe und von den übrigen fünf Sechstel ihres Einkommens ein Drittel durch die Sondersteuer vom arbeitslosen Einkommen verlieren. Sie würden also zunächst nur etwa durchschnittlich vier Neuntel ihres Einkommens einbüßen, die großen Kapitalisten mehr, die kleinen weniger als vier Neuntel. Gegenüber der Umwälzungen der Einkommensverhältnisse, die der Krieg hervorgerufen hat, erschein eine solche Enteignung keineswegs allzu radikal.

Gleichzeitig mit dieser Form der Enteignung würde sich aber auch eine andere vollziehen. Die Gemeinden und die Bezirke würden, wie wir gesehen haben, Industrie- und Handelsbetriebe, die den lokalen Bedürfnissen dienen, und den städtischen Grund und Boden enteignen, wobei die bisherigen Eigentümer als Entschädigung Wertpapiere bekämen, die sie zum Bezug eines festen Zinses aus dem Ertrag des vergesellschafteten Eigentums berechtigen würden. Die bisherigen Eigentümer hätten dann statt ihres Bodens, ihre Häuser, ihrer Bäckereien, Mühlen usw. fest verzinsliche Wertpapiere in der Hand. Die nächste Aufgabe bestünde dann darin, auch diese Schuldtitel und die Kriegsanleihtitel allmählich zu tilgen. Dies kann durch die Beschränkung des Erbrechts und die Besteuerung der Erbschaften geschehen.

Das gesetzliche Erbrecht wird auf den Ehegatten und die nächsten Blutsverwandten beschränkt werden müssen. Testamentserben werden hohe progressive Erbschaftssteuern zu entrichten haben. Das Erträgnis des Heimfallrechts des Staates an Erbschaften und das Erträgnis der Erbschaftssteuern werden ausschließlich zu Zwecken der Tilgung der Schuldtitel, mit denen die Gesellschaft belastet sein wird, zu verwenden sein. Auf diese Weise werden diese Schuldtitel binnen wenigen Generationen verschwinden.

Die laufenden Staatsausgaben dagegen werden in anderer Weise gedeckt werden müssen. Hat der Staatshaushalt bisher vornehmlich auf Steuern beruht, so werden jetzt in dem Maße, als sich die Vergesellschaftung der Produktion vollzieht, die vergesellschafteten Betriebe zur Hauptquelle des staatlichen Einkommens werden. Dem Staate wird ein Anteil an dem Reingewinn der vergesellschafteten Schwerindustrie, des vergesellschafteten Bergbaues, des vergesellschafteten und gesellschaftlich bewirtschafteten Großgrundbesitzes zufallen. Ihm werden die Erbpächter, die auf einem Teil des vergesellschafteten Großgrundbesitzes angesiedelt werden, einen Zins abzuführen haben. Ihm wird ein Gewinnanteil an den Erträgnissen der in Industrieverbänden organisierten Industrie zufallen. Ihm werden die Erbpächter, die auf einem Teil des vergesellschafteten Großgrundbesitzes angesiedelt werden, einen Zins abzuführen haben. Ihm wird ein Gewinnanteil an den Erträgnissen der in Industrieverbänden organisierten Industrie zufallen. Die vergesellschafteten Zweige des Handels werden ihm einen Gewinn abwerfen. In dem Maße, als die Sozialisierung fortschreitet, wird ein wachsender Teil der Staatsausgaben nicht mehr aus den Erträgnissen von Steuern bestritten werden, sondern aus dem Ertrag der gesellschaftlichen Unternehmungen.

Alle großen gesellschaftlichen Umwälzungen sind immer begleitet von Umwälzungen des Staatshaushaltes. Der feudale Staat war dadurch charakterisiert, dass er Boden seinen Dienern zu Lehen gab, um dadurch ihre Dienste zu belohnen. Der kapitalistische Staat ist dadurch gekennzeichnet, dass er Geldsteuern einhebt und mit ihrem Erträgnis seine Herrschaftsmittel, die Armee und die Bureaukratie, bezahlt. Das sozialistische Gemeinwesen der Zukunft wird seine Bedürfnisse nicht mehr aus dem Ertrag von Geldsteuern bestreiten, sondern aus dem Ertrag gesellschaftlicher Unternehmungen. Während aber die Steuer als normale Einkommensquelle des Staates allmählich ihre Bedeutung einbüßen wird, wird sie eine desto größere Bedeutung gewinnen als Instrument der Umwälzung der gesellschaftlichen Vermögens- und Einkommensverteilung. Gerade damit der Staat seinen Haushalt nicht mehr aus Steuererträgnissen, sondern aus Erträgnissen gesellschaftlicher Unternehmungen bestreiten könne, muss er durch hohe Vermögensabgaben die Mittel gewinnen, diese gesellschaftlichen Unternehmungen zu erwerben, und durch hohe Sondersteuern vom arbeitslosen Einkommen die Mittel erwerben, die Lasten der Kriegsschuld abzutragen. Die Steuer verändert also vollständig ihre Funktion: Aus dem Mittel zur Deckung der normalen Staatsausgaben, aus dem Mittel zur Bestreitung der Herrschaftserfordernisse des Staates verwandelt sie sich in das Mittel der Expropriation der Expropriateure.

Der kapitalistische Staat legt den Volksmassen drückende Verbrauchssteuern auf und er verwendet ihre Erträgnisse dazu, Zinsen an die Staatsgläubiger zu bezahlen: durch indirekte Steuern enteignet er die Volksmassen im Dienste des Kapitals. Die werdende sozialistische Gesellschaft wird gerade den entgegengesetzten Weg gehen: indem sie das Kapital mit Vermögens- und Erbschaftsabgaben und mit Sondersteuern vom arbeitslosen Einkommen belastet, um ihren Ertrag dazu zu benützen, den Boden und die Arbeitsmittel in den Besitz der Gesamtheit überzuführen, enteignet sie das Kapital im Dienste der arbeitenden Volksmassen. Die Steuern, die bisher ein Mittel waren, das Volk zugunsten der Kapitalisten zu enteignen, werden jetzt zum Mittel, die Kapitalisten zu enteignen zugunsten es Volkes.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007