Otto Bauer

Das Eingreifen des Staates in die Preisbestimmung

* * *

Die Agrarzölle


Als die Ideen der englischen Freihandelsschule auf dem europäischen Festlande verbreitet wurden, fanden sie hier bei den Agrariern viele Anhänger. Noch erzeugten die Staaten des Festlandes mehr Getreide, als sie zur Ernährung ihrer Bevölkerung brauchten. Sie führten selbst Getreide aus; die Einfuhr von Getreide hatten sie nicht zu fürchten. An den Industriezöllen aber hatten die Agrarier kein Interesse. So waren damals die Agrarier Freihändler.

Seit den siebziger Jahren trat die Wendung ein. Die europäischen Auswanderer hatten die amerikanische Getreideerzeugung schnell ausgedehnt. Die Entwicklung der Dampfschiffahrt, der Ausbau der Eisenbahnen und der Wasserstraßen machten es möglich, das amerikanische Getreide auf den europäischen Markt zu bringen. Es bereitete hier dem europäischen Getreide eine gefährliche Konkurrenz. Die Getreidepreise sanken. In England kosteten tausend Kilogramm Weizen:

in den Jahren

Mark

1871 bis 1875

246,4

1876 bis 1880

206,8

1881 bis 1885

180,4

1886 bis 1890

142,8

1891 bis 1895

128,2

Die europäische Landwirtschaft fürchtete, sie werde bei dem niederen Getreidepreise nicht bestehen können. Die Kornproduktion ging zurück. In England betrug die mit Weizen bebaute Fläche:

in den Jahren

Anbaufläche in Acres

1871 bis 1875

3.373.140

1902

1.772.840

(1 Acre = 0,4047 Hektar)

Die festländische Landwirtschaft fürchtete, sie werde ihre Getreideerzeugung ebenso einschränken müssen wie die englische. Die amerikanische Gefahr, die europäische Agrarkrise, trieben die Agrarier in das Lager der Schutzzöllner. Sie forderten Getreidezölle, damit das billige überseeische Getreide den inländischen Markt nicht überschwemmen könne. Die Zölle sollten die durch die überlegene fremde Konkurrenz bedrohte Landwirtschaft des europäischen Festlandes retten, den Staaten Europas ihren ältesten und größten Produktionszweig erhalten. Man kann daher die älteren Agrarzölle wohl als Erhaltungszölle, als konservierende Zölle bezeichnen.

In den letzten Jahren hat sich aber die Preisbewegung auf dem Weltmärkte wiederum völlig verändert. Das Angebot ist langsamer gestiegen als der Bedarf. Die Getreidepreise steigen. In London kosteten tausend Kilogramm Weizen im dritten Jahresviertel:

im Jahre

Mark

1902

141,6

1903

134,6

1904

134,1

1905

137,7

1906

133,3

1907

152,7

1908

146,0

1909

187,5

Die europäische Landwirtschaft braucht die amerikanische Gefahr nicht mehr zu fürchten. Auch bei freier Konkurrenz würde sie nicht zugrunde gehen: Die hohen Weltmarktpreise sichern ihr ihr Dasein. Die Getreidezölle sind als Erhaltungszölle nicht mehr notwendig.

Der Getreidebedarf der europäischen Staaten ist so groß, daß Getreide jedenfalls aus dem Auslande eingeführt werden muß. Der Getreidepreis im Inlande ist daher immer gleich dem Einfuhrpreis des ausländischen Getreides, also gleich dem Weltmarktpreis, den Transportkosten und dem Zoll. Je höher der Zoll ist, desto teurer können die inländischen Landwirte ihr Getreide verkaufen. Ist der Zoll nicht mehr notwendig, die heimische Landwirtschaft vor dem Untergang zu bewahren, so hat er jetzt die Aufgabe, den Landwirten möglichst hohe Preise und Gewinne zu garantieren, die Grundrente auf Kosten des Arbeitslohnes und des industriellen Profits zu steigern. Der Erhaltungszoll hat sich in den Ausbeutungszoll verwandelt. [15]

Die neuen agrarischen Ausbeutungszölle sind von den alten agrarischen Erhaltungszöllen so verschieden, wie die neuen industriellen Kartellschutzzölle von den alten industriellen Erziehungszöllen.

Der Erhaltungszoll muß immer nur so hoch sein, daß die Summe des Zolles und der Transportkosten gleich ist der Differenz der Erzeugungskosten der heimischen und der konkurrierenden fremden Landwirtschaft. Der Ausbeutungszoll dagegen kann den Agrariern nie hoch genug sein: je höher der Zoll, desto größer ihre Gewinne. Der Erhaltungszoll ist eine Schutzmaßregel bei sinkenden Weltmarktpreisen. Sobald die Weltmarktpreise hoch genug sind, der heimischen Landwirtschaft ihr Dasein zu sichern, verliert der Erhaltungszoll seinen Sinn. Der Ausbeutungszoll dagegen erfüllt bei jeder Preisgestaltung seine Aufgabe. Mögen nun die Weltmarktpreise hoch oder niedrig sein, der Inlandpreis steht immer um den Zollbetrag über dem Weltmarktpreis; durch den Zoll werden immer den heimischen Landwirten höhere Gewinne garantiert, als sie bei freiem Wettbewerb beziehen könnten. Unter dem Schutze des Erhaltungszolles sind die Getreidepreise im Inlande nicht gestiegen, der Zoll hat nur bewirkt, daß die Preise im Inland langsamer gesunken sind als die Weltmarktpreise. Unter dem Einfluß des Ausbeutungszolles steigen die Getreidepreise.

Durch den österreichischen Zolltarif vom 13. Februar 1906 wurden Getreidezölle in folgender Höhe festgesetzt:

 

Minimalzölle
(für Staaten, mit denen wir
Handelsverträge
abgeschlossen haben)

Autonome Zollsätze
(für andere Staaten)

in Kronen für hundert Kilogramm

Weizen

6,30

7,50

Roggen

5,80

7,–

Gerste

2,80

4,–

Hafer

4,80

6,–

Mais

2,80

4,–

Für Mehl wurde ein Zoll von fünfzehn Kronen für hundert Kilogramm festgesetzt.

Über die Preisgestaltung von Vieh und Fleisch entscheiden die Zollsätze nicht, da die auf der Tierseuchengesetzgebung beruhenden Einfuhrverbote die Einfuhr selbst gegen Erlag des Zolles verhindern.

Über den Einfluß der Zölle auf die Getreidepreise unterrichtet uns folgende Tabelle (Preis von tausend Kilogramm Weizen):

im dritten Quartal der Jahre

Gazette Average

75/76 Kilogramm
das Hektoliter

Theißweizen

Differenz zwischen
den Weizenpreisen

in London
in Mark

in Odessa
in Mark

in Wien
in Mark

in London und
Wien in Mark

in Odessa und
Wien in Mark

1902

141,60

108,80

143,90

  2,30

35,10

1903

134,60

111,90

144,80

10,20

32,90

1904

134,10

126,30

190,60

56,50

64,30

1905

137,70

124,80

156,10

18,40

31,30

1906

133,30

118,20

144,–

10,70

25,80

1907

152,70

150,80

211,80

59,10

61,–

1908

146,–

176,–

215,40

69,40

39,40

1909

187,50

169,20

268,30

80,80

99,10

Die Tabelle zeigt zunächst die Preisbewegung auf dem Weltmarkt: die Weizenpreise in einem der wichtigsten Einfuhrhäfen (London) und einem der wichtigsten Ausfuhrzentren (Odessa). Die Preise schwanken natürlich je nach den Ernteergebnissen. Im allgemeinen läßt sich aber unzweifelhaft eine steigende Preistendenz feststellen. Der Weizenpreis in Wien war nun in jedem Jahre etwas höher als der Preis in London und Odessa. Die Differenz schwankt. Sie ist desto größer, je kleiner die Ernte in Österreich und je größer die Ernte in den ausländischen Produktionsgebieten ist. Doch wächst auch die Differenz unverkennbar, da der Weizenbedarf Österreich-Ungarns immer schwieriger durch die eigene Erzeugung gedeckt werden kann, die Zölle daher immer wirksamer werden. Seit dem neuen Zolltarif von 1906 ist die Differenz zwischen dem Wiener und dem Londoner Weizenpreis von 10,70 Mark auf 80,80, die Differenz zwischen den Weizenpreisen in Wien und Odessa von 25,80 Mark auf 99,10 gestiegen. Seit 1902 ist der Weizenpreis in London um 45,90 Mark, der Weizenpreis in Odessa um 60,40 Mark, dagegen der Weizenpreis in Wien um 124,40 Mark gestiegen. Hätten wir keine Getreidezölle, dann würde der Weizen hier nicht 268,30 Mark, sondern 214,70 Mark kosten, da ja der Weizen durch den Zoll um 63 Kronen = 53,60 Mark verteuert wird. Er wäre dann immer noch um 70,80 Mark teurer, als er im Jahre 1902 war – darin drückt sich das Steigen der Weltmarktpreise aus – immer noch um 27,20 Mark teurer als in London und um 45,50 Mark teurer als in Odessa – darin drückt sich die Verschiedenheit des Ernteergebnisses in verschiedenen Produktionsgebieten und die Verschiedenheit der Transportkosten aus –, aber er wäre doch um 53,60 Mark billiger, als er heute ist. Unsere Landwirtschaft könnte natürlich auch bei einem Weizenpreis von 214,70 Mark bestehen – auch dieser Preis wäre ja noch um 70,80 Mark höher als der Preis von 1902. Die Landwirtschaft bedarf also des Zollschutzes nicht. Von der Preiserhöhung, die seit dem Jahre 1902 eingetreten ist, ist ein Teilbetrag von 70,80 Mark auf das Steigen der Weltmarktpreise zurückzuführen; für diesen Teil der Teuerung ist die österreichische Gesetzgebung nicht verantwortlich; der andere Teilbetrag der Preissteigerung dagegen, der Betrag von 53,60 Mark, ist durch die Zölle herbeigeführt. [16]

Was die Erhöhung des Getreidepreises für die Verbraucher bedeutet, das läßt sich annähernd schätzen. Nehmen wir an, daß aus hundert Kilogramm Getreide siebzig Kilogramm Mehl erzeugt werden, so wird durch die Minimalzölle das Kilogramm Weizenmehl um 9 Heller, das Kilogramm Roggenmehl um 8,3 Heller verteuert. Diese Verteuerung des Mehls drückt sich natürlich im Brotpreis aus.

Sehr schwer wird durch die Zölle auch die Viehzucht getroffen. Rund vierzig Prozent des Getreides werden als Viehfutter benützt. [17] Durch die Getreidezölle werden die Kosten der Viehmast und der Milchwirtschaft bedeutend erhöht, also auch die Preise von Vieh, Fleisch, Milch, Butter gesteigert. Auch den Spiritusbrennereien, Stärkefabriken und so weiter wird durch die Zölle ihr Rohstoff verteuert.

Die hohen Gewinne am Getreidebau veranlassen die Landwirte, den Getreidebau auf Kosten des Anbaues von Gemüse, Futtermitteln und Handelspflanzen auszudehnen. Daher sinkt das Angebot dieser Waren, ihr Preis steigt. Hätten wir keine Getreidezölle, dann würde die österreichische Landwirtschaft weniger Getreide, aber mehr Gemüse und Futtermittel produzieren. Nicht nur das Getreide, sondern auch das Gemüse und die Futtermittel wären dann billiger.

Das reichsdeutsche Statistische Amt hat im Jahre 1909 eine Erhebung darüber vorgenommen, wie sich die Ausgaben unbemittelter Familien auf die wichtigsten Bedürfnisse verteilen. Es wurden die Gesamtausgaben von 852 Familien geprüft. Die Erhebung führte zu folgendem Ergebnis:

Von allen Ausgaben entfallen auf:

 

Jahreseinkommen

Nahrung

Kleidung

Wohnung

Heizung und
Beleuchtung

Sonstige
Ausgaben

in Mark

in Prozent

Gelernte gewerbliche Arbeiter

1.885,86

51,5

11,2

16,8

4,2

16,3

Ungelernte gewerbliche Arbeiter

1.726,51

52,8

10,6

18,4

4,1

14,1

Handels- und Verkehrsarbeiter

1.757,31

53,4

12,0

17,2

4,6

12,8

Privatangesselite

2.441,69

40,9

12,7

18,7

3,5

24,2

Lehrer

3.294,32

34,7

14,8

21,0

3,7

25,8

Unterbeamte

2.084,31

49,0

13,9

18,2

4,2

14,7

Alle Kategorien der Arbeiter müssen also mehr als die Hälfte, alle Kategorien der Angestellten mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Je kleiner das Einkommen, desto größer ist der Teil, der zum Ankauf der Lebensimittel verwendet werden muß. Darum trifft die Verteuerung der Lebensimittel die Arbeiterklasse noch viel schwerer als die Verteuerung der Industrieprodukte.

Die Erhebung zeigt aber auch, wie klein der Teil des Lohneinkommens ist, den die Arbeiterfamilie für den Ankauf von Industrieprodukten verwenden kann. Je teurer die Lebensrnittel sind, desto kleiner ist dieser Teil. Ein ungelernter Arbeiter kann zum Beispiel für die Kleidung und für die sonstigen Ausgaben nur 24,7 Prozent seines Einkommens verwenden. Wenn nun die Lebensimittelpreise um zehn Prozent steigen, so muß der Arbeiter statt 52,8 Prozent sofort 58,1 Prozent seines Enkommens für Lebensmittel ausgeben. Er kann dann nicht mehr 24,7 Prozent, sondern nur noch 19,4 Prozent seines Enkommens für die Kleidung und für sonstige Ausgaben verwenden. Mit dem Steigen der Lebensmittelpreise sinkt daher die Nachfrage nach Industrieprodukten. Die Entwicklung der Industrie ist gehemmt. Die Industrie kann der wachsenden Bevölkerung nicht genug Arbeitsgelegenheit bieten. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Tausende sehen sich zur Auswanderung gezwungen.

Aber auch von den Landwirten wird ein sehr großer Teil durch die Agrarzölle schwer belastet. Den Landwirten bringen zwar die hohen Viehpreise Gewinn; aber dieser Gewinn wird durch die hohen Preise des Getreides und der Futtermittel wieder aufgehoben. In den letzten Monaten ist die Agitation gegen die Futtermittelteuerung in den Alpenländern erstarkt; im steirischen Landtag haben bäuerliche Abgeordnete die Ermäßigung der Futtermittelzölle gefordert. Im Frühjahr 1909 haben die Vertreter der galizischen Bauern im Abgeordnetenhaus die zeitweilige Aufhebung der Getreidezölle gefordert, da die galizischen Landwirte große Getreidemengen aus dem Ausland beziehen mußten.

In der ganzen Landwirtschaft rufen die Getreidezölle schwerwiegende Veränderungen hervor.

Steigen die Lebensmittelpreise, so steigt auch die Grundrente, der Ertrag, den der Boden abwirft. Steigt die Grundrente, so steigen auch die Bodenpreise. Das Steigen der Lebensimittelpreise in der Stadt ist stets begleitet vom Steigen der Bodenpreise auf dem Lande. Mit voller Wucht trifft das Steigen der Bodenpreise das arme Landvolk, die Proletarier und die Zwergbesitzer in den Dörfern. Je teurer der Boden wird, desto schwieriger können sie Boden kaufen. Der Mehrheit des Landvolkes wird auf diese Weise der Weg zur wirtschaftlichen Selbständigkeit gesperrt. Sie müssen die Hoffnung, Boden zu erwerben, aufgeben; sie bleiben Proletarier.

Wovon hängt nun die Lebenserhaltung dieser Proletarier ab? Die Lohnsklaven der Landwirtschaft haben es noch nicht gelernt, die gewerkschaftlichen Kampfmittel zu gebrauchen. Trotzdem sind die Arbeitslöhne auch auf dem Lande gestiegen, weil ein großer Teil der Landarbeiter von den Dörfern in die Städte, von der Landwirtschaft in die Industrie geflohen ist. Die Landflucht hat die Leutenot erzeugt; die Leutenot zwingt auch die Landwirte, Knechten und Taglöhnern höhere Löhne zu bewilligen. Die Löhne in der Landwirtschaft steigen also nur dann, wenn die Industrie einen wachsenden Teil des Landvolkes an sich zieht und die Landwirte daher höhere Löhne bewilligen müssen, damit sie überhaupt noch Arbeiter bekommen. Nun hemmen aber die hohen Lebensmittelpreise die Entwicklung der Industrie. Je mehr die städtische Bevölkerung für die Lebensmittel zahlen muß, desto weniger Industrieprodukte kann sie kaufen, desto langsamer dehnt sich die Industrie aus, desto weniger ländliche Arbeiter können hoffen, in der Industrie Beschäftigung zu finden. So sperren die Zölle den Landarbeitern beide Auswege aus ihrem Elend. Sie treiben auf der einen Seite die Bodenpreise in die Höhe und machen es den Proletariern des Dorfes dadurch unmöglich, Boden zu erwerben; sie hemmen auf der anderen Seite die industrielle Entwicklung, wodurch den Landarbeitern die Möglichkeit geschmälert wird, in der Industrie Beschäftigung zu finden. Daher ist das Angebot von Arbeitskräften auf dem ländlichen Arbeitsmarkt größer, als es ohne die Zölle wäre. Dadurch wird das Steigen der Arbeitslöhne auf dem Lande verlangsamt. Die Getreidezölle verteuern nicht nur den städtischen Arbeitern die Lebensrnittel; sie erschweren es auch den Landarbeitern, sich höheren Lohn, kürzere Arbeitszeit, würdigere Behandlung zu erkämpfen.

Aber auch unter den Besitzern landwirtschaftlich genutzter Grundstücke, ist die Zahl derjenigen, die aus den hohen Getreidepreisen keinen Gewinn ziehen, sehr groß. Im Jahre 1902 gab es in Österreich landwirtschaftliche Betriebe mit einer landwirtschaftlich genutzten Bodenfläche von:

 

in Prozent

Weniger als 2 Hektar (Zwergbetriebe)

1.322.565

  46,5

2 bis 5 Hektar (Kleinbetriebe)

   810.225

  28,5

5 bis 20 Hektar (mittelbäuerliche Betriebe)

   613.290

  21,6

20 bis 100 Hektar (großbäuerliche Betriebe)

     89.342

    3,1

Mehr als 100 Hektar (Großbetriebe)

     11.466

    0,3

Zusammen

2.846.890

100,0

Nun ist es gewiß, daß die Zwergbetriebe und Kleinbetriebe in der Regel kein Getreide verkaufen können, vielmehr selbst Getreide zukaufen müssen. 2.132.790 landwirtschaftliche Betriebe, 75,0 Prozent, also genau drei Viertel der Gesamtzahl, haben an den hohen Gntrnidnprnisnn keinerlei Interesse. Die mittelbäuerlichnn Betriebe, 613.290, also etwas mehr als ein Fünftel der Gesamtzahl, ziehen aus ihnen nur geringen Gewinn. Den größten Teil der Beute ziehen die Betriebe der Großbauern und Großgrundbesitzer an sich, die nur 3,4 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe bilden und deren es in ganz Österreich nicht mehr als 100.808 gibt. Nach der Berufszählung vom Jahre 1900 ernährten Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr, der öffentliche Dienst und die freien Berufe 12.441.504 Menschen. Mehr als zwölf Millionen Menschen müssen also ihre Lebensmittel teurer zahlen, damit insgesamt 100.000 landwirtschaftliche Betriebe ihren Inhabern höheren Gewinn abwerfen. Auf einen geförderten Betrieb entfallen 124 geschädigte Konsumenten. Nicht die neun Millionen Menschen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, sondern nur die Besitzer von 100.000 Großbetrieben und großbäuerlichen Betrieben ziehen einen großen, allenfalls noch die Besitzer von 613.290 mittelbäuerlichen Betrieben einen mäßigen Gewinn aus der Getreideteuerung.

Aber auch den Grundbesitzern bringt das Steigen der Bodenpreise keine ungeteilte Freude. Bei jedem Erbgang und bei jeder Gutsübergabe müssen Schulden aufgenommen werden, damit die weichenden Geschwister abgefunden werden können. Bei jedem Verkauf bleiben Kaufschillingreste als Grundschuld auf dem Boden stehen. Je höher der Boden bewertet wird, desto höhere Abfindungsgelder müssen den weichenden Geschwistern gezahlt, desto höhere Kaufschillingreste auf das verkaufte Grundstück einverleibt werden. Steigt mit den Lebensmittelpreisen der Bodenpreis, so steigt auch die Schuldenlast des Bodens. Nach Angaben der Grundbuchsämter ist der Lastenstand im sonstigen Besitz, das heißt Lastenstand des Grundbesitzes, soweit er nicht landtäflicher, städtischer oder bergbücherlicher Besitz ist, in folgender Weise gestiegen:

 

Zunahme des
bücherlichen
Lastenscandes
im sonstigen Besitz
in Kronen

Jahresdurchschnitt 1896 bis 1900

158.714.987

Jahresdurchschnitt 1901 bis 1905

171.431.789

Jahr 1904

168.498.357

Jahr 1905

199.206.358

Jahr 1906

212.299.461

Mit dem Schuldenstand steigt natürlich die Zinsenlast der Landwirtschaft. Von der Beute, die die Agrarier den Verbrauchern abgejagt haben, müssen sie einen großen Teil an das Hypothekenkapital abtreten. Ein Teil der gestiegenen Grundrente verwandelt sich in Kapitalzins. Mit der Masse der Werte, die die Bodenbesitzer den besitzlosen Verbrauchern abnehmen, wächst auch die Wertsumme, die die Landwirtschaft an das parasitäre Hypothekenkapital abgeben muß. Der von der Teuerung betroffene Konsument nährt nicht nur den Grundbesitz, sondern auch das Hypothekenkapital.

Auch die Grundbesitzverteilung wird durch die Zollpolitik beeinflußt. Sind die Getreidepreise niedrig, dann wird der Getreidebau eingeschränkt, Getreide aus dem Ausland zugeführt; die Landwirtschaft wendet sich dann in höherem Maß dem Anbau von Gemüse und Futtermitteln, der Vieh- und Geflügelzucht und der Milchwirtschaft zu. Nun ist im Getreidebau der landwirtschaftliche Großbetrieb dem Kleinbetrieb stets überlegen, während in der intensiven Gemüsekultur und Milchwirtschaft in der Regel der Kleinbetrieb günstigere Ergebnisse erzielt. Die Großgrundbesitzer sind, sobald die Getreideerzeugung niedere Gewinne abwirft, geneigt, ihren Boden zu verkaufen; an ihre Stelle treten Kleinbauern, die Fleisch, Milch, Butter, Geflügel, Eier, Gemüse, Obst produzieren. Bei niederen Getreidepreisen gewinnt daher der bäuerliche Betrieb Raum auf Kosten des landwirtschaftlichen Großbetriebes. Je höher aber die Getreidepreise sind, je größer die Gewinne der Großgrundbesitzer, desto weniger sind diese geneigt, Boden zu verkaufen. Der hohe Getreidepreis macht die Ausdehnung des Bauernlandes unmöglich. Der hohe Mehl- und Brotpreis sowie die Hemmung der industriellen Entwicklung durch die hohen Lebensmittelpreise verhindern das Wachstum der lokalen Märkte, die die Waren der intensiven bäuerlichen Kleinwirtschaft abnehmen. Bei hohen Getreidepreisen ist daher die Ausdehnung der Bauernwirtschaften auf Kosten des Großgrundbesitzers unmöglich. [18]

Am deutlichsten zeigt die Geschichte der englischen Landwirtschaft die Wirkungen hoher und niedriger Getreidepreise. In einer Zeit der hohen Getreidezölle und Getreidepreise sind die englischen Bauern zugmnde gegangen. Im Getreideanbau erwies sich der Großbetrieb dem Kleinbetrieb überlegen, an die Stelle der verdrängten Kleinbauern traten große kapitalistische Pächter. Im Jahre 1836 hieß es bereits, es gebe in England keine Bauern mehr. Im Jahre 1846 wurden dann die Getreidezölle abgeschafft, und seit dem Ende der siebziger Jahre begannen die Getreidepreise infolge der großen amerikanischen Importe schnell zu sinken. Jetzt wurde der Getreidebau eingeschränkt, während Viehzucht, Gemüsebau, Geflügelzucht, Obstbau Zunahmen. Nun gewann der Kleinbetrieb wieder auf Kosten des Großbetriebs Raum. Sein Fortschreiten zeigt uns die landwirtschaftliche Betriebsstatistik:

Anzahl der Betriebe von

1885

1895

Differenz

0,25 bis 5Acres

124.298

149.877

+ 25.579

5 bis 50 Acres

170.431

170.591

+      160

50 bis 100 Acres

  44.893

  46.574

+     1.681

100 bis 300 Acres

  59.180

  60.381

+     1.201

300 bis 500 Acres

  11.452

  11.112

−      340

500 Acres

    4.696

    4.466

−      230

Während die englischen Bauern bei hohen Getreidezöllen und Getreidepreisen zugrunde gegangen sind, ist unter der Herrschaft des Freihandels bei niederen Getreidepreisen die Zahl der Kleinbetriebe gestiegen, die Zahl der Großbetriebe gesunken. [19]

Diese Erwägungen gelten allerdings nur für die Getreidezölle. Von den Gewinnen aus den Viehzöllen und Vieheinfuhrverboten fließt wohl ein etwas größerer Teil den Kleinbetrieben zu. Nach der landwirtschaftlichen Betriebszählung verteilt sich unser Viehstand auf die verschiedenen Betriebsgrößen in folgender Weise:

Landwirtschaftliche
Betrieb mit einer
produktivem Fläche von

Zahl der
Betriebe
mit Rindern

Zahl der
Rinder in
diesen Betrieben

Auf einen
Betrieb ent-
fallen Rinder

weniger als 9 Hektar

   718.500

1.232.007

  1,7

2 bis 5 Hektar

   715.610

1.975.503

  2,8

5 bis 20 Hektar

   595.932

3.343,032

  5,6

20 bis 100 Hektar

   136.357

1.795.130

13,2

mehr als 100 Hektar

     12.101

   679.536

56,2

 

2.178.500

9.025.208

  4,1

Die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe sind an der Viehwirtschaft gewiß in höherem Maße beteiligt als an dem Getreidebau. Doch ist es gewiß, daß die 718.500 Zwergbetriebe mit ein bis zwei Rindern aus der Vieh- und Milchteuerung keinen Gewinn ziehen, daß auch noch weitere 715.610 Kleinbetriebe mit zwei bis drei Rindern an der Fleischteuerung nicht, an der Milchteuerung nur in geringem Maße interessiert sind. Von 2.178.500 Betrieben mit Rinderhaltung haben also 1.434.110 an der Verteuerung der Erzeugnisse der Viehwirtschaft kein oder nur ein geringfügiges Interesse – nur einem Drittel der Betriebe fließt auch dieser Gewinn zu.

So dient die agrarische Zollpolitik nur den Interessen der Großgrundbesitzer und Großbauern. Ihre Kosten müssen die arbeitenden Volksmassen in Stadt und Land zahlen. Die Sozialdemokratie steht darum im energischen Kampf gegen die agrarische Zollgesetzgebung. Schon bei der Beratung des Zolltarifs im Jahre 1906 hat Abgeordneter Seitz die Streichung der Getreidezölle beantragt. Sein Antrag wurde von allen bürgerlichen Parteien abgelehnt. Als nun die Getreidepreise schnell stiegen, hat der Sozialdemokratische Verband die zeitweilige Aufhebung der Getreidezölle im Antrag Schrammel beantragt; der Antrag wurde am 28. November 1907 abgelehnt. Die Forderung wurde erneuert in der Resolution Seitz bei der Beratung des Budgets. Die bürgerliche Parlamentsmehrheit nahm aber am 23. Juni 1909 den Verschleppungsantrag Steinwender an, durch den der Antrag Seitz dem Budgetausschuß zugewiesen wurde. Er wurde dort natürlich begraben. Der Sozialdemokratische Verband stellte die Forderung zum viertenmal im Antrag Hanusch (Oktober 1907); diesmal stellte der christlichsoziale Abgeordnete Fink den Verschleppungsantrag, die Sache dem zu wählenden Teuerungsausschuß zuzuweisen. [20]

Ebenso haben die sozialdemokratischen Abgeordneten auch die Aufhebung der Vieh- und Fleischeinfuhrverbote gefordert. Solange und soweit diese Verbote ohne Gefährdung der Gesundheit unseres Viehs nicht aufgehoben werden könnten, sollten wenigstens an den Reichsgrenzen staatliche Schlachthäuser errichtet, das ausländische Vieh in diese Schlachthäuser gebracht, das Fleisch in Kühlwagen in die größeren Konsumtionszentren geschafft werden. Auf diese Weise könnte ausländisches Fleisch eingeführt werden, ohne daß wir die Einschleppung von Tierseuchen befürchten müßten. Diese Forderung war sowohl in den Anträgen Schrammel-Renner als auch im Antrag Hanusch enthalten. Auch ihre Erfüllung ist am Widerstand der Agrarier und an der Lässigkeit der bürgerlichen Städtevertreter gescheitert. Nur im Handelsvertrag mit Rumänien wurde ein kleines Zugeständnis gewährt.

Unser Kampf gegen die Agrarzölle ist ein Kampf für die gesunde Volksernährung, ein Kampf für die Volksgesundheit. Er ist zugleich ein Kampf gegen die Schranken, die die agrarische Wirtschaftspolitik der Entwicklung der Industrie gesetzt hat, ein Kampf für die freie Entfaltung unserer wirtschaftlichen Kräfte. Er ist schließlich ein Kampf gegen die Ausweitung der Grundrente auf Kosten des Arbeitslohnes, gegen die Ausbeutung der Volksmassen durch die Grundherrenklasse. So mündet auch dieser Kampf in das weltgeschichtliche Ringen um die Aufhebung der wirtschaftlichen Ausbeutung. Nicht als Freihändler, nicht als die Sachwalter der freien Konkurrenz führen wir den Kampf gegen die Getreidezölle. Wir führen ihn als die Sachwalter des Volkseigentums an Grund und Boden. Den Boden, des Volkes Urbesitz und Erbe, denen wiederzugeben, die ihn bebauen und seine Früchte verarbeiten – das ist das letzte Ziel des weltgeschichtlichen Krieges, der mit dem Kampf gegen die Agrarzölle beginnt.

* * *

Fußnoten

15. Vgl. Protokoll des Reichenberger Parteitages der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. Referat Renners über die Teuerung, Wien 1909, Seite 257.

16. Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, 18. Jahrgang, 4. Heft. – In Kronen umgerechnet, erhalten wir folgendes Endergebnis: Weizenpreis in Wien 1902: 169,20 Kronen, 1909: 315,40 Kronen, Preissteigerung 146,20 Kronen. Hätten wir keine Getreidezölle, dann würde der Weizen, da der Zoll 63 Kronen beträgt, nur 252,40 Kronen kosten. Die Pr eissteigerung seit 1902 würde dann 83,20 Kronen betragen. Von der gesamten Preissteigerung von 146,20 Kronen ist also der Teilbetrag von 83,20 Kronen auf das Steigen des Weltmarktpreises, der Restbetrag von 63 Kronen auf den Zoll zurückzuführen. (100 Mark = 117,5627 Kronen.)

17. Conrad, Getreidepreise, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. – Hierbei ist auch die Kleie mitgerechnet.

18. Vergleiche David, Landwirtschaft und Sozialismus, Berlin 1903. Die Hoffnung Davids, daß in der europäischen Landwirtschaft der Kleinbetrieb den Großbetrieb verdrängen werde, beruhte auf der Erwartung, daß das Sinken der Getreidepreise die Rentabilität des Großbetriebs zerstören, das Steigen der Nachfrage nach den Erzeugnissen bäuerlicher Vieh- und Geflügelzucht, Milchwirtschaft, Gemüsekultur die Lebensfähigkeit des Kleinbetriebes steigern werde. Dieser Hoffnung ist schon durch die Getreideteuerung auf dem Weltmarkt ihre Stütze entzogen worden. Wird der Getreidepreis im Inland durch die Zölle noch über den Weltmarktpreis hinaufgetrieben, dann ist die Verdrängung des Großbetriebes natürlich erst recht nicht zu erwarten. Uber die Überlegenheit des Großbetriebes im Getreidebau vergleiche Kautsky, Die Agrarfrage. Stuttgart 1899.

19. Levy, Entstehung und Rückgang des landwirtschaftlichen Großbetriebes in England. Berlin 1904.

20. Dem Einwand, daß die ungarische Regierung ihre Zustimmung zur Aufhebung der Getreidezölle verweigern werde, trug Abgeordneter Hanusch durch den Eventualantrag Rechnung, die österreichische Regierung möge in diesem Falle im Ausland Getreide kaufen und es zum Selbstkostenpreis nach Abzug von 63,6 Prozent des Zollbetrages an die österreichischen Mühlen abgeben. Das würde die Regierung nichts kosten, da sie für je 100.000 Kronen Zoll, die an die Reichskasse abgeführt werden, 63.600 Kronen an Quotenbeitrag erspart. Ungarn hat kein Recht, eine solche Maßregel zu hindern. Sie käme in ihren Wirkungen einer Ermäßigung der Getreidezöile um 63,6 Prozent gleich.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023