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Der Kampf, Jg. 4 6. Heft, 1. März 1911, S. 283–284.
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Der Abgeordnete Modráček propagiert den Gedanken, die Sozialdemokratie müsse fordern, dass Oesterreich-Ungarn zu einem neutralen Staate erklärt werde – in derselben Weise, wie die Schweiz, Belgien, Luxemburg und der Kongostaat durch internationale Vertrage neutralisiert worden sind. In der tschechischen Sozialdemokratie hat diese Propaganda einen vollständigen Erfolg erzielt: die tschechische Parteivertretung hat in ihre Kundgebung gegen die Rüstungen die Forderung nach der Neutralisierung Oesterreich-Ungarns aufgenommen.
Was bedeutet die völkerrechtliche Neutralität? Im Jahre 1815 haben Oesterreich, Frankreich, Grossbritannien, Preussen und Russland der Schweiz „die Integrität und Unverletzbarkeit ihres Territoriums in den neuen, durch den Akt des Wiener Kongresses festgestellten Grenzen“ garantiert. Die Grossmächte haben sich untereinander verpflichtet, das Gebiet der Schweiz nicht anzutasten und keinen Angriff eines anderen Staates auf die Schweiz zu dulden. Durch den Beitritt zu diesem Vertrage übernahm die Schweiz die Verpflichtung, keine anderen Kriege als Verteidigungskriege zum Schutze ihres Territoriums zu führen und keine Bündnis- oder Garantieverträge abzuschliessen, die sie zu einem Kriege verpflichten konnten. Die völkerrechtliche Neutralität wird also begründet durch einen Vertrag der Grossmächte, in dem sie dem neutralisierten Staat den friedlichen Besitz seines Gebietes verbürgen, wogegen sich der in dieser Weise geschützte Staat eine Beschränkung seines Rechtes, Kriege zu führen und Verträge abzuschliessen, gefallen lässt. Der Zweck eines solchen Vertrages ist, „den neutralisierten Staat im allgemeinen Interesse vor den Einverleibungsgelüsten der benachbarten Staaten sicherzustellen“. (Liszt, Das Völkerrecht. Berlin 1902. Seite 45.)
Oesterreich-Ungarn kann sich also nicht etwa selbst für neutral erklären, es kann neutralisiert werden nur durch einen Vertrag der Grossmächte. In diesem Vertrag müssten die Grossmächte Oesterreich-Ungarn seinen territorialen Besitzstand garantieren. Es müsste also Italien garantieren, dass Triest und Trient für alle Zeiten unter Habsburgs Zepter bleiben sollen; es müsste Russland versprechen, dass es niemals die Grenze Galiziens überschreiten werde; es müssten Deutschland, Frankreich, England erklären, dass sie einen Angriff Serbiens auf Bosnien niemals dulden würden .... Wir müssen wohl nicht erst beweisen, dass ein solcher Vertrag ausserhalb des Bereiches des Denkbaren liegt. Davon gar nicht zu reden, dass es in Oesterreich-Ungarn Volksstämme gibt, die vielleicht gar nicht wünschen, dass ihre Zugehörigkeit zu dem Donaureich für alle Zeiten unter den Schutz der bewaffneten Macht Europas gestellt werde.
Die Neutralisierung eines Staates ist nur unter bestimmten historischen Bedingungen möglich. So beruht die Neutralität der Schweiz nicht auf dem Vertrag von 1815, sondern auf ihren Bergen, die es den Schweizer Bauerngemeinden ermöglicht haben, ihre urwüchsige Selbständigkeit gegen die emporstrebenden Landesherren in Deutschland, Frankreich und Italien zu verteidigen; der Vertrag von 1815 hat den Zustand nur kodifiziert, der schon in der Periode der Entstehung der Landeshoheit durch die Waffen der Eidgenossen geschaffen worden war. Wo ein Neutralitätsvertrag mehr als eine Kodifikation bestehender Machtverhältnisse sein wollte, wo er ein Kunstprodukt der Diplomatie war, ist er bald zerrissen worden. So ist der Staat des Johanniterordens auf Malta, durch den Frieden von Amiens (1802) für neutral erklärt, schon im Jahre 1814 an England gefallen. So ist die Republik Krakau, durch den Wiener Kongress 1815 neutralisiert, schon 1846 zu Oesterreich geschlagen worden. Auch für Oesterreich-Ungarn sind die historischen Bedingungen der Neutralitätserklärung nicht gegeben. In einem Zeitalter in dem der Kapitalismus nach dem Osten dringt und dort eine Periode der Revolutionen vorbereitet, die im ganzen Osten die Staatsgrenzen verschieben, die Staatsverfassungen umstürzen, alte Staaten zerstören, neue Staaten errichten wird – wie die vergangene Periode der Revolutionen dies im Westen getan hat – in einem solchen Augenblick sind hier Verträge, die die heutigen Staatsgrenzen verewigen sollen, undenkbar. Die Neutralisierung Dänemarks oder Norwegens ist ein ernstes politisches Problem; für die Neutralisierung Oesterreich-Ungarns fehlen alle objektiven Bedingungen.
Imperialismus und Militarismus sind Wirkungen des Kapitalismus. Auch Oesterreich wird nicht eine friedliche Oase in der kapitalistischen Wüste sein. Der österreichische Militarismus wird erst fallen, wenn der internationale Kapitalismus zusammenbricht. Die zu Rüstung und Krieg treibenden Kräfte werden sich nicht in einem Spinngewebe von Staatsverträgen fangen lassen; überwinden können wir sie nur, indem wir ihre wirtschaftlichen Grundlagen zerstören. Wir wollen den Völkern Oesterreichs nicht die Illusion erwecken, als könnten Rüstungslast und Kriegsgefahr mit den Kunstmitteln der Juristen und Diplomaten beseitigt werden; wir müssen die Völker lehren, dass Imperialismus und Militarismus Wirkungen des Kapitalismus sind und erst mit dem Kapitalismus verschwinden werden.
Leztztes Update: 6. April 2024