Otto Bauer

Zum Innsbrucker Parteitag

(1. November 1911)


Der Kampf, Jg. 5 2. Heft, 1. November 1911. S. 49–56.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In ernster Stunde rüsten wir zum Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Oesterreich.

Die Teuerung hat die Lebenshaltung des Proletariats verschlechtert, die Klassengegensätze verschärft, wilde Klassenkämpfe ausgelöst. Riesenkämpfe rütteln die Arbeiter Englands auf. Mächtig steigt in Deutschland die rote Flut. Zu neuem Leben beginnen die Proletarier Russlands zu erwachen.

Waffenklirren hallt durch die Welt. Das tripolitanische Abenteuer ist der vorletzte Akt der Tragödie des Osmanenreiches. Ein Stoss noch – und im blutigen Weltkrieg werden die grossen Nationen um sein Erbe ringen. Im fernen Osten erwachen Millionen; wie gestern in Persien und in der Türkei, in Aegypten und in Indien, so heute in China. Das Fundament, auf dem die grossen Weltmächte aufgebaut, wankt bald hier, bald dort. Eine Zeit weltpolitischer Wirren, weltpolitischer Umwälzungen naht heran.

Seit dem Jahre 1871 haben wir auf europäischem Boden keinen grossen Krieg mehr erlebt, keinen Staat entstehen, keinen Staat verschwinden, in keinem Grossstaat die Verfassung zusammenbrechen gesehen. Nun naht wieder eine Zeit der Kriege und Revolutionen, der Staatsbildungen und Verfassungsumwälzungen. Eine solche Epoche wird in Wochen vollbringen, was in träger Zeit Jahrzehnte nicht vermochten. Sie wird die Schlafenden wecken, die Trägen aufrütteln, sie wird stürzen, was fallen muss.

Für solche Zeit sammeln wir unsere Kraft. Der Glaube an die Umwälzungen der Zukunft gibt der nüchternen Arbeit des Alltags Richtung, Adel, Weihe. Solchen Glaubens voll wird der Parteitag in Innsbruck sein Werk verrichten.

* * *

Seit dem Reichenberger Parteitag sind wir gewachsen. Unsere Organisation, auf neue Grundlagen gestellt, hat an Umfang und Festigkeit zugenommen. Die Frauen-und die Jugendorganisationen wurden ausgebaut, die Parteipresse ausgestaltet, die Bildungsarbeit ausgedehnt und vertieft, die Parteiliteratur zu breiteren Massen getragen. Vielleicht hat noch kein Parteibericht so viele Zeichen äusseren Wachstums, insbesondere aber innerer Vertiefung des Parteilebens feststellen können wie der, den die Parteivertretung dem Innsbrucker Parteitag vorgelegt hat. Trotzdem sind viele unserer Genossen unzufrieden. Denn das gleiche Wahlrecht hat uns vor neue taktische Probleme gestellt, die die Massen der Arbeiter erst allmählich verstehen lernen müssen. Die Debatte über den Bericht unserer parlamentarischen Vertretung und die Diskussion über unsere Aktion gegen die Teuerung werden uns zeigen, wie weit das Verständnis der für uns neuen Probleme des Klassenkampfes gedrungen ist.

In der ganzen Internationale stehen einander zwei Grundauffassungen gegenüber: die des Marxismus und die des Revisionismus.

Der Revisionismus sagt: In der ersten Phase der kapitalistischen Entwicklung ist das Proletariat der Ausbeutung wehrlos ausgeliefert. Dann aber lernt es, seine Kraft zu gebrauchen. Es erobert sich politische Rechte, seine politische Organisation beeinflusst die Gesetzgebung und die Verwaltung, seine Gewerkschaften erringen ihm höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit, seine Konsumvereine billigere Lebensmittel. Mit seiner Zahl wächst seine Macht, wachsen seine Erfolge. So schreitet die Arbeiterklasse von einem positiven Erfolg zum andern. Allmählich wird die Ausbeutung verringert, die Vorrechte der Besitzenden werden Stück für Stück abgetragen. So wächst der Kapitalismus in den Sozialismus hinein.

Der Marxismus antwortet: Es ist nicht wahr, dass das Proletariat von einem positiven Erfolg zum andern fortzuschreiten vermag. Wohl gelingt es der Arbeiterklasse von Zeit zu Zeit immer wieder, Kapitalisten und Grundherren ein Zugeständnis abzuringen. Aber jeder Erfolg des Proletariats stachelt seine Feinde zu verstärktem Widerstand auf. Es wächst die Kraft des Proletariats, aber es wachsen auch Unternehmerverbände, Kartelle, agrarische Organisationen. Vom Finanzkapital kommandiert, vereinigen sich alle besitzenden Klassen zur Abwehr der Forderungen der Arbeiterklasse. Sie machen die Regierung zu ihrem Exekutivorgan. Ihre Macht setzt aller Möglichkeit, positive Erfolge für das Proletariat zu erringen, enge Grenzen. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft führt nicht zum stetigen Aufstieg des Proletariats, sondern zur Steigerung der Klassengegensätze, zur Verschärfung der Klassenkämpfe, zur Anhäufung des Reichtums und der Macht auf der einen, des Elends und der Erbitterung auf der anderen Seite, zur Spaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager, die sich für den Tag des Entscheidungskampfes rüsten. Wenn die Industrialisierung der Volkswirtschaft die Arbeiterklasse zur Mehrheit des Volkes gemacht, wenn die Konzentration des Kapitals seine Vergesellschaftung vorbereitet hat, wenn schliesslich das kapitalistische Staatensystem durch weltgeschichtliche Ereignisse, durch Kriege, Revolutionen, nationale Kämpfe erschüttert wird, dann kommt der Tag der Entscheidung.

Der theoretische Gegensatz zwischen dem Revisionismus und dem Marxismus fällt zusammen mit den Gegensätzen der Taktik, die innerhalb der ganzen Internationale um die Vorherrschaft ringen.

Der Revisionismus weist uns ausschliesslich auf den Kampf um positive Erfolge und nach dem Ergebnis dieses Kampfes bewertet er unser Tun. In zwei Spielarten tritt der Revisionismus auf. Die eine Spielart ist der friedliche Reformismus, der Zugeständnisse der Bourgeoisie zu erkaufen hofft, indem er den Fürsten seine Aufwartung macht, mit bürgerlichen Parteien sich zu einem „Block“ vereinigt, bürgerliche Regierungen unterstützt, in bürgerliche Ministerien eintritt. Die andere Spielart ist der gewalttätige Syndikalismus. Er redet den Arbeitermassen ein, kein positiver Erfolg könne ihnen versagt bleiben, wenn es ihnen nur nicht an Heldenmut und Opferwilligkeit fehlt; er empfiehlt ihnen die „direkte Aktion“, die Sabotage, den Generalstreik, den Streik der Reservisten, schliesslich die Bombe als Waffen, denen der positive Erfolg nicht fehlen könne.

Dem Revisionismus von rechts und dem Revisionismus von links, dem friedlichen Reformismus und dem gewalttätigen Syndikalismus steht der Marxismus gleich feindlich gegenüber. Er weiss, dass die ehernen Gesetze der kapitalistischen Entwicklung weder durch sozialistische Minister noch durch sozialistische Attentäter aufgehoben werden können. Seine Aktion ist Belehrung, seine Arbeit Bildungsarbeit. Er lehrt die Massen, dass ihre Not nicht innerhalb des Kapitalismus, sondern nur mit dem Kapitalismus verschwinden kann. Er warnt sie vor den falschen Propheten, die ihnen innerhalb der heutigen Gesellschaft Abschaffung ihres Elends versprechen. Er zerstört ihre Illusionen. Jeder Misserfolg im Kampf um positive Erfolge, jede Verschlechterung der Lage des Proletariats, jede Erschwerung der Bedingungen seines Kampfes bestätigen seine Lehre und führen ihm Hunderttausende neuer Anhänger zu.

Wohin der friedliche Reformismus führt, zeigt die Ohnmacht des italienischen Proletariats. Wohin gewalttätiger Syndikalismus führt, zeigt die Verwüstung der französischen Arbeiterbewegung. Die Erfolge des Marxismus zeigt das Erstarken der Deutschen Sozialdemokratie.

Die Arbeiterbewegung aller Nationen Oesterreichs ist seit mehr als einem Jahrzehnt vom Geiste des Revisionismus erfüllt. Zwar haben wir nur wenige bewusste Revisionisten und die Theorie des Revisionismus wurde hier nur von wenigen gepredigt. Aber die eigenartige Geschichte Oesterreichs hat uns alle, – auch diejenigen, die in der Theorie sich zur Marxschen Lehre bekennen – mit revisionistischen Illusionen erfüllt. Der Kampf der nationalen Bourgeoisie um und gegen den Staat hat es uns erleichtert, positive Erfolge zu erringen. Wir sind viel, viel schwächer als die preussische Sozialdemokratie; trotzdem haben wir ohne allzu schwere Opfer das gleiche Wahlrecht erobert, während dem Wahlrechtskampf des preussischen Proletariats jeder Erfolg versagt blieb. Unsere grossen Erfolge haben unser Denken beeinflusst. Wir haben die Widerstände, die weiteren Erfolgen entgegenstehen, unterschätzt. Die ganze Arbeiterklasse Oesterreichs wurde – nicht von uns, von der Geschichte selbst – zum Glauben erzogen, positive Erfolge könnten gar nicht ausbleiben, wenn nur ihre Vertreter den rechten Weg zu finden wissen. Bleiben die erwarteten Erfolge aus, dann meint sie, die Taktik der Partei müsse falsch sein.

Auch hier tritt der Revisionismus in der friedlichen und in der gewalttätigen Spielart auf – beide Arten oft in demselben Kopfe! Die einen glauben, wir könnten uns zum Kampf gegen die Teuerung mit dem liberalen Bürgertum verbünden. An die Stelle des Klassenkampfes möchten sie den Kampf „der ganzen konsumierenden Bevölkerung“ oder gar „aller arbeitenden Stände“ gegen ein paar Kartellmagnaten und einige Latifundienbesitzer setzen. Ein typisches Beispiel der revisionistischen „Block“politik! Die anderen glauben, wir könnten die Teuerung aus der Welt schaffen, wenn nur unsere Abgeordneten genug Pultdeckel zerschlagen und die Arbeiter selbst genug Fensterscheiben zertrümmern wollten. Illusionen, die denen des romanischen Syndikalismus nahe verwandt sind! Wie die Illusionisten einer allgemeinen, die Klassengegensätze überbrückenden Konsumentenpolitik sind auch unsere „Radikalen“ nichts anderes als Revisionisten! Der Radaurevisionismus ist um kein Haar besser als der Revisionismus der Hofgängerei. Beide meinen durch blosse Aenderung der Taktik die Gesetze des Kapitalismus aufheben, positive Erfolge erreichen zu können! Was man in Oesterreich „Radikalismus“ nennt, hat mit dem reichsdeutschen Radikalismus, dessen Denkweise marxistisch ist, gar nichts zu schaffen.

Und doch zeigt uns gerade der Kampf gegen die Teuerung den Feind, der uns gegenübersteht. Das Steigen der Weltmarktpreise ist im ganzen Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft begründet, durch keine Anstrengung der Partei zu hindern! Und das Steigen der Inlandspreise in Oesterreich beruht auf dem Zolltarif, mit dem keineswegs nur grossagrarische Interessen verknüpft sind, der vielmehr das Kompromiss ist zwischen den Forderungen aller herrschenden Klassen Oesterreichs und Ungarns, garantiert durch die Macht nicht nur einiger Kartellmagnaten und Grossagrarier, sondern durch den ganzen Einfluss des Finanzkapitals, der schutzzollbedürftigen Industrie, eines grossen Teiles des Handels, des Kleinbürgertums und der Bauernschaft! Wir werden es erleben, wie sich diese Klassen 1917 wieder zusammenschliessen, wie sie einander ihre Schutzzölle bewilligen werden! Ihr innerer Streit wird verstummen, wenn jeder von ihnen sein Privileg gegen uns zu verteidigen hat. Es ist in Wirklichkeit der Bund aller Interessenten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, der uns gegenübersteht. Und dieser Bund hat seine Stützen am Hofe, er beherrscht das Herrenhaus und die Magnatentafel, er verfügt über die Mehrheit des österreichischen und des ungarischen Abgeordnetenhauses, ihm gehören die grössten Staatsgläubiger und die grössten Steuerträger an, ihn schützt die ganze Staatsgewalt! Welche Illusion, zu meinen, wir, die wir doch in Oesterreich und in Ungarn eine Minderheit bilden, könnten heute schon mit irgendwelchen taktischen Kunstgriffen diesen Bund brechen! Ja, das Wahlrecht konnten wir erobern; aber ihre Rente werden die Grossgrundbesitzer noch ganz anders verteidigen als ihre Mandate! Wir können sie nur besiegen, wenn wir, die wir heute erst eine kleine Minderheit sind, zur grossen Mehrheit werden. Und Mehrheit werden wir sein, wenn erst der Sturm wieder durch Europa zieht und Schwerterklirren erweckt, die die Jahrzehnte des Friedens eingeschläfert haben!

Die schlechteste Politik ist die Politik der Illusionen. Denn sie kann nicht anders enden als mit der Enttäuschung, mit der Entmutigung, mit dem wirkungslosen Verzweiflungsausbruch der Massen. Selbstbesinnung über die Bedingungen des Kampfes tut uns not. Wir müssen zurück auf Marx. Gewiss können sich im Denken der Masse, das durch die Erfahrung von Jahrzehnten, durch grosse Erlebnisse bestimmt ist, nur allmählich Umwälzungen vollziehen. Aber diese Umwälzungen des Massendenkens zu fördern und zu beschleunigen muss eine Aufgabe des Parteitages sein.

* * *

So wichtig die Fragen des Klassenkampfes sind, die der Parteitag zu beantworten hat, so werden sie doch in den Hintergrund gedrängt werden durch eine innere Frage der Arbeiterklasse. Ueber das Verhältnis der deutschen Sozialdemokratie zu den Bruderparteien in Oesterreich, vor allem zur tschechischen Sozialdemokratie, muss der Parteitag entscheiden.

Die alten Formen der österreichischen Gesamtpartei sind durch den Streit um die Gewerkschaften gesprengt worden. Aber nicht über den Gewerkschaftskonflikt selbst, sondern nur über seine politischen Wirkungen hat der Parteitag zu entscheiden. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie besteht keine Verschiedenheit der Meinungen über die Gewerkschaftsfrage. Wir alle stimmen darin überein, dass die internationale Zentralorganisation die zweckmässigste Form der gewerkschaftlichen Organisation ist. Ob aber, soweit diese internationale Zentralorganisation heute nicht durchgesetzt werden kann, ein Kompromiss mit den tschechoslawischen Organisationen möglich ist, hat nicht der Parteitag, sondern nur der Gewerkschaftskongress zu entscheiden.

Auch darüber kann kein Zweifel bestehen, dass heute die objektiven und die subjektiven Bedingungen für jedes Kompromiss fehlen. Die territoriale Abgrenzung des Tätigkeitsgebietes der tschechoslawischen Gewerkschaften ist heute kein aktuelles Problem: sie würde weder von unseren noch von den separatistischen Gewerkschaften angenommen werden. Ich habe sie zur Diskussion gestellt, nicht um einen im Augenblick zu verwirklichenden Vorschlag zu machen, wie die Streitfrage aus der Welt geschafft werden könnte, sondern um auf die Entwicklungstendenzen hinzuweisen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die tschechoslawischen Organisationen den Versuch unternehmen werden, auch in das deutsche Sprachgebiet einzudringen. Aber sie werden sich hier an der Kraft unserer Organisation die Köpfe einrennen! Sie werden bald erfahren, dass es doch ein anderes ist, die Arbeiter des tschechischen Sprachgebietes von den Berufsgenossen des deutschen Gebietes zu sondern, wobei doch die Einheit der gewerkschaftlichen Organisation im Ort, in der Fabrik erhalten bleiben kann, als in das deutsche Gebiet einzudringen und hier in der Fabrik selbst die tschechischen Arbeiter von den deutschen Arbeitskollegen zu trennen. Auch das mag ja zeitweilig gelingen. Aber die augenfälligen Schäden, die ein solches Unternehmen anrichtet, werden die tschechischen Arbeiter im deutschen Gebiet bald zur Besinnung bringen. Dauernd wird keine Arbeiterschaft auf die Möglichkeit erfolgreicher Lohnkämpfe verzichten. Ein paar leistungsunfähige Ortsgruppen wird der Separatismus auch im deutschen Gebiet gewiss erhalten können; aber ihr Bestand wird die Opfer nicht wert sein, die sie kosten werden. Auf der anderen Seite wird es unseren Zentralverbänden im tschechischen Sprachgebiet Böhmens kaum viel besser ergehen. Nach einigen Jahren des Kampfes wird die territoriale Abgrenzung tatsächlich vollzogen sein. Nur in wenigen Gebieten – etwa im tschechischen Sprachgebiet in Mähren und im böhmischen Braunkohlenrevier – werden beide Organisationen nebeneinander bestehen. Dann erst werden wohl die objektiven und subjektiven Bedingungen für ein Kompromiss gegeben sein, das die tatsächlich bereits vollzogene Abgrenzung kodifizieren und über beiden Organisationen gemeinsame Institutionen aufbauen wird, wie es in den Verständigungskonferenzen vorgeschlagen wurde. Ein solches Kompromiss wird wahrscheinlich das endliche Ergebnis des Kampfes sein. Ehe aber beide Teile im Kampfe die Grenzen ihrer Kraft kennen gelernt haben, wird jedes Bemühen um ein solches oder ein anderes Kompromiss erfolglos bleiben.

Trotzdem halte ich es für nützlich, dass jeder einzelne Genosse die Erwägung, wie der uns aufgezwungene Kampf wohl enden wird, nicht scheut. Denn wir Marxisten fragen nicht, welche Entwicklung wir wünschen, sondern wohin uns, von unseren Wünschen und von denen unserer Gegner unabhängig, die objektiven Bedingungen des Kampfes treiben. Die Feststellung der Entwicklungstendenzen ist auch in dieser Frage unsere erste Pflicht, wenn wir den Kampf nicht in blinder Leidenschaft führen, sondern unsere Kraft auf ein erreichbares Ziel konzentrieren wollen. Darum habe ich die Frage nach der Möglichkeit einer territorialen Abgrenzung zur Diskussion gestellt. Der Parteitag freilich hat diese Frage nicht zu entscheiden. Denn die Partei muss sich hüten, in das Gebiet einzugreifen, über das die Gewerkschaften autonom zu entscheiden haben. Wenn erst die Bedingungen eines solchen Kompromisses gegeben sein werden, werden die Gewerkschaften selbst, von der Partei unbeeinflusst, den Weg zu ihm finden.

Der Parteitag hat eine andere Aufgabe zu lösen. Der Streit um die Gewerkschaften hat zur Spaltung der tschechischen Partei geführt. Der separatistischen „tschechoslawischen“ Partei steht die zentralistische „tschechische“ Partei gegenüber. Zu dieser Tatsache muss die politische Vertretung des deutschen Proletariats Stellung nehmen.

Die Diskussion, die über diese Frage geführt worden ist, hat gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Partei entschlossen ist, die zentralistische „Tschechische sozialdemokratische Arbeiterpartei“ als Bruderpartei anzuerkennen. Unsere tschechoslawischen Genossen sind darüber sehr böse. Aber auch sie werden bei ruhiger Ueberlegung einsehen müssen, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht den Treubruch begehen kann, die preiszugeben, die für unsere Ueberzeugung und für unsere Organisationen kämpfen, und dass es politischer Selbstmord wäre, wenn sich die deutsche Sozialdemokratie durch tschechische Drohungen hindern liesse, zu tun, was sie nicht nur als politische Notwendigkeit, sondern geradezu als moralische Pflicht erkennt.

Dieser Erkenntnis können sich auch im tschechoslawischen Lager die besonneneren Genossen nicht entziehen. „In der neuen Partei“, schreibt Genosse Dr. Meissner, „gibt es viele Genossen, welche viele Jahre in der sozialdemokratischen Bewegung mit der grössten Opferwilligkeit gearbeitet haben und im Dienste der Arbeiterklasse alt geworden sind; ich kann mir nicht vorstellen, dass wir von diesen Genossen für immer geschieden sind, mögen sie sich auch gegen das Organisationsstatut vergangen haben ... Ich gebe zu, dass es für die deutschen Genossen schwer ist, die früheren Mitglieder der tschechoslawischen Sozialdemokratie, die infolge ihrer zentralistischen Gesinnung zur Gründung einer neuen Partei geschritten sind, nicht als Sozialdemokraten anzuerkennen.“ [1] Freilich zieht Genosse Meissner aus dieser Erkenntnis den Schluss, wir mögen zwar die tschechischen Zentralisten als Genossen betrachten, aber ihre Organisation nicht als sozialdemokratische Partei anerkennen. Aber können wir den deutschen Organisationen in Brünn und in Ostrau verwehren, mit der Organisation der tschechischen Zentralisten bei Öffentlichen Wahlen und Demonstrationen gemeinsam vorzugehen, wie sie dies ja schon zu tun gewohnt sind? Und nichts anderes bedeutet doch die „Anerkennung“ der tschechischen Sozialdemokratie als dies, dass der Parteitag die Organe und die Organisationen der deutschen Partei ermächtigt, mit den tschechischen Zentralisten zu kooperieren!

Es ist übrigens kein seltener Fall, dass in einer Nation zwei oder mehr einander bekämpfende sozialdemokratische Organisationen bestehen. In England gab es bisher drei, in den Vereinigten Staaten, in Holland, in Russland, in Bulgarien gibt es zwei, in Polen drei sozialistische Parteien, die der Internationale angeschiossen sind. Die reichsdeutsche Sozialdemokratie steht in stetem Verkehr mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Niederlande. Aber das hindert sie nicht, auch die von einer Gruppe von Marxisten neugegründete Sozialdemokratische Partei Hollands anzuerkennen, obwohl diese Partei gewiss viel weniger Mitglieder zählt als die Partei der tschechischen Zentralisten. Und die alte holländische Arbeiterpartei hat die Anerkennung der neugegründeten sozialdemokratischen Partei keineswegs als feindliche Handlung betrachtet. Was den Holländern recht ist, wird wohl den Tschechen billig sein.

Viele unserer deutschen Genossen wollen freilich noch weiter gehen. Sie wollen nicht nur die zentralistische „Tschechische Sozialdemokratie“ anerkennen, sondern gleichzeitig auch alle Beziehungen zu der separatistischen „Tschechoslawischen Sozialdemokratie“ abbrechen. Sie sagen, die Tschechoslawen seien keine Sozialdemokraten mehr und wir müssten jede Verantwortung für ihr Treiben ablehnen, indem wir die wenigen Bande, die uns noch verknüpfen, zerreissen.

Sind die Tschechoslawen Sozialdemokraten? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie manche unserer Genossen meinen. Die soziale Entwicklung erzeugt ja so manche schwer definierbare Mischbildung. Die Masse der Mitglieder der tschechoslawischen Sozialdemokratie besteht gewiss aus klassenbewussten Arbeitern, aus echten Sozialdemokraten. Aber in ihre Partei, in die Köpfe ihrer Parteigenossen sind unter dem Drucke eigenartiger historischer Umstände starke nationalistische Strömungen eingedrungen. So pendelt die tschechoslawische Sozialdemokratie zwischen dem proletarischen Sozialismus und dem kleinbürgerlichen Nationalismus unsicher hin und her. Es ist daher begreiflich, dass viele deutsche Genossen erwarten, die tschechoslawische Sozialdemokratie werde sich immer weiter vom internationalen Sozialismus entfernen, immer mehr dem kleinbürgerlichen Nationalismus angleichen. Ich halte diese Prognose für falsch. Die Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung sprechen gegen sie. Wir wissen, dass das tschechische Sprachgebiet jetzt sehr schnell industrialisiert wird. Mit der Industrialisierung des tschechischen Sprachgebietes werden auch dort die Klassengegensätze verschärft. Dadurch werden zunächst Bündnisse zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Liberalen unmöglich: während in dem rückständigen Mähren die Vanek und Tusar noch dem schlauen Stransky ins Garn laufen, organisiert in Böhmen der Grossindustrielle Kramär bereits das bürgerliche Kartell gegen die Sozialdemokratie. Böhmens Gegenwart ist Mährens Zukunft. Zugleich schreitet die Verbürgerlichung der tschechischen nationalen Parteien schnell fort: die Nationalsozialen, die sich gestern noch „nationale Arbeiter“ genannt, verlegen ihre Tätigkeit vom Proletariat in das Kleinbürgertum. Anderseits wird das Werbegebiet der Sozialdemokratie auf das Proletariat beschränkt: je schroffer die Klassengegensätze werden, desto geringer die Aussicht für die Sozialdemokratie, bürgerliche Mitläufer zu gewinnen. Je mehr sich aber die Nationalsozialen auf das Kleinbürgertum, die Sozialdemokraten auf das Proletariat beschränken, desto schmäler wird die Reibungsfläche zwischen den beiden Parteien. Der Konkurrenzkampf zwischen Sozialdemokraten und Nationälsozialen hört allmählich auf. Damit verschwindet die stärkste Triebkraft, die die tschechoslawische Sozialdemokratie zum Nationalismuus getrieben hat. Sie hat nun weit mehr die Kritik der tschechischen Zentralisten zu fürchten. Diese Kritik drängt sie zur grundsätzlichen sozialdemokratischen Politik! [2] Darum glaube ich, dass innerhalb der tschechoslawischen Sozialdemokratie der internationale Sozialismus sich schliesslich als stärker erweisen wird als der kleinbürgerliche Nationalismus.

Ist das aber der Fall, dann werden wir immer wieder uns gezwungen sehen, mit den Tschechoslawen zu kooperieren. Die Pflicht, die Interessen des Proletariats zu vertreten, wird uns dazu zwingen. Sollen wir lieber einen grossen Streik verloren gehen lassen, ehe wir uns mit Separatisten an den Beratungstisch setzen, um die Streiktaktik zu vereinbaren? Sollen wir bei einer wichtigen parlamentarischen Aktion – zum Beispiel bei den Bemühungen unserer Abgeordneten im Sozialversicherungsausschuss – den Erfolg für die Arbeiterklasse in Gefahr bringen, um uns nur nicht mit Separatisten über das zweckmässigste Vorgehen verständigen zu müssen? Kann es uns bei einer grossen Aktion – zum Beispiel bei einem Massenstreik – gleichgültig sein, was in Prag und in Pilsen geschieht? Und wenn wir aufeinander angewiesen sind, ist es dann nicht besser, unsere Kraft durch die Gemeinsamkeit der Aktion zu stärken, statt sie durch planloses, ungeordnetes Nebeneinandergehen zu zersplittern? Es hiesse zweifellos das Proletariat schwer schädigen, wenn wir aus lauter Internationalität uns von der überwiegenden Mehrheit des tschechischen Proletariats völlig trennen wollten. Es mag sein, dass die Tschechoslawen selbst uns schliesslich zum Abbruch aller Beziehungen zwingen werden. Aber die praktische Notwendigkeit der internationalen Aktion wird sich bald als stärker erweisen als ein solcher von besinnungsloser Leidenschaft eingeflüsterter Beschluss. Der Innsbrucker Parteitag wird sich hoffentlich nicht bestimmen lassen, einen Beschluss zu fassen, dessen Durchführung an den unerbittlichen Notwendigkeiten des Klassenkampfes scheitern müsste.

Es gibt heute nur eine Lösung der schwierigen Frage: Wir müssen vor der ganzen Oefrentlichkeit feststellen, dass sich in die tschechoslawische Sozialdemokratie, die ihrem Ursprung, ihrer Zusammensetzung, ihrem Programm nach gewiss eine Partei klassenbewusster Arbeiter ist, nationalistische, unsozialistische Strömungen eingeschlichen haben. Wir müssen die Verantwortung für diese Strömungen ablehnen. Wir müssen beschliessen, dass wir fortan nach unserem eigenen Programm und nach den Beschlüssen unserer eigenen Parteitage selbständig handeln werden ohne jede Rücksicht auf die nationalistische Unterströmung in der tschechoslawischen Sozialdemokratie. Wir müssen uns aber zugleich auch bereit erklären, mit der tschechoslawischen Sozialdemokratie als der Vertreterin der Mehrheit des klassenbewussten tschechischen Proletariats zu kooperieren, wo immer Uebereinstimmung der Ansichten besteht und wo das Interesse des Proletariats dies erfordert.

Durch eine solche Regelung unseres Verhältnisses zu den beiden Parteien des tschechischen Proletariats werden freilich auch die alten Formen der Gesamtpartei zerstört. Es gilt also, auch unsere Beziehungen zu den italienischen und den südslawischen, den polnischen und den ruthenischen Genossen auf neuer Grundlage zu regeln.

Die internationale Sozialdemokratie strebt in allen Kulturländern der Erde demselben Ziele zu. Trotzdem ist der Sozialismus innerhalb jeder Nation durch die besonderen historischen, ökonomischen und politischen Bedingungen seiner Aktion bestimmt. Trotz der Uebereinstimmung in den gemeinsamen Grundsätzen ist der deutsche Sozialismus vom französischen, der englische vom italienischen verschieden. Nicht anders ist es auch in Oesterreich. Auch hier ist der Sozialismus national differenziert.

Am nächsten stehen uns unsere italienischen Genossen. Sie haben die nationalistischen Bestrebungen Pagninis, die syndikalistischen Tendenzen Barnis schnell und energisch überwunden. Inbesondere unsere Triestiner Genossen stehen uns so nahe, als wären sie deutsche Sozialdemokraten wie wir. Lockerer sind unsere Beziehungen zu den polnischen, den ruthenischen, den südslawischen Sozialdemokraten. Sie wirken in Agrarländern ohne entwickelte Industrie. Ihnen fehlt die feste Stütze eines zahlreichen industriellen Proletariats. Kleingewerbliche Arbeiter, Eisenbahner und andere Kategorien von Unterbeamten und Staatsdienern, zahlreiche Intellektuelle bilden die Masse ihrer Parteimitgliedschaft. Da ihrer Politik nicht die Klasseninteressen eines zahlreichen Proletariats feste Richtung weisen, ist sie durch starke ideologische Einflüsse bestimmt. Unsere polnischen Genossen stehen unter dem Einfluss der heftigen Kämpfe, die innerhalb des Sozialismus in Russisch-Polen um die Frage der Unabhängigkeit Polens geführt werden. In der Ideologie unserer ruthenischen Genossen spielt die Frage, ob die Ukrainer Russlands im grossrussischen Volkskörper aufgehen oder sich von ihm als besondere Nation absondern werden, eine bestimmende Rolle. Unsere südslawischen Genossen beschäftigt das geschichtliche Problem, ob die südslawische Volksmasse zwischen den Karnischen Alpen und dem Schwarzen Meer, die vier Schriftsprachen, drei Konfessionen, sieben Staaten spalten, zu sprachlicher, nationaler, staatlicher Einheit sich durchzuringen vermag. So ist die Ideologie jedes nationalen Zweiges unserer Internationale durch andere Probleme beeinflusst, zu denen wir deutschen Sozialdemokraten kein enges Verhältnis haben können. Es ist daher eine Utopie, zu hoffen, die polnische, die ruthenifiche, die südslawische Sozialdemokratie könnte der österreichischen Gesamtpartei jemals in derselben Weise ein- und untergeordnet werden, wie die bayrische, die preussische, die sächsische Mitgliedschaft der Deutschen Sozialdemokratie eingeordnet ist. Die österreichische Gesamtpartei muss sich damit bescheiden, gemeinsam zu ordnen, was in der Tat gemeinsam ist: den Kampf um die unmittelbaren wirtschaftlichen und politischen Klasseninteressen des Proletariats.

Die neue Regelung muss durch einen Gesamtparteitag erfolgen. Aber ein solcher Gesamtparteitag wird seine Aufgabe erst dann erfüllen können, wenn nicht nur unser Verhältnis, sondern auch das Verhältnis der anderen nationalen Glieder der österreichischen Gesamtpartei zur tschechoslawischen Sozialdemokratie geklärt sein wird; also erst dann, wenn es möglich sein wird, entweder die tschechoslawische Sozialdemokratie unserer Internationale wieder einzugliedern, oder wenn es offenbar sein wird, dass ohne die tschechoslawische Partei eine neue Gesamtpartei konstituiert werden muss. Zu solcher Entscheidung fehlen heute selbst bei uns, in noch höherem Grade aber bei den italienischen und den polnischen, den ukrainischen und den südslawischen Genossen alle Vorbedingungen. Heute könnte ein Gesamtparteitag nur den Zerfall der alten Formen internationaler Verknüpfung deklarieren, ohne neue Formen an ihre Stelle zu setzen. Der Innsbrucker Parteitag kann also die Parteivertretung nicht verpflichten, sofort einen Gesamtparteitag einzuberufen. Er muss ihr aber die Pflicht auferlegen, zur Einberufung eines Gesamtparteitages die Anregung zu geben, sobald die objektiven und subj ektiven Bedingungen zur Neugestaltung der Gesamtpartei gegeben sein werden. Solange dies nicht der Fall, müssen wir deutschen Sozialdemokraten eben unseren eigenen Weg gehen – im engsten Einvernehmen mit allen Sozialdemokraten des Reiches, wo dies möglich ist; selbständig, ohne Kompromisse, der eigenen Kraft und eigenen Einsicht vertrauend, wo Uebereinstimmung der Ansichten nicht besteht.

So wird der Innsbrucker Parteitag freilich nicht das letzte Wort über die Streitfrage sprechen, sie nicht restlos bereinigen können. Aber wenn er uns nur für die nächste Zeit den rechten Weg weisen kann, wird er seine Aufgabe erfüllt haben! Denn die letzte Entscheidung wird nicht die Weisheit eines Parteitages fällen, sondern die der Entwicklung innewohnende Logik selbst. Mit eherner Notwendigkeit führt der Kapitalismus selbst das Proletariat zur Macht. Seine Entwicklung wird auch in unserem Lande die Hemmnisse aus dem Wege räumen, die sich heute dem Aufstieg der Arbeiterklasse entgegenstellen.

Wir stehen an der Schwelle einer neuen Geschichtsepoche. Zu gewaltigen Kämpfen ruft uns der Tag. In solcher Zeit dürfen wir nicht die Kraft der Arbeiterklasse zersplittern. Wenn wir schon getrennt marschieren müssen, wollen wir uns doch die Möglichkeit erhalten, vereint zu schlagen.

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Anmerkungen

1. Dr. Alfred Meissner, Příměří, Akademie XV. Jahrgang, 12. Heft.

2. Schon nach den Reichsratswahlen hat Modráček das mährische Wahlbündnis mit dem Argument bekämpft, es gebe den Zentralisten starke Waffen gegen seine Partei in die Hand.

 


Leztztes Update: 18. Dezember 2023