Otto Bauer

Das Finanzkapital

(1. Juni 1910)


Der Kampf, Jg. 3 9. Heft, 1. Juni 1910, S. 391–397.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Marxsche Oekonomie hat seit dem Tode von Karl Marx nur geringe Fortschritte gemacht. Die Marxisten betrachteten mit Recht die Popularisierung der Marxschen Lehre und ihre Verteidigung gegen die Angriffe der Gegner als ihre wichtigsten Aufgaben. Zum Ausbau, zur Fortbildung der ökonomischen Lehren von Karl Marx blieb uns wenig Zeit. Darunter hat schliesslich auch die Popularisierungsarbeit gelitten. Es ist der Kapitalismus der Sechziger- und Siebzigerjahre, nicht der Kapitalismus unserer Tage, der in dem grössten Teile unserer Propagandaliteratur dargestellt wird. Die neuesten Erscheinungen des Wirtschaftslebens wurden zwar in vielen wertvollen Artikeln, in manchen Broschüren behandelt; aber es fehlte uns ihre systematische theoretische Darstellung. Selbst in der bedeutendsten und selbständigsten ökonomischen Arbeit, die die Marxsche Schule, von Marxens und Engels’ Werken abgesehen, bisher hervorgebracht hat, selbst in Kautskys Agrarfrage haben die unmittelbare politische Absicht und das Bedürfnis nach gemeinverständlicher Darstellung die historisch-deskriptive Darstellung in den Vordergrund Igerückt, die theoretische zurückgedrängt. Indessen ist im Wirtschaftsleben aller entwickelten Nationen eine neue Welt erstanden; die älteren Darstellungen der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus genügten uns nicht mehr. Die Lücke, die so entstanden ist, wird nun endlich wenigstens teilweise ausgefüllt. Rudolf Hilferdings Finanzkapital gibt uns, was wir schon lange gebraucht haben. [1]

Hilferdings Gegenstand sind die neuesten Erscheinungen des Wirtschaftslebens. Die neueste ökonomische Literatur, auch die Zeitungsliteratur, die neuesten Kartell-, Bank- und Börsenenqueten liefern ihm den Rohstoff, den er verarbeitet. Er verarbeitet ihn als Marxist: Marxens ökonomische Begriffe sind die Werkzeuge seiner Arbeit, in das System der Marxschen Oekonomie werden die jüngsten Tatsachen der wirtschaftlichen Entwicklung eingespannt. Wohl steht Hilferding auch Marx mit voller Freiheit gegenüber. Er geht in der Geld- und Kredittheorie, in der Darstellung der Aktiengesellschaft, in der Krisentheorie ein gutes Stück über Marx hinaus, er bekämpft und berichtigt in der Lehre vom Zinsfuss die Ansichten des Meisters. Aber wenn er die Ergebnisse der Marxschen Arbeit nicht ungeprüft hinnimmt, so hat er sich doch Marxens Methode vollständig angeeignet. Und mit Marxens Methode hat er auch Marxens Darstellungsweise übernommen – die Darstellungsweise, ja selbst die Sprache einschliesslich der Anglizismen! Ganz ungefährlich ist diese Aneignung der Marxschen Darstellungsweise nicht. Marx hat, wie dies bei der Neubegründung einer Wissenschaft stets geschieht, ein ganzes System von anschaulichen Bildern und Vergleichen, von Metaphern, Tropen, Symbolen entwickelt, in die er seine Begriffe und Gesetze kleidet. Wir Jüngeren vergessen oft, dass wir in Bildern sprechen, wenn wir zum Beispiel sagen, der Wert des Produktionsmittels werde auf die produzierte Ware „übertragen“, der Wert finde im Preise seinen „Ausdruck“, das Wertgesetz trete in der Bewegung der Preise „in Erscheinung“. „Man glaubt, in reiner Prosa zu reden, und man spricht schon tropisch“, sagt Goethe in ähnlichem Zusammenhang. Nun geht durch die ganze Wissenschaft unserer Zeit die Tendenz, die Darstellungsweise der Wissenschaft vom bunten Bilde zum abstrakten Begriff fortzuentwickeln. Dieser Tendenz darf sich auch der Marxismus nicht entziehen. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist notwendig, weniger deshalb, weil Marx’ Bildersprache, die unter dem Einfluss der Hegelschen Bildersprache entstanden ist, manche Autoren (zum Beispiel Koppel und Hammacher) verleitet hat, den Marxismus im (Sinne einer idealistischen Metaphysik umzudeuten, sondern vor allem darum, weil diese Darstellungsweise eben nicht die Darstellungsweise der Wissenschaft unserer Tage ist, weil sie darum dem sieghaften Fortschritt des Inhaltes des Marxschen Systems Hindernisse bereitet. Dieses Bedürfnis befriedigt die Arbeit Hilferdings nicht, weil sie sich auch in der Darstellungsweise allzu eng an Marx anlehnt. Anderseits aber ist gerade diese enge Anlehnung an Marx doch wieder ein grosser Vorzug dieser Arbeit. Es gibt, auch Engels’ Schriften nicht ausgenommen, keine ökonomische Arbeit, die so völlig von Marxens Geist erfüllt, so rein in Marxens Darstellungsformen gegossen, so ganz auch in Marxens Sprache vorgetragen würde wie diese; das Werk liest sich fast wie ein weiterer Band des Kapital. Und doch werden mit diesen Mitteln die neuesten ökonomischen Erscheinungen bewältigt – Tatsachen, die Marx völlig unbekannt waren. In diesem Zusammenhang, in dieser völligen Bewältigung der neuen Tatsachen durch die alten Denk- und Ausdrucksmittel zeigt sich recht anschaulich die Fruchtbarkeit der Marxschen Lehre, ihre lebendige Wirksamkeit über die Lebensdauer ihres Schöpfers hinaus, ihre ungeschwächte Zeugungskraft. Darum sind wir Hilferding trotz aller Bedenken dafür zu Dank verpflichtet, dass er darauf verzichtet hat, Marxens Darstellungsmittel durch neuere, eigene zu ersetzen.

Die Grundlage des ganzen Werkes ist die Theorie des Geldes und des Kredits. Hilferding geht von Marxens aus. Auf dieser Grundlage versucht er, die jüngsten Erscheinungen des Geldwesens, insbesondere die eigenartige Entwicklung der österreichischen, der holländischen und der indischen Währung zu erklären. Dieser Versuch führt ihn dazu, Marxens in wesentlichen Punkten weiterzuentwickeln. Gerade in diesem Ausbau zeigt sich die Fruchtbarkeit der Marxschen Oekonomie. Ihr gelingt es, zu erklären, was der bürgerlichen Oekonomie Rätsel bleiben musste.

Die Geldtheorie ist der komplizierteste Teil der ganzen politischen Oekonomie. So scheint es, als hätten wir es hier nur mit entgegengesetzten theoretischen Ansichten zu tun, die von der sozialen Stellung ihrer Urheber vollständig unabhängig wären. Und doch spiegelt sich auch in der Geldtheorie die ganze Gesellschaftsentwicklung! Die ältere Geldtheorie war erfüllt vom Geiste des Liberalismus. Wie die liberale Vulgärökonomie alle Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft als natürliche Kategorien ansieht und jeden Eingriff des Staates als eine zweckwidrige Störung der natürlichen Harmonie betrachtet, so hält sie auch das Geld für eine Sache, der der Geldcharakter durch die Natur selbst zugewiesen, deren Wert notwendig in ihr selbst gelegen sei, während das staatliche Papiergeld nur gefährliche Störungen des Wirtschaftslebens bewirken könne. Je weiter sich aber die Kapitalistenklasse vom Liberalismus entfernt, je mehr sie das Wirtschaftsleben durch die bewusste Aktion grosser Organisationen regelt und den Staat als die umfassendste und mächtigste dieser Organisationen unmittelbar in ihren Dienst stellt, desto näher liegt es ihr, auch das Geld als das unmittelbare Produkt staatlicher Satzung anzusehen. Die Zeit ist reif für eine „staatliche Theorie des Geldes“. Die Marxsche Geldtheorie dagegen steht in der Mitte zwischen dem liberalen „Metallismus“ und Knapps „Chartalismus“. Da sie im Gelde die dingliche Vermittlung gesellschaftlicher Beziehungen erkennt, kann Hilferding zeigen, wie diese gesellschaftliche Beziehung, die sonst durch ein wertvolles Metall vermittelt wird, auch durch ein wertloses Stück Papier, das seine Geltung dem Gebot des Staates als eines Organs der Gesellschaft verdankt, hergestellt werden kann. Darin berührt sich Hilferdings Geldtheorie mit Knapps Chartalismus. Anderseits aber wissen wir, dass die Notwendigkeit der dinglichen Vermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen in der Anarchie der warenproduzierenden Gesellschaft begründet ist; daher sind der Ersetzung dieser dinglichen Vermittlung durch das bewusste Eingreifen des Staates Schranken gesetzt. So gibt Hilferdings Geldtheorie auch dem älteren Metallismus sein Recht.

Hilferdings Geldlehre ist an sich wichtig wegen der Erkenntnisse, die sie zur Erhellung der währungs- und bankpolitischen Probleme unserer Zeit beiträgt. Im Zusammenhang seines Werkes aber erscheint sie als die Grundlage, auf der sich seine Theorie des Finanzkapitals auf baut. Wir wollen die leitenden Gedanken dieses wichtigsten und originellsten Teiles des Werkes skizzieren, ohne auf die vielen wertvollen Einzelheiten, die er enthält, einzugehen.

Die Entwicklung der Produktivkräfte beherrscht die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. In unserem Zeitalter ändert sich das Verhältnis des arbeitenden Menschen zu den Arbeitsmitteln und zu den Rohstoffen seiner Arbeit überaus schnell. Immer gewaltiger wird das System der Maschinen, das dieselbe Menschenzahl in Bewegung setzt, immer ungeheurer die Menge der Rohstoffe, die dieselbe Zahl von Arbeitern verarbeitet, unermesslich das System der Verkehrsmittel, das derselben Zahl von Arbeitern diese Rohstoffe zuführt. Diese technische Umwälzung findet ihren kapitalistischen Ausdruck in der Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals: das konstante Kapital (Sachkapital) wächst viel schneller als das variable Kapital (Lohnkapital), das fixe Kapital (stehende Kapital: Gebäude, Maschinen, Schiffe, Eisenbahnlinien u. s. w.) weit schneller als das zirkulierende Kapital (umlaufende Kapital: Löhne, Roh- und Hilfsstoffe der Produktion). Der Kampf um möglichst hohen Profit zwingt jedes kapitalistische Unternehmen, einen Teil des jährlichen Profits zu akkumulieren und die Zusammensetzung seines Kapitals stetig in der Richtung der allgemeinen Entwicklungstendenz zu verändern. Die Vermehrung des Kapitals durch Aufhäufung des im eigenen Unternehmen erzielten Profits geht aber zu langsam vor sich, als dass die Unternehmungen auf diese Weise ihren Produktionsapparat schnell genug ausdehnen und umgestalten könnten. Es wird daher in immer höherem Masse Kredit in Anspruch genommen. Durch die Konzentration aller verfügbaren Kapitalsplitter in den Banken wird die Möglichkeit geschaffen, den Kredit auszuweiten.

Mit der technischen Umwälzung verändert sich daher das Verhältnis der Banken zur Industrie. Je gewaltiger der fixe Kapitalteil wird, desto weniger kann es den Industriellen genügen, für das zirkulierende Kapital Kredit in Anspruch zu nehmen. Wird aber auch für das fixe Kapital Kredit in Anspruch genommen, dann kann das kreditierte Kapital nur sehr schwer wieder zurückgezogen werden, die Bank gewinnt ein dauerndes Interesse an dem Unternehmen, dem sie Kredit gewährt, sie gewinnt Einfluss, Macht über das von ihr abhängig gewordene Unternehmen.

Aber auch die Ausweitung des Bankkredits genügt nicht, die industrielle Entwicklung von den Schranken des individuellen Eigentums zu befreien. Weit vollkommener erreicht die Aktiengesellschaft dieses Ziel. Sie ist dem Individualunternehmen überlegen in der Kapitalbeschaffung, da sie sich nicht an den einzelnen Kapitalisten, sondern an die ganze Kapitalistenklasse wendet, sie ist ihm überlegen in der Akkumulation, da die Bildung der Reservefonds und die Vermehrung des Kapitals von den Lebens- und Luxusbedürfnissen, den Familienschicksalen der Kapitalisten, vom Erbgang unabhängig ist; ihre Wachstumsenergie ist grösser, sie kann sich ungestört nach den Bedürfnissen der Technik ausdehnen. Die industrielle Betriebskonzentration wird von der individuellen Eigentumskonzentration losgelöst, von ihr unabhängig. Die individuellen Schicksale der einzelnen Kapitalistenfamilien berühren nicht mehr den industriellen Betrieb, sondern nur die Eigentumsbewegung der Aktien.

Der Kapitalist als Aktienbesitzer ist nicht mehr industrieller Unternehmer, sondern Geldkapitalist. Er fordert daher nicht den Durchschnittsprofit (Unternehmergewinn + Zins), sondern nur Zins. Wird ein industrieller Betrieb, in dem 1,000.000 K investiert sind und der einen durchschnittlichen Profit von 150.000 K (50.000 K Zins + 100.000 K Unternehmergewinn) abwirft, in eine Aktiengesellschaft verwandelt, so können, wenn der Zinsfuss 5 vom Hundert beträgt, für 3,000.000 K Aktien ausgegeben werden, da 3,000.000 K bei 5prozentiger Verzinsung 150.000 K tragen. Die Bank, die diese Umwandlung vornimmt, kann also für 3,000.000 K Aktien verkaufen, obwohl sie in die Aktiengesellschaft einen Betrieb einbringt, in dem nur 1,000.000 K investiert sind. Sie erzielt also einen Gründergewinn von 2,000.000 K. [2] Da die Aktionäre als Geldkapitaliten nur Zins beziehen, eignet sich die emittierende Bank den Unternehmergewinn bei der Gründung an. Der von der Bank kapitalisiert angeeignete Unternehmergewinn ist der Gründergewinn. Die Höhe des Aktienkapitals ist also gleich dem zum durchschnittlichen Zinsfuss kapitalisierten Ertrag des Unternehmens. Während der Profit nach dem Gesetz der Durchschnittsprofitrate durch die Grösse des Kapitals bestimmt ist, erscheint hier umgekehrt die Grösse des Aktienkapitals durch die Höhe des Profits bestimmt. Neben das fungierende Kapital, das im Betrieb investiert ist und die Grösse des Profits bestimmt, tritt das fiktive Kapital, das in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Summe der unter den Kapitalisten gehandelten Ertragsanweisungen, Einkommenstitel, die durch die Grösse des Profits bestimmt wird.

Diese Ertragsanweisungen werden an der Effektenbörse gehandelt. Die Spekulationsgewinne, die hier erzielt werden, sind kein Anteil an dem Mehrwert, sondern reine Differenzgewinne („profit upon alienation“), die aus der verschiedenen Bewertung der Ertragsanweisungen hervorgehen. Die Funktion der Effektenbörse ist es, den Preis der Ertragsanweisungen auf den zum Zinsfuss kapitalisierten Ertrag zu reduzieren. Während die Gleichheit der Profitraten auf das fungierende Kapital desto schwerer erreicht wird, je grösser das fixe Kapital wird – denn die Gleichheit der Profitraten kann ja nur durch das Abströmen des Kapitals von Produktionszweigen mit niedriger und Zuströmen zu Produktionszweigen mit hoher Profitrate erreicht werden – wird die Gleichheit der Zinsraten für das fiktive Kapital durch die Kursbildung an der Effektenbörse erreicht. Der Produktionsprozess selbst bleibt davon unberührt. Was an der Börse gehandelt wird, ist das von der Unternehmerfunktion losgelöste Eigentum. Die Börse ist der Markt für die „Zirkulation des Eigentums an sich“.

Die Scheidung des Eigentums von der Unternehmerfunktion beschleunigt die Konzentration des Kapitals. Einerseits wird die Betriebskonzentration von der Kon zentration des Eigentums losgelöst, jene geht schneller vor sich als diese. Anderseits vollzieht sich aber auch eine schnelle Eigentumskonzentration einmal durch Akkumulation des Gründergewinns, dauernd durch das Spiel der Spekulation selbst, die für die grösseren Kapitalisten ein Mittel ist, die kleineren, das „Publikum“, zu enteignen. Denn die grösseren Kapitalisten, insbesondere die Banken, können mit ganz anderer Aussicht auf Erfolg spekulieren als die kleineren: sie sind dank ihrer Verbindung mit den industriellen Unternehmungen über die einzelnen Gesellschaften besser unterrichtet; ihre Kapitalkraft erlaubt ihnen, im günstigsten Augenblick zu kaufen und zu verkaufen und Kursbewegungen, die sie wünschen, selbst herbeizuführen. Ueberdies aber erlaubt die Aktienform ihnen die Konzentration der wirtschaftlicher Macht noch über das Mass der erreichten Eigentumskonzentration hinaus. Zur Beherrschung einer Aktiengesellschaft ist keineswegs der Besitz des ganzen Aktienkapitals, nicht einmal der Besitz der Mehrheit der Aktien erforderlich; die Banken entwickeln eine kunstvolle Finanztechnik, deren Ziel es ist, mit möglichst wenig eigenem Kapital möglichst viel fremdes Kapital zu beherrschen.

Ist die Effektenbörse der Markt für das fiktive Kapital, so entwickelt sich an der Warenbörse der Handel mit fiktiven Waren. Da der Gebrauchswert der börsenmässig gehandelten Waren in den Standard-Typen vorausgesetzt ist, wird die Ware zum reinen Tauschwert. Ist sonst das Geld Repräsentant der Waren, so wird an der Börse die Ware zum blossen Repräsentanten des Geldes. Dient sonst in der Warenzirkulation das Geld als blosse Rechnungseinheit, so im börsenmässigen Differenzgeschäft die Ware. Können sonst im Warenhandel Werte umgesetzt werden, die ein Vielfaches des vorhandenen Geldvorrates darstellen, so an der Börse Warensummen, die ein Vielfaches der vorhandenen Warenvorräte bilden. Diese Spekulation erschliesst dem Bankkapital neue Verwertungsmöglichkeiten; sie führt zur Beherrschung wichtiger Zweige des Welthandels durch die Banken.

Diese ganze Entwicklung nennen wir die Mobilisierung des Kapitals. Der Industrie und dem Handel werden durch Vermittlung der Banken und der Börse Geldsummen zur Verfügung gestellt, die in den Händen ihrer Eigentümer nicht als produktives Kapital fungieren könnten. Es sind dies einerseits die Geldsummen, die zeitweilig aus dem Kreislauf des industriellen Kapitals heraustreten – die Grösse dieser Summen wächst mit der Entwicklung des fixen Kapitals – anderseits die Kapitalssplitter, die den nichtproduktiven Klassen gehören und die Ersparnisse der Kleinkapitalisten, Bauern, Arbeiter u. s. w. – die Grösse dieser Summen wächst mit der Konzentration aller Splitter des Geidkapitals in den Banken. Diese Summen wechseln beständig in ihrer Zusammensetzung und in ihrem Umfang. Immer aber bleiben in der Verwendung der industriellen und kommerziellen Kapitalisten Geldsummen, die in der Verfügung der Banken stehen. Industrie und Handel werden mit einem Kapital betrieben, das grösser ist als das Gesamtkapital, das industriellen und kommerziellen Kapitalisten gehört. Bankkapital, Kapital in Geldform, das auf diese Weise in industrielles und kommerzielles Kapital verwandelt wird, nennt Hilferding Finanzkapital. Ein wachsender Teil des in der Industrie und im Handel verwendeten Kapitals ist Finanzkapital, Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen. Je grösser dieserTeil wird, desto grösser die Macht der Banken über die Industrie.

Die Banken benützen diese Macht, um die Tendenzen zur Beschränkung der freien Konkurrenz zu stärken. Diese Tendenzen entstehen in der Industrie selbst. Je grösser die Masse des fixen Kapitals, desto grössere Hindernisse stellen sich der Ausgleichung der Profitraten entgegen. Insbesondere in der Sphäre des grössten Kapitals, wo der Kapitalzufluss durch die Aktienform überaus erleichtert und der Abfluss durch den grossen Umfang des fixen Kapitals überaus erschwert wird, und in den Sphären des kleinsten Kapitals, wohin sich alle Kapitalien drängen, die in den entwickelteren Sphären nicht mehr konkurrenzfähig sind, wird die Profitrate gesenkt. Ueberdies entstehen im Wechsel der Konjunktur empfindliche Verschiedenheiten der Profitrate zwischen den die Rohstoffe produzierenden und den diese Rohstoffe verarbeitenden Unternehmungen : in Zeiten der Prosperität schmälern die hohen Rohstoffpreise den Gewinn der Verarbeiter, in den Zeiten der Depression die niedrigen Preise den Gewinn der Rohstoffproduzenten. Es entsteht daher in der Industrie selbst die Tendenz, dem Sinken der Profitrate durch Beschränkung der Konkurrenz entgegenzuwirken. Diese Tendenz führt zur Bildung von Interessengemeinschaften (Verbindung mehrerer selbständiger Unternehmungen durch Verträge) und zu Fusionen (Verschmelzung mehrerer Unternehmungen zu einem Unternehmen). Dabei handelt es sich entweder um Verknüpfung gleichartiger Unternehmungen, deren Aufgabe es ist, die Konkurrenz zu beschränken und die Vorteile der grösseren Unternehmung auszunützen, oder um Kombinationen, Verbindungen von Rohstoffproduzenten mit den die Rohstoffe verarbeitenden Unternehmungen, deren Aufgabe es ist, das Schwanken der Profitrate infolge ungleichmässiger Bewegung der Rohstoffpreise; und der Preise der Fertigfabrikate zu beseitigen. Alle diese Verbindungen streben nach dem Monopol auf dem Markte. Die monopolistischen Interessengemeinschaften nennen wir Kartelle, die monopolistischen Fusionen Trusts. Das Monopol ist erreicht, wenn das Kartell oder der Trust jenen Teil der Produktion beherrscht, der in allen Phasen der Konjunktur, auch in der Depression zur Deckung der Nachfrage erforderlich ist. Die Mehrerzeugung, die während der Prosperität erfordert wird, kann den Outsiders überlassen bleiben. In der Prosperität verkaufen auch sie zum Kartellpreis; in der Depression setzt das Kartell den Preis auf seinen Produktionspreis herab, während die mit höheren Kosten arbeitenden Outsider zu diesem Preis nur noch mit Verlust arbeiten können.

Die Tendenz zur monopolistischen Organisation der Industrie wird durch die Entwicklung des Finanzkapitals gestärkt. Die Banken fördern die Monopolbildung, da sie gleichzeitig an verschiedenen konkurrierenden Unternehmungen interessiert sind; sie nützen ihre Macht über die industriellen Unternehmungen aus, um den Zusammenschluss herbeizuführen; sie erschweren durch Kreditverweigerung die Entstehung von Outsiders. So organisiert das Finanzkapital die Kartelle und Trusts, die dann ihrerseits den Handel ausschallen oder sich unterwerfen. Je grösser aber diese industriellen Gebilde werden, desto grössere Anforderungen werden auch an die Banken gestellt; die von den Banken geförderte Konzentration der Industrie gibt der Konzentrationstendenz im Bankwesen selbst neuen Anstoss. Denken wir uns diese Entwicklung bis zu ihrem theoretischen Endpunkt fortgeführt, so kommen wir zu einem Generalkartell, das von einer Generalbank beherrscht wird. Die ganze kapitalistische Gesellschaft wird bewusst geregelt durch eine Instanz, die das Ausmass der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt und durch die Preisfestsetzung den Arbeitsertrag auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits verteilt. Die Anarchie der Produktion wäre hier beseitigt; wir hätten eine bewusst geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Natürlich ist es undenkbar, dass die Entwicklung bis zu ihrem theoretischen Endpunkt fortschreitet. Lange bevor er erreicht wird, wird der Druck der Kapitalmagnaten unerträglich. „Die Expropriateurs werden expropriiert ...“

An die Darstellung der Entwicklung des Finanzkapitals reiht Hilferding einen Abschnitt an, der von den Wirtschaftskrisen handelt. Gegenüber den älteren Darstellungen der Marxschen Krisentheorie, auch der meinen (Neue Zeit, XXIII., 1., Seite 133 ff.) gegenüber führt Hilferding schlagend den Nachweis, dass „reine Geldakkumulation auf gesellschaftlichem Massstab unter Voraussetzung einer verringerten oder gleichbleibenden Produktion nicht möglich ist“. (Seite 352.) Im übrigen berührt sich Hilferdings Darstellung in den entscheidenden Punkten mit der meinen. Neu ist die Darstellung, wie sich das Sinken der Profitrate durchsetzt und die Darstellung der Veränderungen der Kreditverhältnisse und des Zinsfusses in den Schwankungen der Konjunktur – eine Darstellung, die auch viele wichtige Fragen der Notenbankgesetzgebung beantwortet. Die Illusionen Bernsteins sind durch Hilferdings Darstellung der Modifikation der Krisen durch das Finanzkapital wohl endgültig abgetan. Doch vermissen wir hier noch manches; insbesondere die Wirkungen der internationalen Verflechtung der Wirtschaftsgebiete auf die Konjunktur werden noch nicht erschöpfend dargestellt. So hat zum Beispiel das Steigen der Getreidepreise grosse internationale Wertverschiebungen zur Folge. Die Getreide exportierenden Länder werden auf Kosten der Importgebiete bereichert. Die west- und mitteleuropäischen Arbeiter können weniger heimische Industrieprodukte, die west- und mitteleuropäischen Grundbesitzer können mehr ameri kanische Aktien kaufen. Es ist offenbar, dass solche und ähnliche internationale Wertverschiebungen die Konjunktur wirksam beeinflussen. Die systematische Darstellung solcher Einflüsse würde manche Lücke in Hilferdings Werk ausfüllen.

Den Abschluss des Werkes bildet eine Darstellung der modernen Wirtschaftspolitik. Originell ist hier vor allem die theoretische Darstellung des Kapitalexports. Dagegen knüpft Hilferding in der Darstellung der Veränderungen der Handelspolitik, der Klassengliederung und der Klassenkämpfe, des gewerkschaftlichen Kampfes, in der Kritik des Imperialismus enger an manches an, was schon von anderen, insbesondere von Kautsky, Parvus, Cunow, auch von Hilferding selbst in der „Neuen Zeit“ und von mir in meiner „Nationalitätenfrage" ausgeführt worden ist. Trotzdem sind auch diese Kapitel sehr wichtig; sie sind die gemeinverständlichsten des ganzen Buches, ihre Argumentation wird uns im Kampfe gegen demokratische, freihändlerische und revisionistische Illusionen eine wirksame Waffe sein. Wünschenswert wäre wohl auch die Darstellung des modernen Staatskapitalismus gewesen, der Herstellung von Privatmonopolen durch unmittelbaren staatlichen Eingriff, wie sie durch den deutschen Kaligesetzentwurf, durch Bilinskis Plan eines „Petroleummonopols“, durch das österreichische Zuckergesetz von 1903, durch die brasilianische Kaffeevalorisation versucht wurde. Es ist charakteristisch, dass heute die Arbeiterklasse im Kampfe gegen den Staatskapitalismus in mancher Hinsicht an die Traditionen des Liberalismus anknüpft, so im Kampfe gegen die Schutzzölle, gegen gewisse kapitalistische Steuerprivilegien (Spirituskontingent!), gegen die staatliche Förderung der Privatmonopole; auch im Kampfe gegen den Imperialismus können wir uns auf die Argumente des liberalen „Kleinengländcrtums“ berufen. Eine Darstellung dieses eigenartigen Rollenwechsels der Klassen hätte die vollständige Veränderung der ganzen wirtschaftspolitischen Situation sehr anschaulich gemacht. Unsere Literatur ist voll der Kritik des alten Manchesterliberalismus. Der Gegner, den sie bekämpft hat, ist heute tot. An einer systematischen Darstellung und Kritik des neuen Gegners, der uns in den letzten Jahrzehnten erwachsen ist, hat es uns bisher gefehlt. Zu einer solchen Darstellung ist Hilferdings Buch der wertvollste Baustein 1

So sind es die wichtigsten Tatsachen der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus, die uns Hilferdings Buch vor Augen führt. Was Marx in seiner Lehre von der Konzentration des Kapitals, von den Entwicklungstendenzen des Kapitalismus nur in groben Umrissen skizzieren konnte, hier wird es zum bunten Bilde unserer Zeit. Was einst kühne Prophezeiung war, hier ist es zur Wirklichkeit geworden. Ein grosses Bild des Werdegangs der Gesellschaft tut sich hier auf. Wir sehen, wie der Kapitalismus in rastlosem Umgestalten des ganzen Wirtschaftslebens die Bedingungen seiner eigenen Ueberwindung schafft. Wiederum liegt der Weg zum Sozialismus erhellt vor unseren Blicken. Und angesichts des überwältigenden Bildes einer weltgeschichtlichen Umwälzung schämen wir uns des Kleinmuts, der uns in den Mühen des Alltags zuweilen befällt. Aus den Armseligkeiten des täglichen Kampfes hebt uns die marxistische Erkenntnis heraus, indem sie unseren Blick auf die treibenden Kräfte lenkt, die uns, von dem Wellenspiel der Oberfläche unberührt, aufwärts tragen, aufwärts in rastloser Bewegung, in immer schnellerem Laufe, unaufhaltsam aufwärts.

Diese Gewissheit, die die Theorie uns gibt, zu den Massen zu tragen, ist unsere wichtigste Aufgabe. Hilferdings Buch ist ein schweres Werk, das mühseliges Studium erfordert; zu den Massen wird das Buch selbst nicht dringen. Aber unserer Popularisierungsarbeit stellt es neue Aufgaben; unsere Presse, unsere Broschürenliteratur, unser Vortragswesen, unsere ganze Propagandaarbeit soll es und wird es bereichern. Diese Aufgabe zu erfüllen, scheint uns weit wichtiger als so manche lärmende Aktion, als so mancher mühevolle parlamentarische Kampf. Denn nur die Theorie kann das Gewissen der proletarischen Masse sein, nur sie befreit uns von dem verwirrenden Einfluss der bürgerlichen Umgebung, nur sie richtet uns auf, wenn die wechselvollen Erlebnisse des Tages uns zaghaft machen. Darum ist jede theoretische Leistung, mag sie sich unmittelbar auch nur an wenige wenden, in ihrer Fernwirkung doch fruchtbare Tat für uns alle. Denn „auch die Theorie wird Gewalt, wenn sie die Massen ergreift“.

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Anmerkungen

1. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien, Ignaz Brand u. Komp., 1910. – Die Arbeit erscheint gleichzeitig im dritten Bande der von Max Adler und Rudolf Hilferding herausgegebenen Marx-Studien. Der Band enthält ausser der Arbeit Hilferdings die schöne Studie der Genossin Grigorovici über die Wertlehre bei Marx und Lassalle. Wir haben diese Arbeit im Kampf bereits besprochen, als sie als Doktordissertation der Verfasserin erschienen ist. (Kampf, I., Seite 285 f.)

2. Tatsächlich ist der Gründergewinn kleiner, da der an die Aktionäre zu verteilende Profit durch die höhere Besteuerung, durch die Tantiemen und höheren Verwaltungskosten verringert wird.

 


Leztztes Update: 6. April 2024