Otto Bauer

Das Ende des christlichen Sozialismus

(1. Juni 1911)


Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, Juni 1951, S. 393–398.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Aus verschiedenen Bausteinen ward das grosse Gebäude der christlichsozialen Partei zusammengefügt. Verschiedene Flüsse und Bächlein sind in ihr Meer zusammengeflossen. Wer heute die Entstehung dieses eigenartigen Parteigebildes begreifen will, muss sich der Zeit erinnern, in der der deutsche Liberalismus Oesterreich regierte. Als Abwehrbewegung der Klassen, die der vom Liberalismus entfesselte Kapitalismus bedrohte und bedrängte, ist die christlichsoziale Partei entstanden.

Die Liberalen waren von 1861 bis 1878 die führende Partei Oesterreichs. Der Liberalismus war auch hier das politische Prinzip der grossen Bourgeoisie. Er bedeutete hier wie überall: politisch die parlamentarische Regierungsform, die Zentralisierung der Staatsgewalt, den „Kulturkampf“ gegen die Kirche; wirtschaftlich die Gewerbefreiheit, die Freiteilbarkeit des Bauernguts, das manchesterliche „Laisser faire, laisser passer“, die Ablehnung jedes staatlichen Eingriffes zugunsten der wirtschaftlich Schwächeren im Namen der „freien Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte“. Aber bei aller Uebereinstimmung war der österreichische Liberalismus doch von dem englischen, dem französischen, selbst dem preussischen wesensverschieden. Er war in weit höherem Masse volksfremd als sie. Zunächst war er ausschliesslich deutsch; den slawischen Völkern erschien daher sein Regime als nationale Fremdherrschaft. Aber auch innerhalb des deutschen Volkes konnte die Schicht, die ihn stützte, nur sehr schmal sein; denn der industrielle Kapitalismus war erst in seinen Anfängen, die grosse Bourgeoisie eine wenig zahlreiche Oberschicht des Bürgertums. Der Liberalismus verdankte seine Macht nicht seiner eigenen Kraft. Die Herrschenden hatten ihn 1861 in den Sattel gesetzt, weil sie hofften, ein liberal schillerndes Oesterreich werde leichter den Kampf gegen Preussen um die Vorherrschaft in Deutschland durchfechten; sie hatten ihn 1871 wiedereingesetzt unter ungarischem und preussischem Einfluss. Da der Liberalismus seine Herrschaft nicht der eigenen Kraft verdankte, konnte er sie nur auf Gewalt und Korruption stützen: auf die Wahlrechtsprivilegien der Schmerlingschen Landesordnungen; auf die Beeinflussung der Wählerschaft des Grossgrundbesitzes durch den Hof; auf den Stimmenkauf der Chabrus-Banken; auf brutale Verfolgungen der Tschechen und der Klerikalen mit allen Mitteln des Polizeistaates. Der Grundlage ihres Daseins nach volksfremd, war die liberale Partei volksfremd auch durch die Personen ihrer Vertreter. Da die Juden in der jungen österreichischen Bourgeoisie überaus stark vertreten waren, spielten sie auch in der liberalen Partei eine überaus grosse Rolle. Einem engen Kreise war die Herrschaft zugefallen gerade in einer Zeit, in der der französische Milliardensegen und die grossen Eisenbahnbauten in ganz Europa das Gründertum und die Börsenspekulation mit allen ihren Begleiterscheinungen belebten. So ward die liberale Partei hier mehr denn irgendwo durch die Versippung mit der Börse korrumpiert. Der grosse „Krach“ von 1873, in dem diese Spekulationsperiode endete, erschütterte ihr Ansehen. Von allen Seiten begann sich nun die Opposition zu regen und die wichtigsten Zweige dieser Opposition flössen schliesslich in der christlichsozialen Partei zusammen.

Zunächst regte es sich im Kleinbürgertum. Das Wachstum Wiens, das Steigen der Mietzinse verwies den Handwerksmeister in die dunkeln Hinterhäuser der Vorstädte. Aber die Kundschaft ist ihm dorthin nicht gefolgt. Sie sucht das Warenangebot hinter den glitzernden Spiegelscheiben der Warenhäuser in der Innern Stadt und in der Mariahilferstrasse. So schob sich zwischen den Handwerksmeister und seine Kundschaft der kapitalistische Zwischenhandel ein. Der Handwerksmeister sank zum Heimarbeiter im Dienste des Kapitalisten hinab. Tiefe Unzufriedenheit, bald zu leidenschaftlicher Erbitterung gesteigert, bemächtigte sich des Handwerksmeisters, der, gestern noch ein freier Unternehmer, heute dem Kapital hörig geworden war. Er verlor den Glauben an das „freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“. Von einer neuen Botschaft erwartete er das Heil: Aufhebung der Gewerbefreiheit, Wiederherstellung der Zunft, Befähigungsnachweis, Ausschaltung des Zwischenhandels — das wurde nun seine Losung. Im Jahre 1883 errang diese Bewegung mit der Gewerbenovelle den ersten Erfolg. So wenig der Befähigungsnachweis das Kleingewerbe gegen kapitalistische Uebermacht zu „retten“ vermochte, so gaben ihm die Zwangsgenossenschaften doch eine starke Organisation. Sie wurde zur ersten Stütze der christlichsozialen Partei.

Zu derselben Zeit setzte eine ähnliche Bewegung in der Bauernschaft ein. In der Landwirtschaft wurde die alte Produktion für den Eigenbedarf durch den Ausbau der Eisenbahnen, die Ueberflutung des Landes mit den Erzeugnissen der Industrie, das Steigen der Steuerlast untergraben. Die Geldwirtschaft hielt ihren Einzug. Der Bauer wurde in schnell steigendem Masse Warenkäufer und Warenverkäufer. Diese Umwälzung vollzog sich in derselben Zeit, in der mit dem steigenden Angebot amerikanischen und russischen Getreides die Getreidepreise zu sinken begannen. Die Bauern wurden dadurch desto schwerer getroffen, da sie, an geldwirtschaftliche Berechnungsweise noch nicht gewöhnt, zur Beute der Zwischenhändler und Wucherer wurden. Der Dorfwucher nahm unerhörten Umfang an, die Hypothekenlast stieg überaus schnell, Güterschlächter trieben ihr Unwesen, zahllose Bauern wurden von Haus und Hof verjagt. In dieser Notlage begannen auch im Dorfe neue Reformgedanken zu keimen; mit dem Rückgang des Analphabetismus, mit der Verbreitung der Zeitungen auf dem Lande fanden sie schnelle Verbreitung. Wuchergesetze, Bodenentschuldung, Sperrung der Hypothekenbücher, Anerbenrecht, Aufhebung der Freiteilbarkeit, Schaffung von unpfändbaren Heimstätten — das waren die volkstümlichen Forderungen, die in der Bauernschaft allmählich Verbreitung gewannen. Zur Abwehr des Zwischenhandels und des Wuchers wurden landwirtschaftliche Genossenschaften, insbesondere Raiffeisenkassen gegründet, die die neue Bewegung organisierten. Auch sie mündete in den breiten Strom der christlichsozialen Partei.

Die urwüchsige Bewegung der Handwerksmeister und der Bauern fand ihre Führer im Adel und im Klerus. Beide hatte der Liberalismus entthront; beide wollten die Bewegung der Handwerksmeister und der Kleinbauern als Mittel gebrauchen, den Liberalismus zu stürzen und ihre Macht wiederherzustellen. Der Adel stellte sich an die Spitze: die Grafen Hohenwart und Belcredi, der Prinz Liechtenstein, der Baron Vogelsang entwickelten die Ideologie des „christlichen Sozialismus“: sie formulierten den Anklageakt gegen das „mobile Kapital“, sie bauten die Forderungen der Handwerker und der Bauern zu einem volkswirtschaftlich-politischen System aus: Ueberwindung des Manchestertums, Neubau des Gesellschaftskörpers auf der Grundlage ständischer Organisation, eine Hierarchie der Organisationen, deren breite Basis Zwangsgenossenschaften der Bauern und der Handwerker, deren Spitze die Landtafel des Adels bilden soll, also ein Neubau nach dem Muster der feudalen Gesellschaft, die der Absolutismus und der Liberalismus zerstört hatten — das waren die Gedanken, wie sie insbesondere

Vogelsang, der eigentliche Begründer der Doktrin des „christlichen Sozialismus“ in Oesterreich, zusammengefasst hat. Der Klerus stellte diesen Reformgedanken seine Organisation zur Verfügung. Im Pfarrhof fand sie ihren Ortsvertrauensmann im letzten Dorf.

Es ist heute lehrreich, in Vogelsangs Schriften zu blättern. In der Kritik des Kapitalismus ist Vogelsang ein echter Schüler von Karl Marx, den er auch nicht selten zitiert. In Marxens Geist formuliert er die Anklage gegen den Kapitalismus. Er hält ihm vor, dass er die Gesellschaft atomisiert, den Arbeiter ausbeutet, seine Gesundheit, seine Lebensfreude, seine Familie zerstört, dass er ihn dem Verbrechen, dem Alkoholismus, seine Töchter der Prostitution in die Arme jagt, dass er den Handwerksmeister niederkonkurriert, den Bauern in seinen Schuldknecht verwandelt, dass er die Staaten zur Eroberungspolitik und zum Weltkrieg treibt. Er selbst fühlt sich im Kampf gegen Kapitalismus und Liberalismus dem Sozialismus nahe: „Die Wege der Christen und der materialistischen Sozialdemokraten laufen keineswegs vollständig auseinander“, bekennt er mutig gegen die Denunziationen der kapitalistischen Presse. [1] „Eigentum ist Diebstahl, sagt der Sozialdemokrat. Indem man den Nachdruck auf ein anderes Wort verlegt und sagt: ‚Das Eigentum ist Diebstahl‘, spricht man eine christliche und soziale Wahrheit aus und meint damit das Eigentum, wie es heute aufgefasst wird: das absolute Eigentum, durch welches keine politischen und sozialen Pflichten bedingt werden. Dies rein private, absolute, der Willkür dienende Eigentum ist Diebstahl an Gott, an der Gesellschaft, am Staate.“ [2] Kein Wunder, dass die kapitalistische Presse entrüstet aufschrie, der Feudaladel predige den roten Kommunismus!

Auch der Antisemitismus ist in seinen Anfängen marxisch gefärbt. Ganz im Geiste von Marxens Judenfrage schreibt Vogelsang: „Wenn durch irgendein Wunder an irgendeinem gesegneten Tage alle unsere 1.400.000 Juden uns entzogen würden, es wäre wenig geholfen; denn uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er inkarniert, unsere ganze Lebensanschauung, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen. Wir legen kein Gewicht darauf, ob von Getauften oder Beschnittenen jüdisch gehandelt wird ... Weil wir unter der Wirksamkeit des Liberalismus den Juden gleich sind, gefällt es den Juden so wohl bei uns.“ [3] Man hört die Antithese des jungen Marx: „Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.“ [4]

So war die Anklage gegen den Kapitalismus das eigentlichste Wesen des christlichen Sozialismus. All das, was der Adel, den die Bourgeoisie entthront, die Kirche, deren Macht die Bourgeoisie eingeschränkt hat, der Kleinbürger, der dem Kapital hörig geworden, der Bauer, dessen Besitz die Hypothek aushöhlt, der Arbeiter, aus dessen Fleisch und Knochen der Kapitalist die Profite münzt, dem Kapitalismus vorzuhalten haben, das schleuderte der christliche Sozialismus ihm ins Angesicht. Freilich, diese Kritik ist nicht vorwärts gewandt, sondern rückwärts: nicht der proletarische Sozialismus, sondern Feudalrecht und Zünftlertum sind ihr Traum. Sie bekämpft den Sozialismus nicht im Namen der Zukunft, die ihn überwinden wird, sondern im Namen der Vergangenheit, die er überwunden hat. Aber darum ist diese Kritik doch nicht unfruchtbar geblieben. Sie hat mit ihrer leidenschaftlichen Anklage zum erstenmal grosse Volksmassen in das politische Leben geführt, an dem vordem nur eine schmale Schicht vornehmer Edelleute, reicher Bürger, ehrgeiziger Doktoren teilgenommen. Sie hat den volksfremden Liberalismus gestürzt, den Glauben an den Kapitalismus erschüttert, die grossen sozialen Probleme auf die Tagesordnung gestellt. Das bleibt ihr geschichtliches Verdienst. Im Kampfe gegen die entarteten Erben des christlichen Sozialismus wollen wir der geschichtlichen Leistung seiner Anfänge nicht vergessen.

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Vom Adel geführt, vom Klerus organisiert, haben die Handwerksmeister und die Bauern die christlichsoziale Partei emporgetragen zur Macht. Aber sie konnte zur Herrschaft nicht aufsteigen, ohne ihr Wesen zu verändern.

Zunächst stiessen zu ihrem Heerbann neue Truppen aus dem bürgerlichen Lager: der alteingesessene Wiener Bürger, der Hausbesitzer, der kleine und mittlere Fabrikant und Kaufmann, der christliche Arzt und Rechtsanwalt, Beamte und Lehrer. Sie alle hassten den volksfremden, so gar nicht urwüchsig-wienerischen, von „Zug’rasten“ und Juden vertretenen, mit den Banken und der Börse versippten, durch den „Krach“, den Ofenheim-Prozess, die „Trinkgelder-Theorie“ Giskras verächtlich gewordenen Liberalismus. Sie alle lockte die Persönlichkeit Luegers. Sie alle faszinierte der volkstümliche Schwung der jungen Bewegung. Ohne sie wäre die Eroberung des zweiten und des ersten Wahlkörpers nie möglich gewesen. Aber ihr Zuströmen hat die Partei der Handwerksmeister gründlich verändert. Die Anklagen gegen den Kapitalismus sagten ihnen nichts: sie selbst sind doch Besitzende, Unternehmer, „Arbeitgeber“. Was sie in der neuen Partei suchten, war nicht ihre schroff antikapitalistische, antibourgeoise Note, nicht der Kampf der Arbeitenden gegen das Kapital. Ihnen war die Partei nicht mehr als eine gut wienerische Partei des Bürgertums, eine Wiener Partei mit allen Tugenden und allen Lastern des Wienertums, eine „Partei der reinen Hände“ zumal, die das Land und die Gemeinde von dem unwienerischen, volksfremden, korrupten und verjudeten Regime der Liberalen reinigen solle. Je enger die mittlere und obere Schicht der Wiener christlichen Bourgeoisie der jungen Partei sich anschloss, desto mehr verschwand aus den Reden und Schriften ihrer Wortführer die einst so laut tönende antikapitalistische Phrase. Die Tonart wurde milder. Die Redewendungen, die die Gregorig und Schneider aus den Handwerkerversammlungen mitgebracht, schienen dem gebildeten Bürger zu pöbelhaft; der „staatsmännische“ Ton der Pattai und Liechtenstein behagte ihm besser.

Aber nicht nur der Zuzug neuer Schichten wirkte den antikapitalistischen Tendenzen entgegen. Innerhalb der Klassen selbst, die die christlichsoziale Partei emportrugen, vollzogen sich allmählich Veränderungen, die ihre Gedanken- und Stimmungswelt verändert haben.

Am nachdrücklichsten hat der Aufstieg der Arbeiterklasse sie beeinflusst. Als die Christlichsozialen ihren Feldzug begannen, waren die Arbeiter machtlos. Sie hatten kein Wahlrecht, waren also keine Konkurrenten in dem politischen Kampf, der innerhalb des Pferchs der Zensuskurien geführt wurde. Sie hatten keine Gewerkschaften, konnten also dem Handwerksmeister mit Lohnforderungen nicht unbequem werden. Sie hatten keine Konsumvereine, bereiteten also dem Krämer keine Konkurrenz. Man fürchtete die Arbeiter nicht; und darum waren sie dem christlichen Sozialismus ein Gegenstand des Mitleids, ein blosses Illustrationsmaterial für die Anklage gegen den Kapitalismus. Damals haben Belcredi, Liechtenstein, Ernst Schneider Arbeiterschutzgesetze befürwortet — natürlich nur für die fabriksmässigen Betriebe! Damals stellte Vogelsang den liberalen Klagen über den Terror der Anarchisten in leidenschaftsvollen Worten die Gegenklage gegenüber über „die Provokation durch empörenden Missbrauch der wirtschaftlichen Macht der Arbeitgeber“. [5] Allmählich aber wuchs die Macht der Arbeiter. Sie wurden zu mächtig, als dass sie noch ein Gegenstand des Mitleids sein könnten. Schon in der V. Kurie und erst recht unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts ist die Sozialdemokratie der gefährlichste politische Feind der Christlichsozialen geworden. Die erstarkenden Gewerkschaften fordern auch vom Handwerksmeister höheren Lohn und kürzere Arbeitszeit. Die Konsumvereine der Arbeiter ersetzen den Kaufmann. Die Jugendorganisation erringt dem Lehrling wirksamen Schutz. Die Arbeiterbewegung wird dem Handwerksmeister und dem Kaufmann unbequem. Ihre Erfolge erfüllen beide mit arbeiterfeindlicher Stimmung.

Durch den Bankerott des Zünftlertums wird diese Stimmung nur gestärkt. Alle Reformen der Gewerbeordnung haben die Macht des Kapitals nicht brechen können. Der Handwerksmeister glaubt nicht mehr, dass Genossenschaftsorganisation und Befähigungsnachweis dem Handwerk den goldenen Boden wiedergeben können. In verzweifeltem Konkurrenzkampf sucht er sich des kapitalistischen Wettbewerbs zu erwehren; von jeder Forderung, die die Arbeiter seiner Werkstätte an ihn stellen, fürchtet er, sie werde seine Konkurrenzfähigkeit vollständig vernichten. Jede neue Konsumvereinsfiliale erscheint ihm als ein neuer Feind auf der Jagd nach der Kundschaft. Sombart hat sehr zutreffend bewiesen, „dass heute das Handwerk, soweit es überhaupt noch Hilfskräfte beschäftigt, seine Existenzfähigkeit grösstenteils auf der Ausbeutung unreifer Arbeitskräfte aufbaut“ [6]; kein Wunder, dass nichts die Handwerksmeister so sehr erbittert wie unsere Bemühungen um Jugendorganisation und Lehrlingsschutz. Der Handwerksmeister kann sich in dem ungleichen Kampf gegen die kapitalistische Unternehmung nur noch durch gesteigerte Ausbeutung seiner Gehilfen und Lehrlinge behaupten. Die Erfolge der Arbeiterbewegung machen ihm das unmöglich. Darum sieht er in der Arbeiterbewegung seinen gefährlichsten Feind.

Gleichzeitig entwickeln sich die Unternehmerverbände. Fabrikanten und Handwerksmeister führen gemeinsam den Kampf gegen die Gewerkschaften. Der Fabrikant tritt im Unternehmerverband als Führer der Handwerksmeister, als ihr Vorkämpfer gegen die Arbeiter auf. Die Handwerksmeister freuen sich des Feldzugs, den die grossindustriellen Scharfmacherverbände gegen das Koalitionsrecht, gegen die Erhöhung der Unfallversicherungsbeiträge, gegen die Abschaffung der Kontraktbruchstrafe und des Arbeitsbuches führen. Bald sitzen die Vertreter der Handwerksmeister mit den Vertretern der Grossindustriellen an einem Tisch, gemeinsam Kriegspläne gegen die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu schmieden. „Alle Arbeitgeber gegen die Sozialdemokratie!“ heisst es nun. Der Gegensatz gegen das Kapital verblasst vor dem gemeinsamen Interesse gegen die Arbeiter.

Andere Umstände wirken nach derselben Richtung. Der grosse Schrecken von 1873 ist vergessen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die den „schwarzen Freitag“ nicht miterlebt hat. Banken und Börse sind ihr kein Schreckgespenst mehr. Der Gewerbetreibende trägt seine Ersparnisse in die Bankfiliale, der Kaufmann spekuliert in Skoda-Aktien, im Ausschuss der Kreditgenossenschaft gewöhnt man sich an den Kauf und Verkauf von Wertpapieren. Das „mobile Kapital“ hat seine Schrecken verloren ...

Aehnliche Veränderungen vollziehen sich im Dorfe. Die Raiffeisenkasse hat den Wucherer aus dem Dorf verjagt. Den Hypothekarkredit weiss der Landwirt zu schätzen; er ermöglicht ihm Meliorationen, die sich bei den hohen Getreidepreisen gut verzinsen. Den Zwischenhandel schränkt allmählich die landwirtschaftliche Genossenschaft ein; und der Bauer, der allmählich rechnen gelernt hat, wird vom Zwischenhändler nicht mehr so leicht betrogen wie früher. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften legen ihre Kapitalien in Wertpapieren an und ihre Vertreter sitzen im Börsenrat der Getreidebörse. Andere Genossenschaften betreiben Molkereien, Spiritusbrennereien, Rohzuckerfabriken und sie sitzen mit Kapitalisten zusammen in den Komitees der Kartelle. Der Gegensatz gegen den Kapitalismus verblasst auch hier. Der Landwirt hat andere Sorgen. Er wünscht hohe Preise für sein Getreide, sein Vieh, seine Milch; hier stösst er auf den Widerstand der Arbeiterschaft, die billige Lebensmittel fordert. Im Kampf um Zölle und Grenzsperre sieht auch er nun in der Sozialdemokratie den gefährlichsten Feind? Gleichzeitig ändert sich auch das Bild des ländlichen Arbeitsmarktes. Die Industriearbeiter haben sich höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit errungen. Das lockt nun Landarbeiter und Bauernsöhne in die Stadt: die „Landflucht“ entleert den ländlichen Arbeitsmarkt. Der Bauer muss höheren Lohn, bessere Behandlung zugestehen, will er überhaupt noch Knechte und Mägde finden. Unwillig sieht er, dass auch der landwirtschaftliche Arbeiter nicht mehr so demütig grüsst wie einst. Der Unternehmerinstinkt wird in ihm wach. Er begreift, dass die Hebung der ländlichen Arbeiter die Rückwirkung der Kämpfe ist, die die sozialdemokratischen Arbeiter der Stadt geführt haben. Auch hier also ist die Sozialdemokratie der Feind! So wächst auch hier der Aerger über die Arbeiter in demselben Masse, in dem der Hass gegen den Kapitalismus versickert.

Nicht anders ist es im Schlosse des Edelmannes. Er sitzt im Spirituskartell und im Zuckerkartell, er hat Aktien der „Alpinen“ in seiner Kasse liegen — was sollen ihm noch die feindseligen Redensarten gegen den Kapitalismus? Aber dass die Sozialdemokraten die Spiritusprämien beseitigen wollen und dass sie ihm die Forstarbeiter „aufhetzen“, darüber ist er natürlich böse. Und der Klerus? Mit den kirchenpolitischen Gesetzen von 1868 und 1874, die ihn einst so erbittert haben, hat er längst seinen Frieden geschlossen; er weiss heute, dass sich mit ihnen ganz gut auskommen lässt. Die Erben des alten Liberalismus ärgern ihn auch nicht mehr. Man schimpft mit ihnen zusammen über die „Sozi“, die „den Unglauben verbreiten“ ...

So sehen wir auf der ganzen Linie dasselbe Bild: stetige Abschwächung des Gegensatzes gegen den Kapitalismus, stetige Steigerung des Hasses gegen die Arbeiterklasse. Der politische Aufstieg beschleunigt diese Entwicklung: Minister und Landesausschüsse, die mit Banken und Fabrikanten Geschäfte zu machen haben, müssen sich mit ihnen doch vertragen! Desto mehr ärgern sie sich über die sozialdemokratische Opposition.

Will man sich diesen ganzen Entwicklungsgang verdeutlichen, so nehme man die prächtigen Schriften Vogelsangs zur Hand und vergleiche sie mit der heutigen Praxis der Christlichsozialen! Man lese, wie Vogelsang über die Ausbeutung in den Fabriken wettert und denke dabei daran, wie Herr Dr. Weiskirchner bei der Industriellentagung in Linz dem Vortrag des Herrn Direktors Günther von der Oesterreichischen Berg- und Hüttenwerksgesellschaft lauscht! Man lese die grimmigen Anklagen Vogelsangs gegen die Banken und denke dabei daran, wie Herr Gessmann von der Baukreditbank mit dem Herrn Lohnstein von der Länderbank konferiert! Man lese Vogelsangs leidenschaftliche Kritik der Börse und denke dabei an die Animierartikel in dem Blättchen des Herrn Bielohlawek! Man lese, wie Vogelsang dem Kapitalismus die Verantwortung für den armen Vagabunden ins Gesicht schleudert und erinnere sich dann der hasserfüllten Reden des Herrn Bauchinger gegen die Landstreicher!

Die Christlichsozialen sind eine mächtige Partei. Aber der christliche Sozialismus ist tot. Nur als unbequeme Erinnerung an die eigene Vergangenheit lebt er noch in ihrem Bewusstsein.

Der Kapitalismus hat sich als stärker erwiesen als seine Gegner. Er hat seine Bekämpfer zu seiner Gefolgschaft gemacht. Natürlich möchten sie noch die oder jene „Auswüchse beschneiden“. Der eine will den Terminhandel, der andere den Hausierhandel abschaffen, der eine die Eisenzölle beseitigen, der andere die Tantiemen besteuern. Aber all das sind Reförmchen innerhalb des kapitalistischen Rahmens. Am Wirtschaftssystem ändern sie nichts. Der christliche Sozialismus ist tot. Die Christlichsozialen sind keine kapitalsfeindliche Partei mehr. Ihre Waffen wenden sich nicht gegen das Kapital, sondern gegen das Proletariat.

Es hat nicht anders kommen können. Die Klassen der Vergangenheit können den Kapitalismus nicht überwinden; sie mussten sich ihm ein- und unterordnen. Den Kapitalismus überwinden kann nur die Klasse der Zukunft. Die Arbeiterklasse allein kann sich mit dem Kapitalismus niemals versöhnen: denn seine Macht ist ihre Ohnmacht, sein Reichtum ihre Armut. Den Kampf gegen den Kapitalismus kann nur das Proletariat führen. Der christliche Sozialismus ist tot. Der proletarische Sozialismus kämpft und wirkt weiter.

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Anmerkungen

1. Vogelsang, Gesammelte Aufsätze. Augsburg 1886. Seite 389.

2. Ebenda, Seite 392.

3. Ebenda, Seite 113 f.

4. Mehring, Nachlass I. Seite 426.

5. Ebenda, Seite 12.

6. Sombart, Der englische Kapitalismus, II., Seite 569.

 


Leztztes Update: 6. April 2024