Otto Bauer

Die Arbeiterklasse
und die Teuerung

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Arbeitslohn und Warenpreis


Allen Klagen über die Teuerung setzen die Kapitalisten und die Agrarier immer wieder die Behauptung entgegen, die Arbeiter selbst hätten die Teuerung herbeigeführt. Die Erhöhung der Arbeitslöhne und die Verkürzung der Arbeitszeit hätten die Herstellungskosten der Waren erhöht; darum seien die Unternehmer gezwungen, für ihre Waren höhere Preise zu fordern. Nicht die Kapitalisten und die Grundbesitzer beuten die Bevölkerung aus; die Arbeiter selbst seien die wahren Ausbeuter; ihre unmäßigen Lohnforderungen seien die Ursache der Teuerung.

Es ist gewiß richtig, daß unsere Gewerkschaften den Arbeitern vieler Gewerbezweige höheren Lohn und kürzere Arbeitszeit errungen haben. Aber die Herstellungskosten der Waren sind keineswegs in demselbem Maße wie die Löhne der Arbeiter gestiegen. Das Verhältnis zwischen der Höhe der Arbeitslöhne und der Größe der Erzeugungskosten bedarf einer tiefer dringenden Untersuchung.

Zunächst muß an die bekannte Tatsache erinnert werden, daß mit der Erhöhung der Arbeitslöhne und mit der Verkürzung der Arbeitszeit die Leistungsfähigkeit der Arbeiter steigt. Als zum Beispiel in der optischen Werkstatt von Zeiß in Jena die Arbeitszeit von neun auf acht Stunden herabgesetzt wurde, stieg die Arbeitsleistung der Arbeiter in der Arbeitsstunde sofort um 16,5 Prozent; dreißig Arbeiter erzeugen jetzt in acht Stunden so viele Waren wie früher einunddreißig Arbeiter in neun Stunden. In den Schwefelsäurefabriken der belgischen Soctété des Produits Chimiques. wurde im Jahre 1892 von der zwölfstündigen zur achtstündigen Schicht übergegangen; nach wenigen Monaten gelang es den Arbeitern, in der achtstündigen Schicht mit denselben Ofen und Rohstoffen ebensoviel an gerösteter Blende herzustellen wie früher in zwölfstündiger Schicht. In der Maschinenfabrik von Mather u. Platt in Salford bei Manchester, die 12.000 Arbeiter beschäftigt, wurde im Jahre 1893 die wöchentliche Arbeitszeit von 53 auf 48 Stunden verkürzt; die Erzeugung ist trotzdem etwas gestiegen. In den staatlichen Werkstätten in England arbeiten seit 1894 18.641 Mann, die früher 53¾ Stunden wöchentlich gearbeitet hatten, nur noch 48 Stunden; der amtliche Bericht des englischen Kriegsministers sagt über die Wirkungen dieser Verkürzung der Arbeitszeit, daß weder die Erzeugungskosten gestiegen sind, noch der Ertrag sich verringert hat. Der Gewerbeinspektor für Unterelsaß berichtet, daß beim Übergang vom zwölf- zum elfstündigen Arbeitstag die Arbeitsleistung für den Webstuhl und den Arbeitstag je nach der Qualität des verwendeten Garns um 6,8 bis 19 Prozent gestiegen ist. [1] Je besser sich der Arbeiter ernährt, je mehr Zeit ihm zur Erholung bleibt, je gesünder er an Körper und Geist ist, desto größer ist seine Leistungsfähigkeit bei der Arbeit. Diese Tatsache war schon Adam Smith bekannt; seit dem Erscheinen von Brentanos berühmtem Schriftchen Über das Verhältnis von Arbeitszeit und Lohn zur Arbeitsleistung ist sie auch in deutschen Landen allen Gebildeten bekannt. In welchem Grade die Arbeitsleistung des Arbeiters durch die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen gesteigert wird, hängt freilich von der technischen Natur des Arbeitsprozesses ab. So schließt zum Beispiel der Arbeitsprozeß in der Weberei viel mehr Arbeitspausen ein als in der Spinnerei. Daß der gut entlohnte, gesunde Arbeiter mit kürzeren Arbeitspausen auskommt als der schlecht ernährte und übermüdete Lohnsklave, ist daher für die Weberei viel wichtiger als für die Spinnerei. Die Verkürzung der Arbeitszeit hat daher in der Weberei auf die Menge der erzeugten Ware überhaupt keinen Einfluß gehabt, während in der Spinnerei zunächst doch ein kleiner Produktionsausfall eingetreten ist, der erst allmählich überwunden wurde. Neben der Technik des Arbeitsverfahrens spielen auch noch das allgemeine Kulturniveau der Arbeiter, die Löhnungsmethoden, die Betriebsorganisation eine Rolle. Im allgemeinen kann man aber gewiß sagen, daß die Leistungsfähigkeit des Arbeiters desto größer ist, je höher der Lohn und je kürzer die Arbeitszeit. Schon darum ist es falsch, zu glauben, daß mit dem Steigen der Arbeitslöhne auch die Erzeugungskosten der Waren gestiegen sind.

Aber selbst wo die Lohnerhöhung durch das Steigen der Arbeitsleistung nicht ganz ausgeglichen wird, steigen doch die Erzeugungskosten niemals in demselben Maße wie die Löhne. Das von dem Unternehmer in der Erzeugung aufgewendete Kapital zerfällt ja stets in zwei Teile: in das variable Kapital (Lohnkapital), das zur Zahlung der Arbeitslöhne verwendet wird, und das konstante Kapital (Sachkapital), das zum Ankauf und zur Erneuerung .der Arbeitsmittel (Arbeitsstätte, Maschinen, Werkzeuge, Roh- und Hilfsstoffe und so weiter) dient. Vom Verhältnis dieser beiden Bestandteile des Kapitals zueinander hängt es ab, in welchem Ausmaße die Erhöhung der Lohnkosten die Gesamthöhe der Erzeugungskosten beeinflußt. Kostet zum Beispiel den Unternehmer die Herstellung einer Ware hundert Kronen, wovon dreißig Kronen auf Arbeitslöhne und siebzig Kronen auf alle sonstigen Herstellungskosten entfallen, und zwingt nun die Gewerkschaft den Unternehmer, den Arbeitern eine zehnprozentige Lohnerhöhung zuzugestehen, dann steigen die Lohnkosten von dreißig auf dreiunddreißig Kronen, die gesamten Herstellungskosten von hundert auf hundertdrei Kronen. In diesem Falle werden also die Herstellungskosten nur um drei Prozent erhöht, während die Arbeitslöhne um zehn Prozent gestiegen sind. Eine zehnprozentige Lohnerhöhung könnte also nur eine dreiprozentige Preiserhöhung begründen — um wieviel müßten die Arbeitslöhne gestiegen sein, damit ihre Erhöhung die gewaltige Preissteigerung der letzten Jahre begründen könnte, die bei vielen Waren dreißig, fünfzig und hundert Prozent beträgt.

In der Tat ist der Preis der wichtigsten Waren von der Höhe der Arbeitslöhne im Inlande vollständig unabhängig. Betrachten wir zum Beispiel den Preis des Zuckers. Das Zuckerkartell beherrscht den Markt. Es verkauft seine Ware so teuer, als es nur kann; es setzt also den Preis stets gerade so hoch fest, daß es die inländischen Händler nicht vorziehen, Zucker aus dem Ausland zu beziehen. Der Zuckerpreis im Inland ist also immer um eine Kleinigkeit niedriger als die Summe des Weltmarktpreises, der Frachtkosten und des Zolls. Werden nun die Arbeitslöhne in den Zuckerfabriken erhöht, dann kann das Zuckerkartell seine Ware trotzdem nicht teurer feilbieten; würde es mehr verlangen als den Einfuhrpreis ausländischen Zuckers, dann würden ja die Händler nicht österreichischen, sondern ausländischen Zucker kaufen, das österreichische Kartell könnte seine Ware nicht absetzen. Werden die Arbeitslöhne in den Zuckerfabriken herabgesetzt, dann sinkt der Zuckerpreis trotzdem nicht. Solange das Kartell den Markt beherrscht, wird es seine Machtstellung ausnützen und den Zuckerpreis immer um eine Kleinigkeit unter der Summe des Weltmarktpreises, der Frachtkosten und des Zolls halten. Ebenso wie mit dem Zucker steht es mit allen kartellierten Waren (zum Beispiel dem Eisen) und mit den Bodenprodukten, insbesondere dem Getreide. Ebenso ist der Kohlenpreis durch die Summe des Bezugspreises für ausländische Kohle und der Transportkosten begrenzt; erlangen die österreichischen. Kohlenknappen einmal höhere Löhne, dann können die Kohlengrubenbesitzer trotzdem die Kohle nicht teurer verkaufen, solange deutsche Kohle zu unverändertem Preise feilgeboten wird und die Transportkosten für fremde Kohle unverändert bleiben. Wo also der Preis der Waren im Inland durch den Preis konkurrierender ausländischer Waren bestimmt wird, ist er von den Arbeitslöhnen im Inland vollständig unabhängig. Kein denkender Mensch kann das Steigen der Zucker-, Eisen- und Getreidepreise auf das Steigen der Arbeitslöhne zurückführen.

Indessen wollen wir nicht leugnen, daß bei manchen anderen Waren die Erhöhung der Arbeitslöhne auf den Warenpreis einen gewissen Einfluß auszuüben vermag. Nehmen wir zum Beispiel an, die Löhne der Schneider seien erhöht worden, während in allen anderen Produktionszweigen die Arbeitslöhne unverändert blieben. Der Preis der Kleider wird trotzdem nicht sofort steigen; er hängt ja von Angebot und Nachfrage ab, und auf die Höhe des Angebotes und der Nachfrage hat die Lohnerhöhung keinen fühlbaren Einfluß ausgeübt. Die Konfektionsfirmen werden also die Kleider zunächst zum unveränderten Preis wie früher verkaufen müssen, obwohl die Erzeugungskosten gestiegen sind. Daher werden die Profite der Konfektionäre sinken. Die Kleiderkonfektion wird in den Kreisen der Kapitalisten als schlechtes Geschäft bekannt sein. Jeder Kapitalist wird sich hüten, neues Kapital in diesem Erwerbszweig anzulegen. Die Zahl der Konfektionsfirmen, die Größe ihrer Geschäftsbetriebe wird lange Zeit unverändert bleiben. Indessen wächst die Bevölkerung, daher auch die Nachfrage nach Kleidern, während das Angebot unverändert bleibt. Nach einigen Jahren wird das Mißverhältnis zwischen dem unveränderten Angebot und der steigenden Nachfrage den Konfektionsfirmen die Möglichkeit schaffen, ihre Waren teurer zu verkaufen. So hat allerdings das Steigen der Arbeitslöhne schließlich doch das Steigen des Warenpreises herbeigeführt. Aber diese Wirkung konnte erst nach Jahren herbeigeführt werden und nur dadurch, daß die Verringerung der Profite in der von der Lohnerhöhung betroffenen Industrie eine Verschiebung in dem Verhältnis zwischen dem Angebot und der Nachfrage herbeigeführt hat. Diese Wirkung wird dadurch herbeigeführt, daß das Kapital, das sonst der Konfektionsindustrie zugeströmt wäre, sich infolge der Lohnerhöhung gescheut hat, in diesem Gewerbszweig, der zeitweilig etwas geringere Gewinne abwirft, Verwertung zu suchen. Was geschieht aber mit diesem Kapital? Es strömt anderen Industriezweigen zu, in denen die Löhne niedrig, die Preise hoch, die Profite groß sind, dehnt dort die Produktion aus, vermehrt das Angebot. Nun sinken in diesen Industriezweigen die Warenpreise; und wenn sie nicht sinken, so stehen sie doch niederer, als sie stünden, wenn die Lohnerhöhung in der Konfektionsindustrie das Kapital nicht aus diesem Erwerbszweig verscheucht und in die anderen getrieben hätte. Die Erhöhung der Arbeitslöhne in einem einzelnen Produktionszweig kann ja nicht anderes bewirken als eine veränderte Verteilung des Kapitals auf die verschiedenen Produktionszweige. Eine solche Änderung der Kapitalverteilung mag in einem Produktionszweig die Preise erhöhen; aber sie kann dies nur, indem sie in anderen Produktionszweigen die Preise senkt oder doch ihr Steigen verhindert. Eine allgemeine Preissteigerung in fast allen Produktionszweigen kann auf diese Weise niemals herbeigeführt werden.

Nehmen wir nun an, die Arbeitslöhne seien nicht nur in einem einzelnen Produktionszweig, sondern in allen oder fast allen erhöht worden. Durch diese allgemeine Lohnerhöhung werden die Profite der Unternehmer verkürzt. Nun kaufen die Unternehmer andere Waren als die Arbeiter. Die Arbeiter kaufen Lebensmittel, die Unternehmer Luxusgegenstände für ihren persönlichen Gebrauch und Arbeitsmittel für die Erweiterung ihrer Betriebe. Wenn nun der Arbeitslohn steigt, der Profit sinkt, dann steigt die Nachfrage nach Lebensmitteln, es sinkt aber auch die Nachfrage nach Luxusgütern und Arbeitsmitteln. Es steigen daher die Preise der Lebensmittel, während die Preise der Luxusgüter und der Arbeitsmittel sinken. Auch auf diese Weise kann also eine allgemeine Teuerung nicht erklärt werden. Das allgemeine Steigen der Arbeitslöhne kann nur erklären, daß die Preissumme gewisser Waren steigt, während die Preissumme der anderen Waren um denselben Betrag sinkt. Die Kaufkraft der Unternehmer wäre ja in dem angenommenen Fall um denselben Betrag verringert worden, um den die Kaufkraft der Arbeiterklasse vermehrt worden ist. Natürlich werden auch solche Preisverschiebungen schließlich ausgeglichen. Die Erzeugung von Lebensmitteln würde m einem solchen Fall ausgedehnt, die Erzeugung von Luxusgütern und Arbeitsmitteln eingeschränkt. Sehr bald würden wieder die Lebensmittelpreise zu sinken, die Preise der anderen Waren zu steigen beginnen.

Die Masse der Werte, die in einem Jahr in der ganzen Gesellschaft erzeugt werden, zerfällt in zwei Teile: den einen Teil bildet die Summe der Arbeitslöhne, den anderen Teil nennen wir den Mehrwert. [2] Steigen die Arbeitslöhne, so wird darum nicht die Masse der Werte größer; sie ist ja durch die Größe der in dem Arbeitsjahr geleisteten gesellschaftlichen Arbeit bestimmt. Was sich ändert, ist nicht die Summe der Werte, sondern die Verteilung des Wertprodukts. Um den Betrag, um den die Lohnsumme steigt, sinkt der Mehrwert. [3]

Diese Tatsache wird aber dadurch verdeckt, daß die kapitalistische Konkurrenz durch das Streben nach Ausgleichung der Profitraten beherrscht wird. Wenn also die Erhöhung der Arbeitslöhne in einem einzelnen Produktionszweig die Profitrate senkt, während die Profitrate in den anderen Produktionszweigen unverändert bleibt, oder wenn das Steigen der Arbeitslöhne und Sinken der Profite die Nachfrage nach Gegenständen erhöht, die vornehmlich von Arbeitern gekauft werden, und dadurch auch die Profitrate in jenen Produktionszweigen steigert, die diese Gegenstände erzeugen, während gleichzeitig die Nachfrage nach den Waren, die vornehmlich von Unternehmern gekauft werden, und dadurch auch die Profitrate der Produktionszweige gesenkt wird, die diese Waren erzeugen, dann wird allerdings das Kapital den Produktionszweigen mit erhöhter Profitrate Zuströmen und sich von den Produktionszweigen mit geschmälerter Profitrate fernhalten. Es wird dann in einem Zweig der Produktion das Angebot gesteigert, der Preis gesenkt, in anderen Zweigen das Angebot verringert, der Preis erhöht. Lohnerhöhungen führen also in der Tat Preisveränderungen herbei, aber niemals eine allgemeine Preissteigerung, sondern steigende Preise auf der einen, sinkende auf der anderen Seite. Das Ergebnis dieser Preis- veränderungen ist aber nur dies, daß der Mehrwert, der der ganzen Klasse der Besitzenden zufließt und dessen Größe durch die Lohnerhöhungen in jedem Fall geschmälert wurde, auf die einzelnen Schichten der Besitzenden anders als vorher verteilt wird, so daß die Kosten der Lohnerhöhung schließlich nicht nur von den Unternehmern eines Industriezweiges, sondern von der ganzen Unternehmerklasse getragen werden. Wie immer aber die Besitzenden die Mehrwertbeute untereinander verteilen, die Beute selbst wird durch die Lohnerhöhungen verkleinert. [4]

Wie ist es nun zu erklären, daß die grundfalsche Ansicht, das Steigen der Arbeitslöhne sei die Ursache der allgemeinen Teuerung, in so weiten Kreisen verbreitet ist? Diese Erscheinung ist wohl darauf zurückzuführen, daß Lohnerhöhungen und Preissteigerungen sehr oft in dieselbe Zeit fallen. Ist der Geschäftsgang günstig, die Nachfrage nach Waren groß, dann steigen die Warenpreise. Erweitern die Unternehmer ihre Betriebe, ist die Nachfrage nach Arbeitskräften groß, dann ist die Gelegenheit dem gewerkschaftlichen Kampfe günstig; die Arbeiter können höhere Löhne erringen. So fallen Preissteigerungen und Lohnerhöhungen oft in dieselbe Zeit, in die Zeit der Hochkonjunktur. Kindliche Menschen glauben dann, im Steigen der Arbeitslöhne die Ursache der Teuerung suchen zu müssen. In Wirklichkeit sind nicht die Lohnerhöhungen die Ursache der Preissteigerungen, vielmehr ist die Hochkonjunktur die gemeinsame Ursache beider. Bei steigender Nachfrage werden die Warenpreise auch dann erhöht, wenn sich die Arbeiter mit unveränderten Löhnen begnügen.

Die Irrlehre, daß die Begehrlichkeit der Arbeiter für die Teuerung verantwortlich sei, wird aber auch von den Kartellen planmäßig erzeugt. Gerade der Preis kartellierter Waren ist von den Arbeitslöhnen im Inlande vollständig unabhängig. Aber die Kartelle lieben es, Lohnerhöhungen als Ausrede zu mißbrauchen, wenn sie ihre Ware verteuern. Die Eisen-, Kohlen-, Zuckerbarone verteuern ihre Ware natürlich nur zu dem Zwecke, um den Arbeitern höhere Löhne zahlen zu können.

Im Herbst 1909 sind die Milchpreise in Wien durch eine Preisverabredung, ein primitives Kartell der Milchwirte und Milchhändler, erhöht worden. Die Milchverteuerer erklärten natürlich, sie müßten höhere Preise fordern, weil sie ihren Melkern höhere Löhne zahlen müßten. Sehen wir zu, wie es mit diesem Argument stand, und nehmen wir an, die Melker hätten so hohe Löhne errungen, daß die Milchwirtschaft nicht mehr profitabel gewesen wäre. Dann hätten viele Landwirte gewiß die Milchproduktion aufgegeben. Die Verringerung des Angebots hätte den Preis der Ware bei freiem Wettbewerb schließlich in die Höhe getrieben. So war es aber nicht. Bei freiem Wettbewerb blieb der Milchpreis unverändert. Der Preis stieg nicht durch die Einschränkung des Angebotes, sondern durch das Diktat des Milchkartells. Ganz zutreffend hat Herr Professor Häusler, ein Führer der Agrarier, die Steigerung der Milchpreise erklärt; er erzählte nämlich den Industriellen, die Verteuerung der Milch trete dort, nur dort ein, wohin die Aufklärung durch die Landwirtschaftsgesellschaft dringt. Diese Aufklärung besteht nämlich in der Anleitung zur Gründung lokaler Milchkartelle. Wo ein solches Kartell gegründet wird, dort diktiert es den Preis der Milch. Von aller Konkurrenz befreit, kann es den Preis der Milch hoch festsetzen, wenn auch die Löhne der Melker nicht gestiegen sind. Dieser Preis hat nur eine Grenze. Er darf nicht so hoch sein, daß es für die Händler vorteilhafter wird, Milch aus einem anderen, entfernteren Produktionsgebiet zu beziehen. Der Milchpreis ist also durch die Transportkosten der Milch, durch die Frachtsätze der Eisenbahnen begrenzt; von den Löhnen der Melker, die im Dienste der kartellierten Milchwirte stehen, ist er unabhängig. Die niederösterreichischen Milchwirte hätten uns, auch wenn keine Lohnerhöhungen eingetreten wären, einen höheren Milchpreis diktieren können, sobald sie sich zu einem Kartell vereinigt hätten; und sie müßten, selbst wenn die Löhne der Melker noch weiter stiegen, den Milchpreis ermäßigen, wenn die Bezugskosten böhmischer oder nordmährischer Milch herabgesetzt würden.

In der Tat streitet auch die Erfahrung gegen die Behauptungen der Agrarier und der Kartellmagnaten. Österreich hat niedrigere Arbeitslöhne, aber höhere Warenpreise als England. Die Preise der landwirtschaftlichen Produkte sind in den letzten Jahren schneller gestiegen als die der Industrieprodukte, obwohl die Löhne in der Landwirtschaft langsamer steigen als in der Industrie.

Jahrzehntelang hat die bürgerliche Welt der sozialistischen Kritik die Behauptung entgegengehalten, auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sei die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse möglich; das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln hindere den Aufstieg der Arbeiterklasse nicht. Heute müssen die bürgerlichen Parteien und ihre Vertreter in der Wissenschaft selbst zugeben, daß die Teuerung den Arbeitern einen großen Teil dessen wieder geraubt hat, was sie sich in opfervollen Kämpfen erstritten haben; ja, durch die Mächtigkeit der proletarischen Organisationen geschreckt, gehen sie noch viel weiter als wir und behaupten gar, der Arbeiter müsse sich auf ewig mit erbärmlich niederen Löhnen begnügen, weil jede Lohnerhöhung die Warenpreise steigere, den Arbeitern selbst also die schwersten Opfer aufbürden müsse. Heißt das nicht, den Arbeitern alle Hoffnung rauben, daß sie innerhalb der bürgerlichen Welt sich jemals ein menschenwürdiges Dasein erkämpfen könnten? Müßten nicht, gerade wenn das Argument der bürgerlichen Gegner richtig wäre, die Arbeiter alle Kraft daransetzen, eine Gesellschaftsordnung zu zertrümmern, welche keiner Arbeiterschicht eine Lohnerhöhung gönnt, die nicht von der Arbeiterklasse selbst gezahlt werden müßte?

Die Argumentation der bürgerlichen Gegner ist unrichtig. Die Erhöhung der Arbeitslöhne ist nicht die Ursache der Teuerung. Wahr aber ist, daß die Teuerung uns einen großen Teil der Errungenschaften raubt, die wir unseren Gewerkschaften verdanken. Wenn die Gewerkschaften den Lohn auf Kosten des Mehrwerts erhöhen, so dehnt die Teuerung wieder den Mehrwert auf Kosten des Lohnes aus. Wiesehr auch der gewerkschaftliche Kampf den Geldlohn gesteigert hat, so ist doch der Sachlohn viel langsamer gestiegen; in den letzten Jahren ist er zweifellos gesunken. Die Teuerung ist heute in der Tat das furchtbarste Hemmnis des Aufstieges der Arbeiterklasse, der Kampf gegen die Teuerung eine unserer wichtigsten Aufgaben.

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Fußnoten

1. Vgl. Bernhard, Höhere Arbeitsintensität bei kürzerer Arbeitszeit, Leipzig 1909.

2. Der Mehrwert zerfällt wieder in folgende Teile: den Unternehmergewinn der Industriellen und der Kaufleute, den Zins des Leihkapitals, die Rente det Grundbesitzer und die Steuern, die Staat, Land und Gemeinde beziehen.

3. Die Lehre, daß die Erhöhung der Lohnsumme nicht das Steigen der Preissumme det Waren herbeiführen könne, beruht auf der Arbeitswerttheorie, nicht, wie Hainisch glaubt, auf der Quantitätstheorie über den Geldwert. Vgl. Hainisch, Die Teuerung, in: Österreichische Rundschau, 1909.

4. Vgl. Marx, Lohn, Preis und Profit, Frankfurt 1908. Eine genauere Analyse, die an dem Endergebnis übrigens wenig ändert, muß auch noch die Verschiedenheit der organischen Zusammensetzung des Kapitals in den verschiedenen Produktionszweigen berücksichtigen. Vgl. Marx, Das Kapital. III., 1., Seite 179 ff. Wie sich das Kapital auf die großen Zweige der gesellschaftlichen Produktion ie nach dem Verhältnis des Einkommens der Arbeiterklasse zu dem der Kapitalistenklasse verteilen muß, stellt Marx im 20. und 21. Kapitel des II. Bandes des Kapital dar. Daß ein Mann wie Hainisch gegen die sozialistische Lohntheorie polemisiert, ohne sich mit diesen Lehren auseinanderzusetzen, ist bezeichnend.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023