Otto Bauer

Der Kampf um die Landtage

(1. September 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 12. Heft, 1. September 1908, S. 529–534.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Geschichte der Landtage

In ferne Vergangenheit führt uns die Geschichte der österreichischen Landtage. Im Kampfe der Grundherrenklasse mit der aufstrebenden landesfürstlichen Gewalt sind sie entstanden. Freie Herren über Land und Leute, dem Landesfürsten nur zur Hoffahrt und Heeresfolge verpflichtet, durch kein Staatsgesetz in ihrer Willkürherrschaft über die ihnen fronpflichtigen und ihrer Gerichtsbarkeit unterworfenen Bauern beschränkt, sahen die adeligen und geistlichen Grundherren ihre Macht und ihre Freiheit bedroht, seit die Produktion für den Eigenbedarf durch die Warenproduktion, die Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft zurückgedrängt wurde. Die Geldsteuer steigerte die Macht der Landesfürsten: sie gab ihm die Mittel, ein Söldnerheer zu werben, das ihn vom grundherrlichen Ritterheer unabhängig machte, Beamte in seinen Dienst zu stellen, die als seine Organe die Macht der Grundherren begrenzten. Im Kampfe gegen die landesfürstliche Gewalt schufen sich die Grundherren in den Ständen, den Vorfahren unserer Landtage, machtvolle Organisationen. Sie führten gegen den modernen Staat die Waffen des modernen Staates: auch sie gründeten auf Geldsteuern ihre Wirtschaft und bald stellten sie dem landesfürstlichen Heere ein ständisches, der landesfürstlichen Bureaukratie eine ständische gegenüber. So standen einander nun, voneinander unabhängig, auf demselben Boden zwei staatliche Gewalten gegenüber. Aber der landesfürstliche Staat ist des ständischen Herr geworden. Die Völker Oesterreichs haben seinen Sieg teuer bezahlt: er hat Oesterreich wieder der römischen Kurie unterworfen, er hat den Absolutismus der Bureaukratie begründet, er hat die Deutschen in Oesterreich drei Jahrhunderte lang von der kulturellen Entwicklung ihrer Nation ferngehalten, er hat die Tschechen in die traurige Rolle einer geschichtslosen Nation hinabgedrückt, er hat den kaum erst begonnenen Aufstieg der Slowenen um drei Jahrhunderte verzögert. Und doch hat der landesfürstliche Absolutismus die Grundlagen des modernen Staates in Oesterreich geschaffen : von der Entwicklung der Warenproduktion emporgetragen, hat er das einheitliche Wirtschafts- und Rechtsgebiet geschaffen, durch die merkantilistische Politik die Grundsteine zum Aufbau unserer Industrie gelegt, die Hörigkeit des Bauern beseitigt, seine Robot- und Abgabepflicht beschränkt, die moderne Staatsverwaltung begründet, die Volksschule geschaffen, den Staat von kirchlicher Bevormundung befreit. Sein Siegeszug beginnt wohl mit den Greueln der Gegenreformation, aber er gipfelt in den theresianischen und josefinischen Reformen. Und dieses grosse Werk, durch das der moderne Staat in Oesterreich erst entstanden ist, ward vollbracht in siegreichem Kampfe der Fürstengewalt gegen die Grundherrenklasse, der im Kampfe des Absolutismus gegen die Stände seinen politischen Ausdruck fand.

Im Kampfe gegen die Landtage hat der Absolutismus die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gefördert. Aber das Geschöpf hat seinen Schöpfer besiegt. Die bürgerliche Revolution hat das bürgerliche Reichsparlament neben die Fürstengewalt gesetzt. Noch einmal sammelte nun die Grundherrenklasse in den Landtagen ihre Macht. Im Kampfe der Länder gegen das Reich barg sich einst der Kampf der Grundherrenklasse gegen die Fürstengewalt, barg sich später ihr Kampf gegen die Bourgeoisie. Aber wie einst der Landesfürst, so hat nun auch das Bürgertum über die Grundherrenklasse, wie einst der Absolutismus, so hat nun auch das Reichsparlament über die Landtage triumphiert.

Mit dem Siege des Absolutismus waren einst die nichtdeutschen Nationen aus dem Kulturleben, aus dem Leben des Staates verschwunden. Aber gerade die durch den Absolutismus geförderte Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise hat sie wieder aus geschichtslosem Dasein zu neuem Kulturleben und neuem politischen Wollen emporgeführt. Auf die Landtage, die einst die Organisation ihres nationalen Adels gegen den germanisierenden Absolutismus gewesen, mussten sie zuerst im Kampfe um nationale Selbständigkeit ihre Hoffnung setzen. Aber nicht die nationale Grundherrenklasse ist wiedererstanden, sondern die breiten Volksmassen hat die moderne Wirtschaftsentwicklung mit neuem nationalen Leben erfüllt; nicht die Länder, die historischen Herrschaftsgebiete der Grundherrenklassen, sondern die die breiten Volksmassen umspannenden nationalen Gemeinschaften sind die zukunftssicheren, von der modernen Gesellschaftsentwicklung emporgetragenen Mächte unseres kulturellen und staatlichen Lebens. Die historischen Landesgrenzen und Landesvertretungen erweisen sich nun nur noch als Hemmnisse einer neuen Verfassung, die jeder Nation Selbstregierung begründet und keine mehr fremder Herrschaft unterwirft.

So ist die Entwicklung über die Landtage hinweggeschritten. Ihre Historie ist die Geschichte der Grundherrschaft, der Hörigkeit und der Robot, der sozialen und nationalen Fremdherrschaft; die Geschichte ihrer Niederlagen ist die Entwicklungsgeschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft, des modernen Staates, der modernen, das ganze Volk umfassenden nationalen Gemeinschaft. Mag den tschechischen Arbeitern der böhmische, den polnischen der galizische Landtag noch als ein dürftiger Ersatz eines wirklichen nationalen Parlaments erscheinen, den deutschen Arbeitern ist kein ihnen teures Stück der Geschichte ihres Volkes, sondern nur die Erinnerung an Entrechtung und Ausbeutung mit der Geschichte der Landtage verknüpft.

Und dennoch sehen wir nun, wie die Arbeiter Oesterreichs überall sich zum Kampfe um die Landtage rüsten. Dreimal schon hat der Sozialdemokratische Verband im Abgeordnetenhause den Ruf nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für die Landtage erhoben: im Zusatzantrag Renner zu Gessmanns Antrag über die Sanierung der Landesfinanzen, in dem Dringlichkeitsantrage Eldersch im Jahre 1907 und in dem Dringlichkeitsantrage Soukup im Jahre 1908. In allen Kronländern hat die Arbeiterschaft den Kampf für das Landtagswahlrecht aufgenommen. In Niederösterreich marschiert sie eben jetzt zum Landtagswahlkampf.

Diese Bemühungen der Arbeiterklasse haben ihren triftigen Grund. Wohl hat die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft den Landtagen die Hoffnung geraubt, sich an die Stelle des Reichsparlaments setzen zu können; aber sie hat zugleich auch in den arbeitenden Volksmassen neue Bedürfnisse geschaffen, zu deren Befriedigung zunächst auch die Landtage berufen sind. Die Landstuben, einst die Mittelpunkte der grundherrlichen Rebellion, werden nun die Stätten des Klassenkampfes um die soziale Verwaltung.
 

Soziale Verwaltung

Bäuerliche Hauswirtschaft und handwerksmässige Warenerzeugung beruhen auf der individuellen Produktion: der Bauer mit seinen Angehörigen, der Handwerker mit wenigen Gehilfen und Lehrlingen schaffen sich im Schweisse ihres Angesichts ihr täglich Brot. Der individuellen Produktion entspricht individuelle Bedürfnisbefriedigung. Was die Wirtschaft oder das Gewerbe des Hausvaters trägt, gibt der Familie ihre Nahrung. Im Hause empfangen die Kinder ihre Erziehung, der Besitz und die Arbeit der Familiengenossen sorgen auch für die Pflege kranker, für die Ernährung arbeitsunfähiger Familienmitglieder und im Ausgedinge empfängt noch der Greis seine Versorgung.

Die kapitalistische Warenetzeugung dagegen beruht auf gesellschaftlicher Produktion. Hunderte von Lohnarbeitern, von Heimarbeitern, Hausindustriellen oder kapitalshörigen Handwerkern sind einem kapitalistischen Unternehmen untertan; Dutzende solcher Unternehmungen leitet ein Kartellbureau; Dutzende solcher Kartelle beherrscht eine Grossbank. Millionen nennen nichts als die Kraft ihrer Arme ihr eigen; sind sie arbeitsfähig und glücklich genug, eine Arbeitsstelle zu finden, dann mag ihr Arbeitslohn sie schlecht und recht ernähren. Aber der Arbeitslose und Arbeitsunfähige, das Kind und der Greis, der Kranke und Invalide erfährt es in bitterster Not, dass, wie Karner einmal sagte, ein Menschenleben nicht auf einen Wochenlohn gegründet werden kann. Die kapitalistische Gesellschaft hat die Volksmassen ihres Besitzes enteignet; nun muss sie aus ihrem eigenen Besitz für die Bedürfnisse der arbeitsunfähigen Enteigneten sorgen, will sie sie nicht auf der Landstrasse elend verkommen lassen. Sie muss ihre Kinder in Volksschulen unterrichten und in Suppenanstalten speisen, in Findlingsheimen, Kinderhorten und Kinderheimen, Waisenanstalten erziehen; sie muss Krankenkassen und Krankenhäuser für die Siechen schaffen; sie muss durch Alterspensionen oder Altersversicherung, durch Armenversorgung und Armenunterstützung den Arbeitsunfähigen ihr Brot sichern. Die gesellschaftliche Produktion führt so zur Vergesellschaftung der Bedürfnisbefriedigung.

Die Vergesellschaftung der Produktion ist das Werk des Kapitals; die organisierte Gesellschaft, der Staat und die öffentlichrechtlichen Verbände innerhalb des Staates verfügen nur über einen sehr kleinen Teil der gesellschaftlichen Produktionsmittel. Erst das siegende Proletariat wird die gesellschaftlich genutzten und geleiteten Produktionsmittel in den Besitz der organisierten Gesellschaft überführen und dadurch die kapitalistische Produktionsweise selbst aufheben. Um die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung dagegen kümmert sich das Kapital nicht; durch das Anwachsen der besitzlosen Volksklassen längst schon zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden, muss sie auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft schon vom Staat und den Kommunalverbänden besorgt werden. Hier erwachsen also dem Staat, den Ländern und Gemeinden heute schon neue Aufgaben, eben jene, die wir unter dem Begriff der sozialen Verwaltung zusammenfassen.

Diese neuen Verwaltungsaufgaben erscheinen zunächst als ein Interesse aller; auch der Bürger wünscht nicht, dass der Arbeitsunfähige dem Hungertode preisgegeben werde. Aber die Fürsorge für die Bedürfnisse, die Millionen selbst nicht befriedigen können, erfordert gewaltige Mittel; die kapitalistische Gesellschaft, die den gesellschaftlichen Arbeitsertrag als Unternehmergewinn, Kapitalzins, Grundrente, Arbeitslohn auf die einzelnen verteilt, kann diese Mittel nur in der Form von Steuern von den einzelnen wieder einfordern. Die Teilnahme des Bürgers am Schicksal des Arbeitsunfähigen verschwindet sofort, wenn er durch erhöhte Steuern zum Ausbau der sozialen Verwaltung beitragen soll. Er bekämpft nun den Ausbau der sozialen Wohlfahrtspflege überhaupt; oder er fordert, dass ihre Kosten durch indirekte Steuern von den besitzlosen Klassen selbst aufgebracht werden. So muss sich denn die Arbeiterklasse die Fürsorge für ihre Kinder und Greise, ihre Kranken und Invaliden erkämpfen: die soziale Verwaltung und die Aufbringung der Mittel für sie werden zum Gegenstände des Klassenkampfes. In ihm findet der Widerspruch zwischen dem Privateigentum der Besitzenden und dem Bedürfnis der Besitzlosen nach gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung seinen Ausdruck.

In den angelsächsischen Ländern mit ihrer breiten Ausdehnung der Selbstverwaltung hat die Arbeiterschaft dem Ausbau der sozialen Verwaltung in den weiteren und engeren Kommunalverbänden längst die lebhafteste Aufmerksamkeit geschenkt und den Kampf um sie in verschiedenen Formen mit nicht geringem Erfolge geführt; es war dies einer der vielen Umstände, die ihre Aufmerksamkeit von dem Klassenkampfe um die Reichsgesetzgebung abgelenkt haben. Auf dem Festlande dagegen hat die bureaukratische Verwaltungsorganisation das Interesse der Arbeiterschaft fast ausschliesslich der Reichsgesetzgebung zugewendet. Die Mühe um den allmählichen Ausbau der einzelnen Anstalten und Institutionen, die der sozialen Fürsorge dienen, erschien hier recht kleinlich im Vergleiche mit den grossen politischen Kämpfen; so ward und wird noch das Problem der sozialen Verwaltung vielfach geringgeschätzt, kaum viel höher als das Interesse an den Werken privater Wohltätigkeit. Und doch wurzelt das Interesse des Proletariats an dem Ausbau der sozialen Verwaltung in der ganzen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion, die die Vergesellschaftung eines Teiles der Bedürfnisbefriedigung zur unabweisbaren Notwendigkeit macht, und doch wird die soziale Verwaltung zum Streitobjekt im Klassenkampfe, in dem der Widerspruch zwischen dem Privateigentum und den unvermeidlichen Folgen der Vergesellschaftung der Gütererzeugung durch das Kapital gerade auf diesem Gebiete überaus anschaulich zum Ausdruck kommt.

In anderen Staaten haben die herrschenden Klassen es versucht, durch den Ausbau einiger Zweige der sozialen Verwaltung die Arbeiterklasse zu beruhigen und in der Gefolgschaft der bürgerlichen Parteien zu erhalten. In Oesterreich haben die besitzenden Klassen diesen Versuch in den Achtzigerjahren wohl auch unternommen, nach seinem ersten Misslingen aber nicht mehr fortgesetzt. Hier wird sich also die Arbeiterklasse jedes Stück sozialer Verwaltung in hartem Kampfe selbst erobern müssen. Darum ist im Reiche die Alters- und Invaliditätsversicherung ihre erste Forderung nach der Eroberung des gleichen Stimmrechts. Darum geht sie nun den Landtagen an den Leib, die für uns vor allem unentbehrliche Werkzeuge im Kampfe um die soziale Verwaltung sind.
 

Die Arbeiterklasse und die Landtage

Den Landtagen weist unsere Verfassung viele wichtige Zweige der sozialen Verwaltung zu. Erscheinen die Landtage heute trotzdem als recht armselige Körperschaften, so ist dies darauf zurückzuführen, dass die Landtage einerseits ihre alte politische Bedeutung, die im Kampfe gegen das Reichsparlament lag, verloren, andererseits aber mit dem Ausbau der sozialen Verwaltung noch kaum begonnen haben. Es handelt sich nicht darum, den Kompetenzenkreis der Landtage zu erweitern, sondern darum, sie innerhalb ihres jetzigen Kompetenzenkreises auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge zu erhöhter Tätigkeit zu zwingen. Das Interesse der Arbeiterklasse an der Volksschule, an den Anstalten zur Erziehung elternloser Kinder, an den Krankenanstalten, an der Armenpflege, an den Naturalverpflegsstationen, Besserungs- und Zwangsarbeitsanstalten zwingt sie zum Kampfe um die Landtage.

Noch wichtigere Aufgaben der sozialen Verwaltung sind den Gemeinden zugewiesen; an der Wohnungsfürsorge, der kommunalen Schul- und Armenverwaltung, der Verstadtlichung wichtiger Zweige der Produktion, der Markt- und Sanitätspolizei hat die Arbeiterschaft das grösste Interesse. Nun obliegt aber die Gemeindegesetzgebung dem Landtage; der Weg in die Gemeindestuben führt durch das Landhaus. So ist es also das Interesse an dem Ausbau der sozialen Verwaltung im Lande und in der Gemeinde, das die Arbeiterklasse in den Kampf um die Landtage führt.

Wo wir aber erhöhte Fürsorge für die Kinder, die Kranken, die Arbeitsunfähigen und Arbeitslosen verlangen, dort fürchten die besitzenden Klassen die Erhöhung der direkten Steuern. Darum verweigern sie, was wir verlangen, und lassen lieber alljährlich Tausende armer Findelkinder sterben, ehe sie die Erhöhung der Pflegegebühren auf sich nehmen. Der Kampf um die soziale Verwaltung wird nun zum Klassenkampfe. Darum halten sie an den Wahlrechtsprivilegien im Lande und in der Gemeinde zäher fest als im Reiche: dort werden unsere Vertreter von den Abgeordneten der noch agrarischen Länder überstimmt, in industriellen Ländern und Gemeinden dagegen hätte die Arbeiterklasse sehr bald die Mehrheit der Vertreter. Der Klassenkampf um die soziale Verwaltung wird so zum Kampfe um das Landtags- und Gemeindewahlrecht.

Die Arbeiterklasse kann sich nicht darüber täuschen, dass hier weit grössere Hindernisse einem schnellen und vollständigen Erfolge entgegenstehen als im Kampfe um das Reichsratswahlrecht. Aber schon im Kampfe erfüllen wir unsere grosse Erziehungsaufgabe. Es ist undenkbar, dass irgend eine Schichte des Proletariats dauernd im Gefolge einer bürgerlichen Partei verharrt, die dem Arbeiter im Lande und in der Gemeinde nicht einmal die formale politische Gleichberechtigung zugesteht.

Andererseits aber wird unser Kampf um die Landesvertretungen, die Furcht vor der werbenden Kraft der Arbeiterpartei die Landtagsmehrheiten zu Zugeständnissen an die Arbeiterklasse zwingen. Sie werden es versuchen müssen, durch schrittweise Ausgestaltung der sozialen Verwaltung die schlagende Kraft unserer Kritik zu verringern.

Jeder Schritt auf diesem Wege bringt sie aber dem Abgrunde des finanziellen Bankerotts näher. Das Reich hat den Ländern nur einen kleinen Teil der indirekten Steuern überlassen; die Erhöhung der direkten Steuern verwehrt ihnen die Selbstsucht der besitzenden Klassen, die sie regieren. Jede Ausgestaltung der sozialen Wohlfahrtspflege, jede Reform des Volksschulwesens erfordert aber grosse Summen. Gestehen doch die christlichsozialen Verwalter des Landes Niederösterreich, dass sie nicht einmal imstande sind, die Findlingspflegegebühren ausreichend zu erhöhen, weil sie es nicht wagen, das Erfordernis durch eine allgemeine Erhöhung der Zuschläge zu den direkten Steuern aufzubringen. Zwingen wir die Landtagsmehrheiten zum Ausbau der sozialen Verwaltung, so führen wir dadurch eine grundsätzliche Reform der Landesfinanzen, die finanzielle Auseinandersetzung zwischen dem Reiche und den Ländern herbei.

Das Zuschlägesystem hat schon technisch schwere Nachteile: so würde zum Beispiel der vom Finanzminister dem Abgeordnetenhause vorgelegte neue Steuerplan durch die bloss nominelle Ermässigung dei‘ Höhe der staatlichen Ertragsteuern alle Kronländer zu einer allgemeinen Erhöhung ihrer Umlagesätze zwingen. Es macht einerseits die Kronländer von jeder Veränderung der staatlichen Steuergesetzgebung abhängig, entzieht aber auch dem Staate den Einfluss auf die wirkliche Höhe der Steuern: so nimmt zum Beispiel der Regierungsentwurf über die Reform der Gebäudesteuer den Ländern die Möglichkeit, die Gebäude während der Baufreijahre zu besteuern, aber der Finanzminister ist nach diesem Entwürfe auch wehrlos dagegen, wenn die Länder sich durch die Erhöhung der Zuschläge zur Zinssteuer entschädigen und dadurch vielleicht die volkswirtschaftlichen Wirkungen der Zinssteuerreform nicht unwesentlich modifizieren. Endlich aber erweist sich das Umlagensystem heute schon als unzureichend, die wachsenden Bedürfnisse der Länder zu befriedigen. Durch Erhöhung der staatlichen indirekten Steuern und Ueberweisung des Ertrages an die Länder sollen heute die Finanzen der Kronländer »saniert« werden. Wird durch den von uns erzwungenen Ausbau der sozialen Verwaltung das Erfordernis der Länder noch bedeutend erhöht, dann wird sich die Fortführung dieser planlosen Finanzwirtschaft sehr bald als unmöglich erweisen. Die finanziellen Schwierigkeiten der Kronländer werden eine grundsätzliche Neuregelung des staatlichen und autonomen Steuerwesens erzwingen. Wird aber erst das grosse Problem der endgültigen Verteilung der Steuerquellen auf das Reich und die Länder aufgerollt, dann werden bei dieser Auseinandersetzung die in den Kronländern entrechteten Klassen und die in den Landtagen majorisierten Nationen sehr laut ihre Stimme erheben; sie werden keine endgültige Lösung des Problems ohne Sicherung ihrer Ansprüche zulassen. Die Lösung des finanziellen Problems wird nur im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung der Kronländer mit dem Reiche auf der einen, mit den Nationen auf der anderen Seite möglich sein. Schon hier zeigt es sich, wie der Kampf der Arbeiterklasse um die Landtage zur Triebkraft der Reorganisation unserer Verfassung und Verwaltung wird.

Aber nicht nur das Verhältnis der Kronländer zum Reiche, sondern auch ihr Verhältnis zu den Gemeinden und höheren Kommunalverbänden wird unter dem Einflüsse des proletarischen Kampfes recht wesentlich verändert werden. So dürftig unsere soziale Verwaltung auch ist, lässt doch auch sie nun schon den Mangel einer ihr angemessenen Verwaltungsorganisation erkennen. Das Land Niederösterreich steht zum Beispiel einerseits der Riesengemeinde Wien, andererseits kleinen Dorfgemeinden gegenüber, die nicht zu Bezirks- und Kreisgemeinden verbunden sind; und das Verhältnis des Landes zur Gemeinde Wien soll dasselbe sein wie das zur kleinsten Dorfgemeinde! Die lebendigen Bedürfnisse der Verwaltung lassen sich nicht in eine solche sinnwidrige Verwaltungsorganisation zwängen. Heute schon hat der Landtag dem Wiener Stadtrat und Bezirksschulrat Verwaltungsaufgaben überlassen müssen, die für die übrigen Gemeinden des Landes der Landesausschuss und der Landesschulrat besorgen. Der Landesausschuss ersetzt so für das flache Land die Bezirks- und Kreisgemeinden. Diese unlogische Verwaltungskonstruktion wird desto weniger, erträglich erscheinen, je mehr die soziale Verwaltung des Landes ausgebaut wird. Wien wird nicht seine Landessteuern Verwaltungsaufgaben widmen wollen, die das Land nur für die Gemeinden ausserhalb Wiens besorgt, während die Stadt Wien sie aus eigenen Mitteln selbst bestreiten muss; und das flache Land wird nicht wünschen, dass die Vertreter Wiens über eine Verwaltung mitberaten und beschliessen, die ihren Wirkungskreis auf Wien nicht erstreckt. Je mehr die soziale Verwaltung im Lande ausgestaltet wird, desto dringender wird die Notwendigkeit, die Ortsgemeinden ausserhalb Wiens zu Bezirksund Kreisgemeinden zu vereinigen, die ebenso wie die Stadt Wien gewisse, bisher vom Lande besorgte Verwaltungsaufgaben übernehmen können. Die Dezentralisation der Landesverwaltung durch Bildung höherer Kommunalverbände als der natürlichen Grundlagen einer modernen Lokalverwaltung wird die natürliche Folge unseres Kampfes um den Ausbau der sozialen Wohlfahrtspflege sein.

Es ist einleuchtend, wie eng auch diese Umwälzung unserer Verwaltungsorganisation wiederum mit den nationalen Problemen zusammenhängt. Sehr anschaulich hat dies Genosse Seliger in seiner Rede zum Dringlichkeitsantrag Soukup im Abgeordnetenhause gezeigt. Sobald die Macht der Arbeiterklasse den Ausbau der sozialen Fürsorgetätigkeit in Böhmen erzwingt, wird es sich zeigen, dass das grosse, ökonomisch, kulturell und national so differenzierte Land nicht von einer Stelle aus die Aufgaben der sozialen Verwaltung besorgen kann. Die Bildung von Bezirks- und Kreisgemeinden wird sich dann sehr bald als notwendig erweisen. Die Bezirks- und Kreisgemeinden jeder der beiden Nationen werden sich aber natürlich zur Besorgung gewisser Verwaltungsaufgaben vereinigen. So wird die Grundlage wirklicher nationaler Selbstregierung geschaffen. »Durch die Landtagswahlreform zur Verwaltungsreform, durch die Verwaltungsreform zur nationalen Selbstregierung« führt, wie Seliger meint, der Weg.

Wenn also die Arbeiterklasse den Landtagen eine erhöhte Aufmerksamkeit zuwendet und ihre Macht im Kampfe um die politische Vertretung im Lande einsetzt, so wird nicht die Konservierung oder gar Neubelebung der historischen Landesvertretungen die Wirkung dieses Kampfes sein, sondern die Beschleunigung der Entwicklung zu einer völligen Umwälzung unserer Verfassung und unserer Verwaltungsorganisation, die die Länder zwingen wird, ihre Kompetenzen mit den autonomen Nationen und den höheren Kommunalverbänden zu teilen und sich auf die wenigen Aufgaben zu beschränken, für die diese Verwaltungssprengel geeignet sind.

Diese Wirkung wird die Arbeiterklasse erzeugen, indem sie nichts anderes als ihr Klasseninteresse vertritt: ihr Interesse am Ausbau jener Zweige der sozialen Verwaltung, die heute den Ländern und Gemeinden zugewiesen sind; die Reorganisation unseres Verwaltungsgebäudes wird ebenso die Wirkung wie die Bedingung des Ausbaues der sozialen Wohlfahrtspflege sein. Die Vergesellschaftung der Produktion, das Anwachsen der besitzlosen Volksklassen macht die Vergesellschaftung eines Teiles der Bedürfnisbefriedigung schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zur Notwendigkeit; die Grundlagen der sozialen Verwaltung, der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung werden daher schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegt werden. Aber die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung steht im Widerspruch zu der Herrschaft von Privatleuten über die Produktionsmittel, der Klassenkampf um die soziale Verwaltung stosst in der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder auf die Grenze, die das Privateigentum ihm setzt; wir können diese Grenze im Kampfe nur verschieben, nicht beseitigen. So weist uns auch dieser Kampf auf unser letztes Ziel. Erst wenn die gesellschaftlich genutzten Arbeitsmittel auch im Eigentum und in der Verwaltung der organisierten Gesellschaft stehen werden, wird die Gesellschaft für die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder planmässig vorsorgen, all ihren Gliedern das Recht auf das Dasein, den Anspruch auf die Freuden des Lebens sichern können.

 


Leztztes Update: 6. April 2024