Otto Bauer

Das Eingreifen des Staates in die Preisbestimmung

* * *

Die Mittel der Wirtschaftspolitik


Welcher Mittel bedient sich der Staat, den internationalen Warenaustausch zu beeinflussen?

Setzt eine Unternehmergruppe durch, daß der Staat zu ihren Gunsten gegen ihre ausländischen Konkurrenten einschreitet, dann kann der Staat dies am einfachsten und wirksamsten tun, indem er die Einfuhr der betreffenden Waren aus dem Auslande verbietet. Die Verbraucher sind dann gezwungen, die Waren ausschließlich von den inländischen Unternehmern zu kaufen. In früheren Zeiten sind solche Enfuhrverbote ein alltägliches Mittel der staatlichen Wirtschiaftsgesetzgebung gewesen. Heute werden sie viel seltener angewendet. Doch haben sie ein wichtiges Anwendungsgebiet: Verbote, Vieh und tierische Produkte aus fremden Staaten einzuführen, werden oft erlassen und oft jahrzehntelange aufrechterhalten. So ist zum Beispiel die Enfuhr von Vieh aus Rußland, Rumänien und den Balkanstaaten nach Österreich verboten.

Solche Enfuhrverbote sind ursprünglich erlassen worden, um die Einschleppung gefährlicher Tierseuchen aus dem Ausland zu verhindern. Heute wird die Sorge um den Gesundheitszustand des heimischen Viehs, oft als Vorwand mißbraucht, um die Viehzüchter gegen den Wettbewerb der fremden Viehzucht zu schützen. Die Enfuhr von Vieh bleibt verboten, mögen auch die Tierseuchen im Auslande längst erloschen sein. Man verbietet nicht nur die Enfuhr von Lebendvieh, sondern auch die Enfuhr von Fleisch, obwohl die Fleischzufuhr, von Tierärzten an der Grenze kontrolliert, den heimischen Viehbestand nicht gefährdet. An dem Widerstande der österreichischen Agrarier gegen die Einfuhr von Fleisch aus den Balkanstaaten sind die Handelsvertragsverhandlungen sehr oft gescheitert. Ebenso ist die Einfuhr von gekühltem und gefrorenem Fleisch aus Argentinien nach Österreich von den Agrariern verhindert worden, obwohl das Beispiel Englands beweist, daß nur die Zufuhr überseeischen Kühlfleisches einem Industriestaat die Möglichkeit schafft, seinen Fleischbedarf zu billigem Preis zu decken. England führt alljährlich Vieh und Fleisch im Werte von rund 1.200 Millionen Kronen ein und deckt dadurch etwa die Hälfte seines Fleischverbrauches. Dank der Einfuhr des billigen Fleisches sind in England von 1866 bis 1906 die Großhandelspreise für Fleisch von 86 bis 130 auf 58 bis 104 Pfennig gesunken, während in Österreich, das die Fleischeinfuhr verbietet, die Fleischpreise von Jahr zu Jahr gestiegen sind. Darum haben die sozialdemokratischen Abgeordneten wiederholt (Antrag Schrammel im November 1907, Antrag Hanusch im Oktober 1909) die Öffnung der österreichischen Grenze für überseeisches Kühlfleisch gefordert. Diese Anträge sind aber von der agrarisch-christlichsozialen Mehrheit abgelehnt worden. Bei der Beratung des Antrages Hanusch hat der christlichsoziale Handelsminister Dr. Weiskirchner gesagt, er wolle dem gekühlten argentinischen Fleisch unsere Märkte nicht öffnen, weil dieses Fleisch dem verwöhnten Geschmack der Wiener nicht behagen würde. Es ist wohl nicht sehr wahrscheinlich, daß das Fleisch, das den Engländern gut genug ist, den Wiener nicht schmecken würde. Vermutlich wären die Tausende Wiener Arbeiter, die das österreichische und ungarische Fleisch nicht kaufen können, sehr froh, wenn sie das billigere argentinische Fleisch bekämen, wenn selbst dieses Fleisch nicht so wohlschmeckend sein sollte wie ein fetter Rostbraten von ungarischen Primamastochsen. Jedenfalls aber könnte Herr Doktor Weiskirchner diese Sorge wohl den Händlern überlassen. Fällt das Einfuhrverbot, dann wird eben niemand Kühlfleisch einführen, wenn es in Österreich keine Käufer findet. Ist das Argument des Herrn Handelsministers richtig, dann brauchten also die Agrarier die Abschaffung des Einfuhrverbots gar nicht zu fürchten. [2]

Das Recht, die Einfuhr von Vieh und Fleisch zu verbieten, wurde durch die Tierseuchengesetzgebung der Regierung zugestanden. Da diese Einfuhrverbote zu den wichtigsten Mitteln der Wirtschaftspolitik zählen, wird durch dieses Recht der Regierung der Einfluß des Parlaments auf die Wirtschaftsgesetzgebung empfindlich geschmälert. Darum haben im österreichischen Abgeordnetenhause bei der Beratung des neuen Tierseuchengesetzes im März 1909 die sozialdemokratischen Abgeordneten Schloßnikel und David den Antrag gestellt, daß jedes Einfuhrverbot dem Reichsrate zur Beschlußfassung vorgelegt werden müsse und daß seine Geltung erlösche, wenn ihm nicht binnen sechs Monaten beide Häuser des Reichsrates ihre Zustimmung erteilen. Auf diese Weise sollte die Macht der in der Regel von den reichen Viehzüchtern beeinflußten Regierung eingeschränkt und der Einfluß der Volksvertretung auf die Wirtschaftsgesetzgebung ausgeweitet werden. Aber der sozialdemokratische Antrag wurde von der bürgerlichen Mehrheit des Abgeordnetenhauses abgelehnt. Nicht nur die Agrarier, sondern auch die in den Städten gewählten christlichsozialen und deutschnationalen Abgeordneten haben gegen ihn gestimmt.

Viel häufiger als die Einfuhrverbote werden andere Mittel zur Beeinflussung der wirtschaftlichen Beziehungen angewendet. Hier sind zunächst die Mittel der Verkehrspolitik zu nennen. Ausländische Waren können desto leichter eingeführt werden, je geringer die Kosten der Zufuhr sind. Die Kosten der Zufuhr hängen aber von dem Ausbau der Verkehrsmittel (Eisenbahnen, Wasserstraßen) und von den Frachttarifen der Eisenbahnen und Schiffahrtsgesellschaften. ab. Jede Unternehmergruppe verlangt nun, daß der Staat durch seine Verkehrspolitik die Einfuhr fremder Waren erschwere und ihr auf diese Weise die ausländische Konkurrenz vom Leibe halte. Darum suchen die österreichischen Agrarier den Bau eines Kanals, der die Donau mit der Oder und Weichsel verbinden soll, zu verhindern, weil sie fürchten, daß auf diesem Wege billiges Getreide nach Mähren und Niederösterreich eingeführt werden könnte. Darum haben die Kohlenbarone durchgesetzt, daß die österreichischen Staatsbahnen für Kohle aus Preußisch-Schlesien höhere Frachtsätze einheben als für den Transport ihrer Ware. [3] Wird die Einfuhr preußischer Kohle nach Wien verteuert, dann können auch die Ostrauer Kohlenbarone von den Wiener Verbrauchern. höhere Preise für ihre Kohle verlangen. Die Festsetzung der Eisenbahntarife ist auch sonst ein wichtiges Mittel zur Beeinflussung der Warenpreise. So haben im Oktober 1909 die soiziiilcieimokratischen Abgeordneten gefordert, daß der Frachtsatz für russischen Weizen um zwei Drittel ermäßigt werde (Antrag Hanusch). Hätte die Regierung dieser Forderung entsprochen, dann wäre russischer Weizen um etwa eine Krone billiger nach Wien gekommen. Es hätten dann auch die österreichischen und die ungarischen Landwirte ihren Weizen um eine Krone billiger verkaufen müssen, weil die Müller es sonst vorgezogen hätten, russischen Weizen zu kaufen. So wäre der Weizenpreis durch die Ermäßigung des Frachtsatzes herabgedrückt worden. Leider ist es bisher nicht gelungen, diese Forderung durchzusetzen. Die Agrarier haben sie bekämpft, und die Vertreter des städtischen Bürgertums haben sich um sie nicht gekümmert. [4]

Das wesentlichste Mittel der äußeren Wirtschaftspolitik sind jedoch die Einfuhrzölle.

Schon seit Jahrhunderten heben alle Staaten von vielen Waren, die aus dem Auslande eingeführt wurden, Zölle ein. Die Enhebung der Zölle hatte ursprünglich bloß Men Zweck, dem Staate eine Einnahme zu verschaffen. Auch heute noch werden viele Zölle zu diesem Zwecke eingehoben. Wenn zum Beispiel Österreich-Ungarn jeden Zentner Kaffee, der aus dem Auslande eingeführt wird, mit einem Zoll von 95 Kronen belegt, so geschieht das nicht im Interesse österreichischer Unternehmer, denn der Kaffeestrauch wächst in Österreich nicht. Es geschieht nur zu dem Zwecke, dem Staate eine Einnahme zu sichern. Solche Zölle nennen wir Finanzzölle. Sie gehören zu den indirekten Steuern. Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben wiederholt die Aufhebung der Finanzzölle gefordert. Sowohl bei der Beratung des Zolltarifs im Jahre 1905 als auch bei der Beratung des Ausgleichs mit Ungarn im Dezember 1907 hat Abgeordneter Seitz die Abschaffung des Kaffeezolles beantragt; die bürgerliche Mehrheit des Abgeordnetenhauses hat diesen Antrag abgelehnt.

Die meisten Zölle dienen aber einem ganz anderen Zwecke. Sie sind eingeführt worden, um die Enfuhr von Waren, die auch in Österreich erzeugt werden können, zu verteuern und dadurch die österreichischen Unternehmer gegen die ausländischen Konkurrenten zu schützen. Solche Zölle nennt man Schutzzölle. Sehen wir nun, wie diese Schutzzölle wirken.

Ein österreichischer Händler will Weizen aus dem Auslande einführen. Wieviel muß er dafür zahlen? Er muß dem ausländischen Händler zunächst den Preis zahlen, den der Weizen auf den durch keinen Zoll geschützten Märkten, zum Beispiel in England, erzielt, den Weltmarktpreis. Zweitens muß der österreichische Händler die Kosten des Transports, die Frachtkosten, zahlen. Drittens muß er endlich den Zoll zahlen, den der Staat an der Grenze einhebt. Der Einfuhrpreis des ausländischen Weizens ist also gleich der Summe des Weltmarktpreises, der Transportkosten und des Zolls. Um welchen Preis können nun die österreichischen Großgrundbesitzer ihren Weizen verkaufen? Würden sie einen höheren Preis verlangen als den, zu welchem ausländischer Weizen eingeführt werden kann, dann würden die Händler lieber ausländischen Weizen kaufen, den österreichischen Landwirten bliebe ihr Erzeugnis unverkauft in den Speichern liegen. Solange aber die österreichischen Landwirte ihren Weizen auch nur um ein paar Heller unter dem Einfuhrpreise ausländischen Weizens feilbieten, scheint es den österreichischen Händlern vorteilhafter, ihnen den Weizen abzukaufen, ehe sie ausländische Ware einführen. Die österreichischen Landwirte können also für ihre Ware stets annähernd denselben Preis verlangen, zu dem das ausländische Getreide eingeführt werden kann. Auch der Preis der im Inland erzeugten Ware ist also gleich der Summe des Weltmarktpreises, der Transportkosten und des Zolls. Die österreichischen Landwirte können für ihre Ware desto höhere Preise erzielen, je höher die Einfuhrkosten des ausländischen Getreides sind. Der Schutzzoll treibt also nicht nur die Preise der aus dem Ausland eingeführten, sondern auch die Preise der im Inland erzeugten Waren in die Höhe. Wenn wir heute unter der Teuerung leiden, so hat dies also zwei Ursachen. Die Waren sind teuer, weil die Weltmarktpreise steigen; die Warenpreise im Inland sind aber noch höher als die hohen Weltmarktpreise, weil die Schutzzölle den Preis der Ware im Inland um den Zollbetrag verteuern.

Die Finanzzölle sind Staatssteuern. Kaffee wird im Inland nicht erzeugt, sondern aus dem Ausland eingeführt. Der Zoll von 95 Kronen für jeden Zentner Kaffee fließt in die Staatskasse. Ganz anders die Schutzzölle: Der Staat steckt zwar 6,30 Kronen von dem Zentner Weizen ein, der aus dem Auslande eingeführt wird; gleichzeitig aber können auch die inländischen Landwirte den Preis ihres Weizens um 6,30 Kronen erhöhen. Dieser Gewinn fließt nicht in die Staatskasse — denn von der im Inlande erzeugten Ware hebt der Staat keinen Zoll ein —, sondern er bleibt ihnen. Der Schutzzoll verteuert die Ware für die Konsumenten, nicht um dem Staate eine Ennahme zu schaffen, sondern um die Gewinne privater Unternehmer zu erhöhen. Er ist eine Steuer für Privatleute. [5]

Mächtige Unternehmergruppen haben es durchgesetzt, daß der Staat ihre Interessen durch Einfuhrverbote, Schutzzölle, durch seine Verkehrspolitik fördert. Aber unter dieser Gesetzgebung leiden wieder andere Unternehmer. So hat der Staat zum Beispiel durch hohe Eisen- und Maschinenzölle den Eisen- und Maschinenindustriellen hohe Profite verschafft. Das schadet nun aber der ganzen übrigen Industrie. Alle Fabrikanten müssen infolge dieser Zölle für die Maschinen und Werkzeuge mehr zahlen. Dadurch werden natürlich die Erzeugungskosten der österreichischen Industrie erhöht. Will ein österreichischer Fabrikant seine Waren im Ausland verkaufen, dann bemerkt er sofort, daß Konkurrenten aus anderen Ländern billiger verkaufen können als er, weil sie ihre Waren mit billigeren Maschinen und Werkzeugen hergestellt haben. Der österreichische Fabrikant wendet sich nun an den Staat um Hilfe und verlangt, daß der Staat ihn für die Eisen- und Maschinenzölle entschädige. Die Erschwerung der Wareneinfuhr durch Einfuhrverbote und Zölle führt daher zur Förderung der Warenausfuhr durch staatliche Ausfuhrbegünstigungen.

Die einfachste Form dieser Ausfuhrbegünstigungen sind Ausfuhrprämien, die aus der Staatskasse an die Unternehmer gezahlt werden. So zahlt der österreichische Staat den Spiritusbrennern, die Spiritus in das Ausland ausführen, eine Ausfuhrprämie von sieben Kronen für jeden Hektoliter Alkohol. Der Staat verteuert die Kartoffeln, indem er die Spiritusbrenner dafür belohnt, daß sie Kartoffeln in Spiritus verwandeln und den Spiritus in das Ausland ausführen. Früher wurden den Zuckerfabrikanten hohe Prämien für die Ausfuhr ihrer Ware gezahlt — diese Prämien mußten abgeschafft werden, weil die englische Regierung drohte, daß sie sonst die Enfuhr österreichischen Zuckers nach England unmöglich machen werde [6] (Brüsseler Zuckerkonvention). Heute wird insbesondere die Ausfuhr von Vieh durch staatliche Subventionen unterstützt. Durch das Gesetz über die Förderung der Viehzucht und Viehverwertung wurde für die Förderung der Viehverwertung ein Jahresbeitrag von fünf Millionen Kronen bewilligt, der auch zur Unterstützung der Viehausfuhr und zur Förderung der Ausfuhrmärkte verwendet werden soll. Bei der Verhandlung dieses Gesetzes im Dezember 1909 erklärte Abgeordneter Hackenberg, daß die sozialdemokratischen Abgeordneten zwar für die Förderung der Viehzucht, aber gegen die Förderung der Viehausfuhr seien. Hackenberg stellte den Antrag, daß Steuergelder zur Förderung der Ausfuhr von Vieh nicht verwendet werden dürfen, solange die Einfuhr von Vieh verboten bleibt. Dieser Antrag wurde von allen bürgerlichen Parteien abgelehnt. So treibt der Staat die Vieh- und Fleischpreise künstlich in die Höhe, indem er die Einfuhr von Vieh verbietet, die Ausfuhr von Vieh durch Staatssubventionen fördert.

Auch bei der Festsetzung der Eisenbahn- und Schiffahrtstarife werden die Wünsche der Unternehmer, die ihre Waren in das Ausland führen wollen, berücksichtigt. Der Staat setzt für den Transport der auszuführenden Waren niedere Frachtsätze fest, die die tatsächlichen Transportkosten nicht decken. Den Ausfall, welchen die Eisenbahnen und die Schiffahrtsgesellschaften erleiden, müssen die Steuerzahler decken. Aus Steuergeldern wird das Defizit der Staatseisenbahnen gezahlt, aus Steuergeldern bekommen die Schiffahrtsgesellschaften Subventionen.

Überblicken wir dieses ganze System der Wirtschaftsgesetzgebung, dann wird uns ihre Absicht und Wirkung klar: Der Staat erschwert durch Einfuhrverbote, Schutzzölle und durch verschiedene Mittel der Verkehrspolitik die Einfuhr ausländischer Waren, um den heimischen Unternehmern hohe Preise, hohe Profite zu schaffen; die durch diese Politik geschädigten Unternehmer sucht er schadlos zu halten, indem er die Ausfuhr ihrer Waren begünstigt; die Kosten des ganzen Systems tragen die arbeitenden Volksmassen, denen die Erschwerung der Wareneinfuhr alle Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände verteuert und die die Kosten der Förderung der Ausfuhr mit ihren Steuern aufbringen müssen. So zeigt sich auch hier der moderne Staat als Klassenstaat, der den Interessen der Unternehmerklasse dient, als ein ungeheueres Werkzeug des Kapitals zur Ausbeutung der arbeitenden Volksmassen.

* * *

Fußnoten

2. Die Christlichsozialen begründen die Ablehnung der Anträge Schrammel und Hanusch damit, daß das argentinische Fleisch gesundheitsgefährlich sei. Zum Beweise berufen sie sich auf die Enthüllungen des amerikanischen Sozialisten Upton Sinclair über die schmutzigen Manipulationen in den Schlachthäusern Chicagos. Aber diese Enthüllungen. bezogen sich gar nicht auf gekühltes Fleisch, sonder auf Fleischkonserven! Manipulationen, die bei der Herstellung von Heischkonserven Vorkommen, sind bei der bloßen Kühlung des Fleisches gar nicht möglich. Daß das argentinische Fleisch nicht gesundheitsgefährlich ist, beweist die Tatsache, daß es in England seit vielen Jahren von einem großen Teile der Bevölkerung genossen wird. Die englische Bevölkerung ist viel gesünder als die österreichische Arbeiterschaft.

3. Am 1. Jänner wurde der Frachtsatz nach Wien für Kohle aus dem mährisch-schlesischen Revier um 5 Heller, dagegen für oberschlesische Kohle um 6,4 Heller für hundert Kilogramm erhöht. Die Frachtdifferenz für dieselbe Strecke wirkt wie ein mäßiger Zoll.

4. Eine erschöpfende Darstellung des Einflusses der Frachtsätze auf die Warenpreise kann hier nicht gegeben werden. In den angeführten Fällen ist dieser Einfluß unverkennbar. Nicht immer sind aber die Produzenten in der Lage, erhöhte Transportkosten auf die Verbraucher abzuwälzen. Wenn zum Beispiel ein Reichenberger Tuchweber nach Wien seine Ware liefert, so kann er die erhöhten Transportkosten auf den Preis seiner Ware nicht aufschlagen, weil sein Brünner Konkurrent viel geringere Transportkosten hat. Bei dem Verkauf von beliebig vermehrbaren Industrieprodukten werden, wo kein Kartell besteht, also nur die Kosten des Transports von der dem Markte nächsten Produktionsstätte auf den Verbraucher überwälzt. Die vom Markte weiter entfernten Produzenten müssen die Transportkostendifferenz selbst tragen. Anders bei kartellierten Waren und bei Bodenprodukten, wo der Preis einer Ware durch die Einfuhrkosten einer konkurrierenden fremden Ware begrenzt ist. Dort sind die Einfuhrkosten der fremden Ware, die natürlich durch die Transportkosten, eventuell auch den Zoll bestimmt sind, preisbestimmend. Natürlich hängt der Einfluß der Transportkosten immer auch von dem Verhältnis des Warengewichtes zum Warenwert ab: Bei Schmuckgegenständen spielen die Frachtkosten keine, bei Getreide oder Kohle eine große Rolle.

5. Wie groß dieser Tribut an die Grundbesitzer ist, können wir nicht berechnen. Die Statistik sagt uns zwar, wieviel Getreide wir aus Ungarn zollfrei, aber trotzdem um den Zollbetrag verteuert, einführen. Die Größe des Tributs, den wir dank den Zöllen den ungarischen Großgrundbesitzern abführen müssen, läßt sich also in der Tat schätzen. Nach meiner Schätzung hat er im Jahre 1908 116,6 Millionen Kronen betragen. (Vergleiche Otto Bauer, Statistisches Material zur Frage der Lebensmittelteuerung, in: Der Kampf, III., Seite 72.) Rechnen wir keinen Gewinn am Gerstenzoll, da dieser Zoll bei der heutigen Marktlage nicht vollständig ausgenützt werden kann, so beträgt der Tribut an die ungarischen Agrarier immer noch 110,6 Millionen Kronen. Wie groß aber der Gewinn der österreichischen Agrarier an den Zöllen ist, können wir nicht berechnen. Wir wissen zwar, wie groß die Getreideernte in Österreich ist; wir wissen aber nicht, welcher Teil dieser Ernte auf den Markt kommt. Ein großer Teil wird ja überhaupt nicht verkauft, sondern im Haushalt der Landwirte selbst als Saatkorn, Lebensrnittel und Viehfutter verwendet. Die Schätzung Renners in seinem Referat auf dem Reichenberger Parteitag (Protokoll, Seite 257) scheint mir daher unbegründet.

6. Die österreichische Regierung versuchte zunächst, die Konvention zu umgehen und die Zuckerprämien in versteckter Form wieder einzuführen. Es geschah dies durch das Zuckerkontingentierungsgesetz vom Jahre 1903. Trotz des energischen Einspruchs des sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Ellenbogen wurde dieses Gesetz von den bürgerlichen Parteien angenommen. Nun trat ein, was Ellenbogen vorausgesagt hatte: Die englische Regierung erklärte das Gesetz für eine Verletzung der Brüsseler Konvention und drohte mit Strafzöllen auf österreichischen Zucker. Das eben erst beschlossene Gesetz mußte durch eine § 14-Verordnung widerrufen werden. Über die Geschichte der Ausfuhrprämien für Zucker vergleiche Hilferding, Das Zuckerkontingent, in: Deutsche Worte, 23. Jahrgang; Schippel, Zuckerproduktion und Zuckerprämien, Stuttgart 1903.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023