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Der Kampf, Jg. 4 12. Heft, 1. September 1911, S. 556–564.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Karl Kautsky stellt uns die Frage, warum die österreichische Sozialdemokratie auf ihre Gesamtparteitage verzichtet habe. Die Frage greift an den Wesenskern des Problems, um dessen Lösung wir seit Jahren ringen: daran, ob noch in Oesterreich eine sozialdemokratische Gesamtpartei lebt. Denn wenn die Sozialdemokraten der acht Nationen Oesterreichs wirklich noch eine Partei bilden, dann freilich kann keine Streitfrage unter ihnen anders entschieden werden als nach dem Willen der Mehrheit der Parteigenossen durch den Beschluss der Mehrheit des Gesamtparteitages. Und jeder einzelne und jede Gruppe innerhalb der Gesamtpartei müssen sich dem fügen, was der Gesamtparteitag beschliesst. Gilt dies für uns nicht mehr, ist es nicht mehr möglich, jede Frage des Parteilebens durch den Mehrheitsbeschluss des Gesamtparteitages zu entscheiden, dann haben wir in der Tat keine Gesamtpartei mehr. Darin liegt die Bedeutung der Frage, die Kautsky uns stellt. Indem er die Einberufung eines Gesamtparteitages fordert, verlangt er die Wiederherstellung einer Gesamtpartei, innerhalb derer jede Minderheit sich dem Willen der Mehrheit beugen muss. Dass gerade Kautsky, der Hüter des Marxschen Erbes, uns zur Wiederherstellung der Gesamtpartei mahnt, ist gewiss kein Zufall. Die Unterordnung der nationalen Arbeitergruppen unter die internationale Gemeinschaft, die Einheitlichkeit und die Zentralisierung der internationalen Organisation waren stets und sind heute noch überall leitende Grundsätze Marxscher Politik.
Wie ist nun Kautskys Frage zu beantworten? Das Statut unserer Gesamtpartei, das im Jahre 1897 beschlossen wurde, ordnet an, dass der Gesamtparteitag in jedem zweiten Jahre einberufen werden solle. Seit dem Jahre 1905 ist jedoch die Einberufung nicht mehr erfolgt. Die Parteiverfassung ist also seit 1905 gebrochen worden. Eine Staatsverfassung wird gesprengt, wenn sie den tatsächlichen Machtverhältnissen in der Gesellschaft nicht mehr entspricht. So weist auch der Bruch der Parteiverfassung auf Verschiebungen in unserer Gesellschaft, in den Beziehungen der verschiedenen Teile des Proletariats zueinander hin. Wollen wir Kautskys Frage recht beantworten, müssen wir untersuchen, welche Veränderungen im Leben des Proletariats die Partei Verfassung unterhöhlt, der Gesamtpartei ihre Grundlagen entzogen, die Entscheidung unserer Streitfragen durch Mehrheitsbeschlüsse eines Gesamtparteitages unmöglich gemacht haben. Nur die Veränderungen in den Beziehungen der einzelnen Teile des Proletariats zueinander lassen uns den Bruch der alten Parteiverfassung verstehen.
Am anschaulichsten können wir die Veränderung der Beziehungen zwischen deutschen und tschechischen Arbeitern – sie vor allem kommen hier in Frage – wohl in den vielen Fabriksdörfern der deutschen Sudetenländer beobachten. Durch anmutige bewaldete Täler führt uns die Eisenbahn in ein solches Dorf. An seinem Eingang steht das vielstöckige alte Fabriksgebäude: wie einst die Burg des Feudalherrn, beherrscht heute die Feste des Kapitalisten das Dorf. In den hübschen sauberen Häuschen wohnen die Arbeiter. Ihre Grossväter haben demselben Kapitalisten noch als Hausweber gedient, ihre Väter schon sind in dieselbe Fabrik gegangen und ihre Kinder werden bald an demselben Webstuhl stehen, den sie heute bedienen. Der Besitz des Häuschens bindet sie an die Scholle. Deutsche Arbeiter sind es. Wohl ist der Vater oder der Grossvater so manches unter ihnen „aus dem Tschechischen“ eingewandert. Aber die Einwanderer, die vereinzelt mitten unter den deutschen Arbeitskollegen sich angesiedelt, haben willig und ohne Mühe deutsche Sprache und Art angenommen. So war es vor kurzem noch. Dann aber wurde unweit vom Dorfe ein Braunkohlenschacht erschlossen. Hunderte tschechischer Arbeiter hat die Kohlenwerksgesellschaft ins Land gerufen. Sie siedeln in den Werkswohnungen und haben dort ihre eigene Welt, abseits der kleinen deutschen Gemeinde. Ein Völkchen ist es, das stets in Bewegung: die heute gekommen, ziehen morgen weiter, auf anderer Erde ihr Glück zu suchen. Diese Einwanderer werden nicht Deutsche; und selbst ihre Kinder, die doch die deutsche Schule besuchen, beherrschen nur dürftig unsere Sprache, denn im Elternhaus und auf dem Spielplatz hören sie nur die vertrauten Laute ihrer Muttersprache. So entsteht mitten zwischen deutschen Dörfern eine tschechische Arbeitergemeinde. Da gibt es bald eigene Vereine, Versammlungen, Zeitungen. Da führen die tschechischen Parteien im Innern des kleinen tschechischen Gemeinwesens ihre politischen Kriege. Ein Leben also mit ganz anderem Inhalt als das der deutschen Nachbarn!
Der tschechische Arbeiter, der da auf deutschem Boden arbeitet, ist dem Deutschtum nicht hold. Der Fabrikant und der Bergwerksbesitzer, die ihn ausbeuten, der Betriebsbeamte und der Werkmeister, die ihn antreiben, der Hausbesitzer und der Kaufmann, die ihm Wohnung und Lebensmittel verteuern, der Bezirkshauptmann und der Richter, der Bürgermeister und der Gendarm, die die feindliche Macht des Klassenstaates ihm gegenüber vertreten – sie alle sind Deutsche. Was Wunder, dass der tschechische Arbeiter das Deutschtum nicht liebt! Darum nimmt er an den nationalen Kämpfen seiner Nation gern teil. Ist doch der nationale Kampf zugleich ein Kampf gegen seinen sozialen Feind! Aber selbst dem deutschen Arbeiter steht er nicht ohne Misstrauen gegenüber: gehört doch auch der deutsche Arbeiter der Nation an, die dem tschechischen Proletarier als das Volk der Bedrücker erscheint, ist doch der deutsche Arbeiter mit den Besitzenden der kleinen Gemeinde, mit den Hausbesitzern und Krämern, durch manche Bande der Verwandtschaft und Schwägerschaft und Nachbarschaft verknüpft, während der tschechische Zuwanderer ihnen ganz fremd gegenübersteht, voll der zwiefachen Feindseligkeit, die das Zusammenfallen sozialer und nationaler Gegensätze erzeugt.
Aber auch dem deutschen Arbeiter dünkt es nicht recht geheuer, wenn er das Anwachsen der tschechischen Arbeitergemeinde sieht. Die ganze Art der tschechischen Arbeiter mutet ihn fremd an. Denn das Wesen des robusten tschechischen Proletariers, den heute eine Welle der Konjunktur aus einem Hungerbezirke Böhmens in das deutsche Gebirgsdorf wirft, um ihn schon morgen wieder nach Westfalen oder nach Lothringen weiterzutragen, ist sehr verschieden von der Art der deutschen Arbeiter in den weltfernen kleinen Dörfern des Gebirges, von diesem schlichten Volke der Träumer und Sinnierer, denen der Sozialismus in der stillen Enge ihres Daseins nicht eine tönende Kampfparole, aber ein tief-innerlich erfasster Glaube geworden ist. An proletarischem Trotz und proletarischer Kühnheit übertrifft der wandernde Tscheche den sesshaften Deutschen. Im Kampfe gegen den gemeinsamen Feind ist er darum ein prächtiger Kamerad. Aber im Rate erscheint er dem Deutschen nicht selten unwissend, unbesonnen, zügellos. Sie können einander schwer begreifen. Und welche Sorgen der fremde Kampfgenosse hat! Der Deutsche denkt an die grosse Verheissung des Sozialismus, der die Menschheit befreien werde; der Tscheche unterbricht ihn mit den nationalen Losungen: Minderheitsschule, Amtssprache, Bahntafeln! Der Deutsche, der es nicht erfahren hat, in fremdem Lande arbeiten zu müssen, kann den Genossen nicht verstehen, der ihm damit kommt. Und wenn der Deutsche sieht, wie mehr und mehr dieser fremdartigen Menschen in sein Tal kommen, sich hier ansiedeln, den ganzen Ort jahraus, jahrein mit ihren nationalen Forderungen beschäftigen, dann wird ihm bange um seine Heimat. Soll das schöne Stückchen Land hier, in dem seine Eltern begraben liegen und auf dem die Wiege seiner Kinder steht, dies Land, das seit Jahrhunderten deutsch war, von den so ganz anders gearteten Menschen gänzlich erobert werden?
So sind im Denken, im Fühlen tschechische und deutsche Arbeiter verschiedener Art. Wohl sind es Arbeiter hier und drüben. Wohl ist das Ziel ihres Kampfes dasselbe. Aber im einzelnen ist doch das soziale Sein und darum auch das Bewusstsein der einen anders geartet als das der anderen. Im kleinen deutschböhmischen Gebirgsdorf, wo der bodenständige deutsche Weber neben dem fluktuierenden tschechischen Kohlengräber sitzt, tritt die Verschiedenheit ihres Wesens anschaulich hervor. Aber im ganzen Reich ist’s nicht anders. Die soziale Struktur, die Verteilung der Arbeiterschaft auf die Berufsklassen, auf Stadt und Land, auf Grossstadt und Kleinstadt, auf gelernte und ungelernte Arbeit, die Verbreitung der Schulbildung, die politische Ueberlieferung, die ganze Parteiengruppierung – all das ist bei den Tschechen anders als bei uns. Darum ist auch die ganze Art der tschechischen Arbeiterschaft, ihre Art zu fühlen und zu denken und ihre Kämpfe zu führen, von der unseren in mancher Hinsicht verschieden. Diese Gegensätze blieben verdeckt, solange die tschechische Sozialdemokratie eine kleine Sekte war, deren Bekenner, vom heiligen Glauben an die grosse Sache erfüllt, sich von der Masse der tschechischen Proletarier scharf abhoben. Aber die Massen, die die tschechische Sozialdemokratie um ihr Banner scharte, sind breiter geworden. Im Sturm gewonnen, waren diese Massen in sozialistischer Ueberzeugung wenig gefestigt; alle Vorurteile ihrer Umgebung brachten sie in die Partei. Je grösser die Partei, je vielfältiger ihre Tätigkeit wurde, desto deutlicher trat die Verschiedenheit des tschechischen Proletariers vom deutschen hervor.
Freilich, solche Verschiedenheiten gibt es auch innerhalb einer Nation. Der Wiener ist vom Berliner, der Schwabe vom Sachsen, der deutsche Arbeiter an der Waterkant von dem am steirischen Erzberg nach Sein und Bewusstsein deutlich geschieden. Aber die Gemeinschaft der Sprache schlägt eine Brücke zwischen ihnen allen. Denn so verschieden ihr tägliches Sein auch sein mag, dasselbe Buch, dieselbe Zeitung, dieselbe Ueberlieferung, dasselbe politische Schlagwort wirken doch auf sie alle, schlingen um sie alle ein Band. So baut sich über alle landschaftlichen Verschiedenheiten die Nation ein einig Dach. Jede Landschaft führt nicht nur ihr eigenes Leben; sie führt zugleich das Leben der Nation mit. So werden die landschaftlichen Verschiedenheiten überdeckt. Anders, wo die Verschiedenheit der Sprache dem Austausch der Erfahrungen, der Einflüsse, der Gedanken hemmend im Wege steht. Der tschechische Arbeiter kann die deutsche, der deutsche Arbeiter die tschechische Zeitung nicht lesen. Der deutsche Politiker kann zur tschechischen Volksmasse, der Tscheche zur deutschen nicht sprechen. Die politischen Kämpfe der tschechischen Parteien sagen uns, die der deutschen Parteien den tschechischen Arbeitern nichts. So wird die Eingliederung der Verschiedenen in ein grösseres Ganzes erschwert. Während unsere Zeit die landschaftlichen Sonderarten immer mehr abschleift, hat sie die nationalen Sonderarten nicht verwischt. Darum kann der Zusammenhalt der Arbeiter verschiedener Nationalität in einer internationalen Partei kaum jemals so enge sein wie der der Arbeiter verschiedener Landschaften in einer nationalen Partei. Dass die Badenser sich der preussischen Mehrheit eines reichsdeutschen Parteitages unterwerfen müssen, ist selbstverständlich; dass die Tschechen sich der deutschen Mehrheit eines österreichischen Gesamtparteitages fügen, ist es leider nicht.
Sind nationale Gegensätze innerhalb des Proletariats an sich schwerer zu überwinden als landschaftliche, so wird die Schwierigkeit hier noch gesteigert durch den eigenartigen Entwicklungsgang der tschechischen Nation. Die tschechische Nation lebte vor einem Jahrhundert unter deutscher Fremdherrschaft. Der deutsche Beamte regierte die tschechische Bevölkerung, der deutsche Grundherr, der deutsche Fabrikant, der deutsche Kaufmann beuteten den tschechischen Kleinbürger, Bauern, Arbeiter aus. Heute ist es ja anders geworden: die tschechische Nation ist auch in den Herrenklassen schon stark vertreten. Aber viele Jahrzehnte lang füllte der Kampf gegen die soziale und nationale Herrschaft der deutschen Herrenklassen jedes Blatt in der Geschichte der Nation. Schritt für Schritt hat das tschechische Volk im harten Ringen gegen die deutsche Herrschaft Boden gewonnen. Dem tschechischen Volke die volle Freiheit von deutscher Macht zu erringen – das war das Ziel, das ein Jahrhundert harter Kämpfe zum Bewusstseinsinhalt des letzten tschechischen Bürgers und Bauern gemacht hat. Dieser Gedanke erfüllte auch die Arbeitermassen. Seiner voll, kamen sie in die sozialdemokratische Organisation. Aber auch hier fanden sie – deutsche Führung. Denn die Mehrheit der organisierten Sozialdemokraten in Oesterreich waren stets und sind auch heute noch Deutsche und über ihre Zahl hinaus stärkt ihre führende Stellung in der Gesamtpartei die Tatsache, dass die deutschen Sozialdemokraten den Klassenkampf im Mittelpunkte des Reiches und in dem grössten Industriegebiete des Reiches – in Wien und in Deutschböhmen – führen und dass ihre Sprache die einzige Weltsprache unter den Sprachen Oesterreichs, dass sie die Muttersprache des wissenschaftlichen Sozialismus und die Sprache der führenden Partei der ganzen Internationale, die Sprache Marxens und Engels’ und die Sprache der Deutschen Sozialdemokratie ist. Der tschechische Arbeiter sah, wie seine Nation sich in hartem Kampfe allmählich von dem Drucke deutscher Bureaukraten, deutscher Grundherren, deutscher Kapitalisten befreite. Aber auch in seiner Partei sah er Deutsche an führender Stelle. Er übertrug nun den nationalen Befreiungsgedanken auch in das Gebiet der Partei. Auch hier muss, so dachte er, der Tscheche von deutscher Führung befreit werden. Die tschechischen Arbeiter schlossen sich zunächst innerhalb der Gesamtpartei zu eigenen Organisationen zusammen. Sie erkämpften allmählich diesen Organisationen einen wachsenden Umkreis selbständiger Entscheidung. Sie gewöhnten sich schliesslich allmählich daran, die tschecnoslawische Sozialdemokratie als eine vollkommen selbständige, vollkommen souveräne Partei anzusehen, die nur nach der Entscheidung ihrer eigenen Körperschaften geleitet werden könne. Jede Begrenzung ihrer vollkommenen Selbständigkeit durch eine Gesamtpartei bedeute die Unterwerfung der tschechischen Arbeiter unter deutsches Kommando. Das würden, so meint man, die tschechischen Arbeiter nie ertragen. „Wir Tschechen haben die deutsche Herrschaft im Staate, im Lande, in der Gemeinde allmählich gebrochen; wir werden sie nicht in der Partei ertragen“ – das war und ist heute noch die Parole, die der Forderung nach der Unterordnung der tschechoslawischen Sozialdemokratie unter die Entscheidungen der Gesamtpartei entgegengesetzt wird.
Dieser Gedankengang hat im tschechischen Lager allmählich die Kraft eines überlieferten Vorurteils, den Anschein der Selbstverständlichkeit bekommen. Unsere tschechischen Genossen meinen wirklich, jeder, der die tschechoslawische Partei nicht für vollkommen souverän hält, der sie an die Pflicht, Entscheidungen der österreichischen Internationale Gehorsam zu leisten, erinnert, sei eben von deutscher Herrschsucht erfüllt, die die tschechischen Arbeiter unter dem „Kommando Wiens“ erhalten wolle. Unsere tschechischen Genossen wissen wohl gar nicht mehr, dass sie den Grundgedanken der Internationalität leugnen, wenn sie erklären, die Arbeiterschaft jeder Nation müsse von fremdem Einfluss vollständig frei, sie müsse vollständig souverän sein. Als ob es nicht geradezu der Inhalt der Internationalität wäre, dass eben keine Nation souverän ist, dass jede Nation sich dem internationalen Ganzen unterzuordnen hat! Ganz naiv, als ob das wirklich selbstverständlich und gerade im Munde internationaler Sozialdemokraten selbstverständlich wäre, wird uns in der tschechoslawischen Parteipresse immer wieder auseinandergesetzt, die tschechische Arbeiterschaft könne sich und werde sich keinem Beschlüsse der Mehrheit der Gesamtpartei fügen, weil die Mehrheit eben – deutsch sei. Die Gesamtpartei sei ein Instrument deutscher Fremdherrschaft über die Tschechen, der Kampf der tschechischen Arbeiterschaft gegen die Fesseln, in die die Gesamtpartei sie geschlagen, sei ein Teil des Befreiungskampfes der tschechischen Nation gegen die Herrschgelüste der Deutschen. Und diese Gedanken spuken nicht etwa bloss in den Köpfen der paar leidenschaftlich erbitterten Menschen, die heute in den Spalten der tschechoslawischen Parteipresse eine Polemik gegen uns führen, die mit dem internationalen Sozialismus nichts mehr gemein hat. Diese Gedanken leben vielmehr zweifellos wirklich in den Herzen und Hirnen der grossen Mehrheit des tschechischen Proletariats!
Die politische Entwicklung Oesterreichs in den letzten Jahrzehnten hat diesen Entwicklungsgang beschleunigt. Vor allem die Gewöhnung an die nationale Obstruktion hat nach dieser Richtung gewirkt. Der selbstverständliche Grundsatz der Demokratie, dass die Minderheit sich dem Willen der Mehrheit unterzuordnen habe, wurde ja in unserem ganzen öffentlichen Leben durchbrochen. Im Reichsparlament und in den Landtagen tobt immer wieder die Obstruktion. Denn die Minderheiten, die hier immer wieder gegen das Mehrheitsprinzip rebellieren, sind eben nicht blosse Parteien ; sie sind Vertretungen der Nationen oder halten sich wenigstens dafür. Darum unterwerfen sie sich der Entscheidung der Mehrheit nicht. Denn von den Parteien, die innerhalb einer Nation einander befehden, kann die, die heute Minderheit ist, stets hoffen, morgen Mehrheit zu werden. Sie wird sich heute dem Mehrheitsprinzip in der Hoffnung beugen, morgen sich selbst als Mehrheit seiner zu freuen. Anders, wenn die Minderheit nicht eine Vereinigung Gleichgesinnter innerhalb einer Nation, sondern eine ganze Nation ist, die gegen einen Bund anderer Nationen zu Felde zieht. Die Nation fügt sich dem Mehrheitsprinzip nicht; denn als Minderheit durch die Zahl ihrer Volksgenossen hat sie keine Hoffnung, jemals selbst Nutzniesserin des Mehrheitsprinzips werden zu können. Sie rebelliert gegen das Mehrheitsprinzip: das bedeutet ihre Obstruktion. Die Rebellion gegen das Mehrheitsprinzip haben wir, wenn auch in anderer Form, auch in unseren Reihen. Auch hier aus demselben Grunde. Die Revisionisten in Preussen, die Radikalen in Baden, fügen sich der Mehrheit; denn sind sie heute auch Minderheit, so hoffen sie doch, morgen Mehrheit zu werden. Die Tschechen in der österreichischen Gesamtpartei fügen sich der Mehrheit nicht; denn da die tschechischen Arbeiter niemals die Mehrheit der österreichischen Arbeiter bilden werden, wird die tschecho-slawische Sozialdemokratie nie über die Mehrheit innerhalb der Gesamtpartei verfügen. So rebelliert die tschechoslawische Sozialdemokratie gegen das Mehrheitsprinzip: sie fügt sich in Fragen, die ihr als Lebensfragen gelten, der Entscheidung der Mehrheit nicht. Dadurch aber wird die Gesamtpartei selbst aufgehoben. Der Staat bleibt bestehen trotz der nationalen Obstruktion im Parlament; denn sein Dasein ruht nicht auf dem Parlament, sondern auf der Verwaltung und der bewaffneten Macht. Die Partei aber hält keine bureaukratisch-militärische Zwangsorganisation, sondern nur die freiwillige Disziplin der Genossen zusammen. Wenn ein Glied der Gesamtpartei der Entscheidung ihrer Mehrheit den Gehorsam verweigert, dann besteht die Gesamtpartei nicht mehr.
Und unter solchen Umständen nun stelle man sich einen Gesamtparteitag vor! Soll er nicht ein blosses Schauspiel sein, so muss er durch Mehrheitsbeschluss die wichtigste Parteifrage entscheiden. Es wird ihm also wohl der Antrag vorgelegt werden, jeder Genosse sei verpflichtet, innerhalb seiner Gewerkschaft für die internationale zentralistische Organisationsform zu wirken. Dieser Antrag wird natürlich angenommen werden. Aber die Mehrheit, die den Beschluss fassen wird, wird natürlich – deutsch sein. Also wird der Beschluss ganz unwirksam bleiben: denn dass eine Mehrheit, die aus Deutschen besteht, die Tschechen überhaupt durch ihre Beschlüsse binden will, gilt ihnen ja als ein Erzeugnis deutscher Anmassung, deutscher Herrschsucht, gegen das sich jeder ehrliebende Tscheche empören müsse. Nun wird die Gesamtpartei natürlich erklären müssen, dass jeder, der dem Beschluss des Gesamtparteitages den Gehorsam verweigert, sich damit aus der Partei ausschliesse. So muss jeder Gesamtparteitag ganz unvermeidlich mit dem Ausscheiden der tschechoslawischen Soziald emokratie aus der Gesamtpartei enden. Und die Trennung der tschechoslawischen Partei von der deutschen bedeutet nicht viel weniger als die Auflösung der Gesamtpartei überhaupt. Denn die tschechischen Zentralisten, die Polen und die Ruthenen, die Italiener und die Südslawen stehen an organisatorischer Kraft hinter der tschechoslawischen Partei weit zurück. Lebendige Verkörperung kann die Internationale in Oesterreich immer nur im Bunde der Deutschen mit den Tschechen finden. Wird er gesprengt, die Masse des tschechischen Proletariats von uns geschieden, dann gibt es in Oesterreich keine lebendige Internationale mehr. Man versteht also, warum die Gesamtexekutive seit 1905 gezögert hat, den Gesamtparteitag einzuberufen. Sie wagte nicht zu tun, was unvermeidlich zur förmlichen Auflösung der österreichischen Internationale führen müsste.
Man könnte nun freilich fragen, ob nicht das tschechische Proletariat vor dem letzten Schritt, vor der Auflösung der Internationale doch zurückschrecken, ob es der Entscheidung des Gesamtparteitages nicht doch Gehorsam leisten werde. Aber nach der Erfahrung des letzten Jahres kann die Antwort auf diese Frage leider nicht mehr zweifelhaft sein. Die Gewerkschaftskommission hat die Organisationsfrage dem Internationalen Sozialistenkongress vorgelegt. In Kopenhagen hat nicht eine deutsche, sondern wirklich eine internationale Mehrheit gegen den Separatismus entschieden. Und doch ist diese Entscheidung fast ohne Einfluss auf die tschechischen Arbeiter geblieben; ja fast könnte man zweifeln, ob der trotzige Widerstand, den das Kopenhagener Urteil ausgelöst hat, der Sache des Separatismus nicht geradezu genützt habe. Die ganze Geschichte der tschechischen Nation hat die Irrlehre der vollen nationalen Souveränität in die Köpfe der tschechischen Arbeiter mit solcher Kraft hineingehämmert, dass der Schiedsspruch des Weltparlaments der Arbeiterklasse, der Rat und die Mahnung der ältesten, bewährtesten Vertrauensmänner der Proletarier aller Länder ungehört verhallten. Wenn selbst das Wort der Internationale wirkungslos blieb, wie wirkungslos bliebe erst das Urteil eines österreichischen Gesamtparteitages, dessen Mehrheit doch keine internationale, sondern eine in der Hauptsache deutsche Mehrheit wäre – wenn auch durch die Unterstützung der kleineren slawischen und romanischen Gruppen gestärkt – eine Mehrheit also, der sich zu fügen den tschechischen Genossen weit schwerer fiele 1 Ist doch selbst gegen das Votum der Internationale der Einwand gemacht worden, dass auch sie das Vertrauen der Tschechen nicht verdiene, weil sie von Deutschen geführt sei. „Es waren die Deutschen aus dem Reiche und aus der Schweiz, die aus nationaler Solidarität mit den Deutschösterreichern den Kopenhagener Beschluss zustande gebracht haben“, erzählt Genosse Nemec immer wieder den tschechischen Arbeitern. Und wenn ein Beschluss von Deutschen herbeigeführt ist, kann er die Tschechen nicht binden – das erscheint den tschechischen Sozialdemokraten ganz selbstverständlich. Unter solchen Umständen wäre es töricht zu erwarten, dass die tschechischen Genossen sich dem Beschluss eines Gesamtparteitages fügen würden. Da aber ein Gesamtparteitag die Missachtung seiner Beschlüsse nicht dulden kann, wenn er nicht zu einer armseligen Schaustellung hinabsinken will, kann die Einberufung eines Gesamtparteitages nichts anderes bedeuten als den ersten Schritt zur Ausschliessung der überwiegenden Mehrheit der tschechischen Sozialdemokraten aus der österreichischen Gesamtpartei und in der Folge vielleicht auch aus der Internationale.
Ich glaube nicht, dass wir einen solchen Schritt leichten Herzens wagen können. Denn die Verschärfung der Gegensätze, die Aufpeitschung der Leidenschaften, die die Auflösung der letzten Reste internationaler Kampfgemeinschaft zur Folge haben müsste, würden die gefährlichsten Wirkungen herbeiführen. Man stelle sich doch den Kampf in einem deutschböhmischen Fabriksdorf vor! Wer sind die Zentralisten? Alle deutschen Arbeiter! Wer die Separatisten? In vielen Orten Deutschböhmens, auch in einigen Orten Mährens, ausnahmslos oder fast ausnahmslos alle Tschechen! Der Kampf, der als Auseinandersetzung um die Organisationsform anhebt, wird so, wie immer wir ihn nennen und auslegen mögen, zum nationalen Kampfe. Und das in einer Umgebung die, wie wir eingangs gezeigt haben, von Keimen des Nationalismus erfüllt ist! Ist der Zankapfel erst unter die Arbeiter geworfen, dann bleibt es nicht bei dem Kampf um die Organisationsform. Deutsche und tschechische Arbeiter stehen einander bald in wilder Feindschaft gegenüber, hüben und drüben wird das Fühlen und Denken vom nationalen Hass verseucht, der Nationalismus hält seinen Einzug unter die Arbeiterschaft. Geht die Entwicklung diesen Gang, dann werden Tausende der Internationale verloren gehen, Zehntausende die Fähigkeit, den Klassenkampf in internationaler Gemeinschaft zu führen, für viele Jahre verlieren. Ich halte es für möglich, dass das geschehen wird, dass keine Bemühung die Entwicklung zu hindern vermag, diesen Weg einzuschlagen. Aber was an uns liegt, müssen wir tun, diese Gefahr zu bekämpfen, die Entwicklung in andere Bahnen zu drängen. Darum riet ich nicht zu einem Gesamtparteitag, der nur die Trennung zu vollziehen vermöchte, sondern zu einem gewerkschaftlichen Ausgleich, der die Wiedervereinigung vorbereiten soll. Wenn wir nach Kautskys Rat heute den Gesamtparteitag einberufen, dann bekommen wir den liquidierenden Gesamtparteitag, der die Auflösung der Gesamtpartei deklariert. Ich wünsche den konstituierenden Gesamtparteitag, der auf der Basis eines gewerkschaftlichen Ausgleiches die Gesamtpartei wiederherstellt.
Der gewerkschaftliche Ausgleich! In der Parteipresse ist gegen meinen Vorschlag, einen Ausgleich auf der Grundlage der territorialen Abgrenzung zu suchen, sehr viel eingewendet worden. Aber ich bedarf wahrhaftig nicht der Belehrung darüber, dass der straffste Zentralismus die zweckmässigste Form der gewerkschaftlichen Organisation ist. Nur ist die Wiederherstellung der vollen internationalen Einheit der gewerkschaft-liehen Organisation nun einmal heute und für Jahre nicht zu erreichen. Das ist die Tatsache, die die Ereignisse des letzten Jahres uns gelehrt haben. Es gilt nun, aus dieser Tatsache den rechten Schluss zu ziehen.
Es können zwei Formen des Separatismus gedacht werden: der eine beschränkt sich auf das tschechische Sprachgebiet; der andere will die tschechischen Arbeiter, wo immer sie wohnen, also auch die Tschechen im deutschen und im polnischen Gebiete, erfassen. Ich will jenen den territorialen, diesen den nationalen Separatismus nennen. Ich bin gewiss ein Gegner beider Arten des Separatismus. Aber ich verkenne nicht – und habe das auch in der Gewerkschaftskommission des Kopenhagener Kongresses gesagt und begründet – dass der territoriale Separatismus zwar als ein Uebel erscheint, wenn man ihn an dem Zentralismus misst, aber doch als das bei weitem kleinere Uebel, wenn er mit dem nationalen Separatismus verglichen wird. Jedermann versteht: dass die Arbeiter in der Königgrätzer Maschinenfabrik nicht derselben Organisation angehören wie die Arbeiter der Floridsdorfer Eisenbahnwagenfabrik, ist nicht nützlich; wenn aber die Arbeiter der Floridsdorfer Fabrik selbst in zwei Gewerkschaften, eine deutsche und eine tschechische, geteilt werden, so ist dies nicht bloss nicht nützlich, es ist vielmehr die empfindlichste Schwächung der vom Unternehmertum bedrohten proletarischen Kraft. Wenn der territoriale Separatismus siegt, werden wir eine Organisation haben, die zwar weniger gut sein wird als die straff zentralistische Organisation unserer reichsdeutschen Genossen, aber immerhin nicht schlechter als die gewerkschaftlichen Organisationen vieler anderer Länder, in denen gleichfalls der territorialistische Föderalismus sich behauptet hat. Siegt aber der nationale Separatismus, dann werden wir in den Gebieten mit starker nationaler Mischung überhaupt keine leistungsfähigen Organisationen mehr besitzen, die Proletarier dieser Gebiete werden dem Unternehmertum wehrlos ausgeliefert. Darum darf man den territorialen und den nationalen Separatismus nicht gleich werten. Und wenn wir schon den Zentralismus nicht erhalten können, müssen wir den territorialen Separatismus akzeptieren, wenn wir uns damit vor dem nationalen Separatismus schützen können. Gewiss wäre, wie dem Genossen Burian, so auch mir die nationale Autonomie innerhalb internationaler Verbände lieber als der territoriale Partikularismus. Aber da dieser Vorschlag, den ich ja schon in meiner „Nationalitätenfrage“ und später in meiner Broschüre „Krieg oder Frieden in den Gewerkschaften?“ gemacht habe, durch die Entwicklung überholt, die Wiederherstellung einheitlicher internationaler Verbände, und seien sie noch so zweckmässig gegliedert, heute nicht mehr erreichbar erscheint, bleibt mir nichts anderes übrig, als das kleinere Uebel zu wählen, um dem grösseren zu entgehen. [1]
Die Mehrheit der tschechischen Arbeiter trennt sich von den internationalen Verbänden. Solange sie dies nur im tschechischen Sprachgebiet tun, können wir sie daran nicht hindern. Wir haben gar keine Möglichkeit, gar kein Mittel, die tschechischen Arbeiter im tschechischen Gebiet von der Zweckwidrigkeit ihres Tuns zu überzeugen. Zur Liebe kann man schliesslich niemand zwingen, und wenn die Tschechen nicht mit uns sein wollen, so gebietet uns wohl unsere Würde, ihnen endlich zu sagen: Wir laufen niemandem nach! Mögen sie in ihrem Lande in Gottes Namen tun, was sie wollen! Aber ganz anders wird die Sache, wenn die Tschechen den Separatismus aus ihrem Lande in das unsere, wenn sie ihn nach Deutschböhmen oder gar nach Wien tragen. Denn wenn die Tschechen hier beschliessen, in jeder Fabrik neben der internationalen Organisation eine tschechoslawische zu gründen, so fassen sie einen Entschluss, der nicht mehr bloss sie angeht. Sie zerstören durch diesen Beschluss die Organisation, die auch deutschen Arbeitern die einzige Wehr gegen die Kapitalsmacht ist. Sie führen in den Betrieben, in denen auch deutsche Arbeiter arbeiten, Zustände herbei, in denen eine leistungsfähige Organisation für Jahre nicht mehr bestehen könnte. Sie machen dadurch deutschen Arbeitern den Kampf gegen das Unternehmertum unmöglich, und dazu können wir freilich nicht schweigen. Solange sich der Separatismus auf tschechischem Gebiete bewegt, müssen wir es den tschechischen Arbeitern überlassen, wie sie sich mit ihm abfinden wollen; sobald er in deutsches Gebiet übergreift, müssen wir uns wehren. Mit dem territorialen Separatismus kann man sich, wenn es sein muss, abfinden; mit dem nationalen Separatismus ist kein Friede möglich.
Kautsky fürchtet freilich, der Separatismus werde, wenn er sich erst im tschechischen Gebiete festgesetzt, ganz unvermeidlich in die deutschen Gebiete übergreifen. Mag sein. Aber dagegen uns zu wehren, werden wir immer noch Zeit haben, wenn er es tut. Sichern wir uns erst einmal einige Jahre ruhiger Entwicklung, einige Jahre, in denen wir den heute durch den Konflikt gestörten Ausbau unserer Organisationen mit vermehrter Kraft fortsetzen können, dann werden wir uns in der Zeit der Ruhe eine Burg zu bauen wissen, die niemand anzutasten wagen wird. Es ist eine alte Erfahrung, dass Kriege, die immer wieder als unvermeidlich prophezeit werden, nicht eintreten. Darum möchten wir aus Furcht, dass später einmal ein Konflikt nicht zu vermeiden sein werde, nicht auf den Frieden für heute verzichten.
Wir leben heute in einer unerträglichen Situation. Ein allzu grosser Teil unserer Mittel und unserer Arbeitskräfte ist durch den inneren Kampf innerhalb der organisierten Arbeiterschaft gebunden. Es fehlt daher an Mitteln und an Kräften für die Werbearbeit unter den Indifferenten und für den Kampf gegen das Unternehmertum. All das in einem Augenblick, in dem die Unternehmerorganisationen erstarken, die gelben Gewerkschaften unter deutschnationaler Fiagge mit Unternehmergeld und Unternehmerdruck aufgepäppelt werden und grosse Lohnkämpfe bevorstehen! Darum wünschen wir, sei es auch mit Opfern, die Beendigung des inneren Krieges. Der Bürgerkrieg im proletarischen Lager darf nicht währen, bis das ganze Lager in die Hand des Feindes fällt! Und wenn wir darum für den Frieden arbeiten, arbeiten wir zugleich am besten für die Sache des Zentralismus. Denn der Separatismus entspringt nicht gewerkschaftlichen Erwägungen; er ist das Produkt eines ausschliesslich national-politisch bestimmten Massenbewusstseins. Sein Vordringen beweist, dass breite Massen gewerkschaftlich noch zu wenig erfahren und zu wenig geschult sind, als dass sie die national-politischen Argumente des Separatismus durch gewerkschaftliche Zweckmässigkeitserwägungen überwinden könnten. Darum ist die beste Waffe gegen den Separatismus der Ausbau der Gewerkschaften selbst, die Schulung der organisierten Masse in der täglichen Praxis des gewerkschaftlichen Kampfes. Wenn die Massen erst gewerkschaftlich denken können, dann werden sie alle Verlockungen des Separatismus leicht überwinden. Sichern wir Wien und den deutschen Industriegebieten Ruhe zunächst für ein paar Jahre, so wird der Erfolg ruhiger gewerkschaftlicher Arbeit diesen Gebieten die einheitliche Organisation für alle Zeiten bewahren.
Mein Rat geht nun nicht etwa dahin, zwischen der deutschen und der tschechoslawischen Partei oder zwischen der Wiener und der Prager Gewerkschaftskommission ein Abkommen über die territoriale Abgrenzung herbeizuführen. Dazu ist vor allem die Zeit noch nicht reif. Der Gedanke braucht Zeit, die Köpfe zu gewinnen. Und hätte er sie, dann wäre ein allgemeiner Pakt doch kaum möglich. Denn die Verhältnisse sind in den einzelnen Branchen sehr verschieden. Was für die Metallarbeiter und für die Textilarbeiter sich eignen mag, mag für die Eisenbahner ganz unbrauchbar sein. Der Friede wird kaum anders geschlossen werden können, als durch Vertrag von Verband zu Verband innerhalb des einzelnen Gewerbes. Es gibt Industriezweige, in denen heute schon ein solcher Vertrag auf der Basis der territorischen Abgrenzung möglich wäre. Je mehr das Kampfgebiet auf diese Weise eingeschränkt würde, desto empfänglicher würde dann die Stimmung für die Wiederherstellung der Gesamtpartei in neuer Form, die das ganze Friedenswerk krönen soll. Dann werden wir einen wirklichen Gesamtparteitag haben können: nicht einen, der ein Zerstörungswerk abschliesst, sondern einen, der das Werk des Neubaues vollendet.
Freilich, ob die Entwicklung dahin geht, weiss ich nicht. Das hängt ja nicht nur von uns, es hängt auch von den Tschechen . ab. Im Schosse der tschechoslawischen Partei kämpfen verschiedene Strömungen um die Macht: solche, die zweifellos proletarisch, und andere, die zweifellos kleinbürgerlich sind; solche, die den Rückweg zum Internationalismus suchen, und andere, die die Partei weiter auf der Bahn des Nationalismus drängen wollen. Welche dieser Strömungen siegen wird, wissen wir nicht; davon aber wird unser Verhältnis zur tschechoslawischen Partei schliesslich abhängen. Es mag sein, dass man in Prag den territorialen Separatismus verschmähen, auf dem nationalen bestehen wird. Die jüngsten Ereignisse in Wien machen dies wahrscheinlich. Dann freilich machen die Tschechen den Frieden unmöglich, sie zwingen uns zum Kampfe; dann wird die Entwicklung wohl gehen, wie Kautsky sich sie vorstellt oder wie der Reichenberger Vorwärts sie wünscht: ob mit, ob ohne Gesamtparteitag zum offenen Bruch mit der tschechoslawischen Sozialdemokratie, zur Gründung einer neuen Gesamtpartei ohne sie. Wenn mein Weg sich als ungangbar erweisen sollte, wird die Arbeiterklasse wohl auf diese Bahn gedrängt werden. Es wäre gewiss der schwierigere, schmerzvollere Weg, ein Weg, der Oesterreichs Arbeiter manches Jahr fruchtlos opfern hiesse. Aber dass uns auch dieser Weg schliesslich zum Ziele führen wird, bezweifle auch ich nicht. Denn so gewiss es ist, dass die Gesamtpartei heute nicht möglich ist, so gewiss ist es, dass die Einheit der proletarischen Interessen schliesslich all die Schwierigkeiten besiegen wird, die unser Erbe aus der traurigen Geschichte dieses Staates sind. Durch einen Unhold der Geschichte dazu verdammt, in einem Staate zu leben, dessen innere Widersprüche Denken und Fühlen seiner Bewohner verseuchen und vergiften, werden wir nur nach langen schweren inneren Kämpfen, nur mit den unsäglichsten Opfern an Zeit, Geduld, Kraft das wieder erringen können, was die Arbeiter anderer Länder so viel leichter errungen und viel leichter erhalten haben und was ein zwingendes Gebot des Klassenkampfes ist: die Einheit der Arbeiterklasse im Kampfe gegen das Kapital. Aber wir werden sie erringen! Denn so gross die Hindernisse der Einheit hierzulande sind, so stark ist das elementare wirtschaftliche Bedürfnis nach ihr, so mächtig drängen nach ihr alle Kräfte der wirtschaftlichen Entwicklung. Kautsky rät uns, im offenen Kriege die verlorene Einheit wiederzuerobern; mich dünkt es, ehe wir den Krieg beginnen, den Versuch wohl wert, durch billigen Frieden die Opfer des Krieges zu sparen. Dies ist’s, was uns trennt. Aber sind wir auch über das Mittel nicht einig, so bleiben wir doch einig im Ziele. Die Wiederherstellung einer kraftvollen Gesamtpartei, die die Einheit der proletarischen Aktion verbürgt, ist auch mein Wunsch. Nur meine ich nicht, dass für sie die Zeit schon reif. Heute wirken noch die historischen Einflüsse, die uns scheiden; langsam wachsen erst die Kräfte an, die uns wieder vereinen werden.
1. Was von dem Organisationsplan, den die Genossin Freundlich in diesem Hefte des Kampf entwickelt, gewerkschaftlich überhaupt möglich ist, war bereits in meiner Broschüre Krieg oder Frieden in den Gewerkschaften enthalten. Die Tschechen haben diesen Vorschlag abgelehnt. Sie wünschen für ihre Organisationen eben nicht Autonomie, das heisst Selbstverwaltung halb eines übergeordneten Ganzen, sondern Souveränität, das heisst vollkommene Eigenherrlichkeit. Die Autonomie könnte auf das Personalitätsprinzip aufgebaut werden. Souveränität können wir ihnen nur innerhalb territorialer Grenzen zugestehen. Dies habe ich im Dezember-Heft des Kampf ausführlich begründet. Uebrigens ist oft genug auseinandergesetzt worden, dass ein Organisationsprinzip, das dem Staat wohl taugen mag, für die Partei oder für die Gewerkschaften unbrauchbar sein kann.
Leztztes Update: 6. April 2024