O. B.

Bücherschau

Parteiliteratur

(1. Mai 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 8. Heft, 1 Mai 1908, S. 381–384.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Kautsky hat zur Feier des fünfundzwanzigsten Todestages von Karl Marx einen Vortrag über Die historische Leistung von Karl Marx (Buchhandlung Vorwärts, Preis 18 h) veröffentlicht. Das Schriftchen enthält keine Darstellung, sondern eine Würdigung des Marxsehen Werkes. Kautsky zeigt in seiner klaren und volkstümlichen Weise, wie Marx die naturwissenschaftliche Methode auf dem Arbeitsfelde der Geisteswissenschaft angewendet und dadurch die beiden grossen Zweige des menschlichen Wissens verknüpft hat, wie sich in seinem Werke die Errungenschaften deutschen, französischen und englischen Denkens, in deren Eigenart sich die Geschichte der drei grossen Nationen widerspiegelt, vereinen, wie auf dieser wissenschaftlichen Leistung die unlösbare Vereinigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung, der Theorie mit der Praxis beruht Der Streit um Lehrmeinungen darf die Arbeiterklasse nicht spalten: »Ein Marxist, der eine theoretische Differenz bis zur Spaltung einer proletarischen Kampfesorganisation fortführte, würde nicht marxistisch, nicht im Sinne der Marxschen Lehre vom Klassenkampfhandeln, für die jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme.« Aber Marx’ Schüler haben auch heute noch die Aufgabe, die der Meister schon im Kommunistischen Manifest den Kommunisten zugewiesen: innerhalb der Gesamtorganisation des Proletariats »der praktisch entschiedenste, immer weitertreibende Teil« zu sein, der »von der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus hat«. Die Wissenschaft dient der Kraftersparnis; die Lehre von der Entwicklung der Gesellschaft, die wir Marx verdanken, ermöglicht es zu verhindern, dass die kämpfende Arbeiterklasse durch das Streben nach unrichtigen Zielen, durch die Wahl unzweckmässiger Mittel ihre Kräfte vergeude.

Genosse Parvus gibt im Verlag der Buch-handlungVorwärts eine Sammlung vonBroschüren unter dem Titel Der Klassenkampf des Proletariats heraus, die alle Seiten des grossen Befreiungskampfes der Arbeiterklasse beleuchten und die Wandlungen der Kampfesbedingungen unter der Einwirkung der neuesten Erscheinungsformen der kapitalistischen Produktionsweise darstellen sollen.

Das erste Heft dieser kleinen Bibliothek behandelt den Gewerkschaftlichen Kampf. (Preis 18 h.) Parvus zeigt uns, wie der Umfang, das Wesen, die öffentliche Bedeutung der gewerkschaftlichen Kämpfe sich unter dem Einfluss der Konzentration des Kapitals verändern, wie die Bildung der Unternehmerverbände und Kartelle, die Unterwerfung der Industrie unter die Herrschaft der Grossbanken, die enge Verflechtung aller Wirtschaftsgebiete ganz neuartige gewerkschaftliche Kämpfe auslösen. »Aus einem Kampfe zwischen einem Häuflein Arbeiter und einzelnen Unternehmern, der unbemerkt von der ganzen Weitverlaufenkonnte, wird der Streik zu einem sozialen Ereignis, das die Produktion und das gesellschaftliche Zusammenleben in ihren Grundlagen erschüttert.« Dadurch wird auch der Staat zum Eingreifen in die gewerkschaftlichen Kämpfe gezwungen : gewerkschaftlicher und politischer Klassenkampf fallen zusammen. Es kämpfen nicht mehr einzelne Unternehmer und einzelne Arbeiter um die Höhe des Arbeitslohnes, sondern ganze Klassen um den Anteil am sozialen Reichtum. Aber indem die Gewerkschaften den Anteil der Arbeiterklasse an dem Erzeugnis ihrer Arbeit erhöhen wollen, stossen sie auf die unerbittlichen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Der Kampf der Gewerkschaften wird zum Kampfe um die Formen der gesellschaftlichen Produktion, der Sozialismus zum Ziele des gewerkschaftlichen wie des politischen Kampfes. Zwischen den beiden Methoden des proletarischen Klassenkampfes kann es daher keinen Widerstreit geben: »Wer die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter auf Kosten ihrer politischen Organisation entwickeln will, oder umgekehrt, der will den Blutumlauf in dem einen Arm unterbinden, um, die Säfte dem anderen zuzuführen; das Proletariat muss aber in seinem Kampfe gegen die Kapitalistenklasse seine beiden Arme frei und stark gebrauchen können.« Die Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisation ist daher eine Voraussetzung nicht nur aller Gegenwartserfolge, sondern auch des entscheidenden Sieges des Proletari ats im Klassenkampfe: »Von den Gewerkschaften hängt das Schicksal des Proletariats, seine Gegenwart und seine Zukunft ab.«

Parvus’ Schriften sind durch die gründliche marxistische Schulung ihres Verfassers ausgezeichnet, sie sind auf ein umfassendes und vielseitiges Wissen, auf reiches Tatsachenmaterial aufgebaut; was ihnen aber ihre Eigenart gibt, ist die reiche Phantasie des Verfassers. Sie befähigt Parvus, die ökonomischen Einzeltatsachen zum anschaulichen Bilde zu gestalten, sie lässt ihn die Richtung der Entwicklung klar und frühzeitig erkennen; dass ohne Phantasie fruchtbare wissenschaftliche Arbeit nicht möglich ist, hat uns schon Kant gelehrt. Aber andererseits verleitet diese Gabe Parvus auch zu kühnen, manchmal wohl allzu kühnen Schlüssen; er ist geneigt, Entwicklungsprozesse als abgeschlossen darzustellen, die kaum erst begonnen haben, als vollendet zu behandeln, was erst die Frucht künftiger Entwicklung sein wird. Darum unterschätzt er nicht selten die Kraft der Gegentendenzen, die in der Trägheit des Gewesenen und Seienden wurzeln, aus dessen Umwandlung die neuen sozialen Daseinsformen hervorgehen, er übersieht zuweilen die Reibung, die die wirtschaftliche Bewegung erschwert und verlangsamt. Diese Eigenart zeigt sich schon in Parvus’ Darstellung des gewerkschaftlichen Klassenkampfes. Er malt uns das Bild der gewerkschaftlichen Kämpfe im Bergbau, in der Eisen- und Stahlproduktion, in der Elektrizitätsindustrie im Verkehrswesen; die gewerkschaftlichen Kämpfe in den anderen Produktionszweigen, in denen die Konzentration des Kapitals noch nicht so weit fortgeschritten ist, tragen natürlich noch ganz anderen Charakter. Er zeigt, wie grosse Arbeitseinstellungen gewisse Wirkungen hervorrufen, die – isoliert betrachtet – zu einer Wirtschaftskrise führen können; aber die Konjunktur ist die Resultierende zahlloser Komponenten, und die Krisenursachen, die ein Ausstand schafft, können durch Gegenwirkungen völlig aufgehoben werden; es ist also sehr kühn, zu behaupten, dass wir uns einem Zustande nähern, in dem ein grosser Streik unmittelbar eine allgemeine Wirtschaftskrise hervorrufen wird.

Viel deutlicher noch werden die Vorzüge, aber auch die Gefahren von Parvus’ Denkweise in der zweiten Broschüre seiner Sammlung sichtbar, die Die kapitalistische Produktion und das Proletariat (Preis 36 h) behandelt. Ueberaus anschaulich sehen wir hier die neueste Phase der kapitalistischen Entwicklung vor uns. Wir sehen, wie das Kapital die Volksmassen Europas und Amerikas in seine Lohnarbeiter verwandelt hat, wie es nun darangeht, seine Herrschaft in Asien und Afrika zu begründen, wie die grossen Kapitalsgruppen zu Beherrschern des ganzen Erdkreises werden.

Immer gewaltiger werden die Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der einzelnen Wirtschaftsgebiete, immer erbitterter die Kämpfe der Nationen um die Absatzmärkte. Durch Krisen, Zollkämpfe, Kolonialeroberungen, Handelskriege geht der Siegeszug des Kapitals. Seine Herrschaft wird zum Hemmnis der fortschreitenden Produktion, sie wird unerträglich den Arbeitermassen. Das Proletariat muss im politischen Kampfe die öffentliche Zentralgewalt erobern, um sich von der Herrschaft des Kapitals zu befreien.

Auf die Darstellung der modernen Produktionsweise, der Schutzzoll- und Kolonialpolitik der wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen in allen Erdteilen stützt Parvus diese Gedankenreihen. Ueber so manche Einzelheit dieser Darstellung liesse sich wohl streiten; aber Parvus’ Schrift ist nicht am wenigsten belehrend und anregend gerade in jenen-Teilen, die zum Widerspruch herausfordern. Der österreichische Leser, der über den kleinen Problemen der Heimat die grossen Ereignisse des Weltgeschehens nicht vergessen, der die neueste Sturm- und Drangperiode des Kapitalismus kennen und verstehen will, wird Parvus’ Schriftchen studieren müssen. Für den Arbeiter ist es allerdings keine ganz leichte Lektüre, da Parvus in allzu engem Raume die Darstellung der gewaltigen, ungeahnt schnellen Wirtschaftsentwicklung von vier Erdteilen zusammendrängt.

Im Verlag des schweizerischen Grütlivereines ist Hervés Leur Patrie unter dem Titel Das Vaterland der Reichen (Preis K 1,20) in deutscher Uebersetzung erschienen. Auch der deutsche Arbeiter kann sich nun über die Gedankengänge jener französischen antimilitaristischen Agitation unterrichten, die auf dem Stuttgarter internationalen Kongress zu so interessanten Kämpfen geführt hat.

Von der Denkweise des modernen wissenschaftlichen Sozialismus findet sich recht wenig in Hervés Schrift. In ihr verknüpft sich vielmehr die Kritik des Krieges, wie sie die bürgerliche Aufklärung und die bürgerliche Friedensbewegung geübt hat, mit anarchistischen Gedankengängen. Hervé mangelt völlig die Fähigkeit, die Erscheinungen der modernen Gesellschaft historisch zu betrachten, in der konkreten historischen Erscheinungsform, die in dem Klassenaufbau der modernen Gesellschaft begründet ist, den dauernden und unanfechtbaren sozialen Kern zu finden, der in der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Produktion und der Organisation der Gesellschaft wurzelt. Er sieht, dass der moderne Nationalstaat ein Klassenstaat ist; er sieht nicht, dass die Menschheit sich auch dann in nationale Gemeinwesen gliedern muss, wenn der Staat seinen Klassencharakter abstreift und sich dadurch als bürgerlicher Staat selbst aufhebt. Er sieht, dass der Patriotismus zu einem Mittel der Suggestion geworden ist, durch das die herrschenden Klassen die breiten Volksmassen betören, um sie in den Dienst ihrer Interessen zu stellen; er sieht nicht, dass dies nur darum möglich ist, weil dieser Patriotismus doch nur eine von den herrschenden Klassen durch tausenderlei Mittel geförderte Verfälschung und Entartung jenes echten Nationalbewusstseins und Nationalgefühls ist, das den modernen Menschen mit allen verbindet, die durch die Gemeinschaft des Schicksals, der Kultur, des Charakters mit ihm verknüpft sind. Hervé sieht, dass die moderne Armee ein Werkzeug der Klassenherrschaft ist; er sieht nicht, dass die Armee zugleich doch auch das bewaffnete Volk ist, das diese Waffen bloss nach eigenem Willen zu führen braucht, um seinem Willen Geltung zu sichern. Hervé sieht, dass im Krieg die Volksmassen hingeschlachtet werden im Dienste und zum Vorteil der Herrschenden; er sieht nicht, dass gerade die gewaltigen Erschütterungen des Krieges jene Umwälzung vorbereiten können, die die Herrschaft selbst beseitigen wird. Hervd wiederholt den typischen Denkfehler der Anarchisten, wenn er im Kampfe gegen den Klassenstaat, den bürgerlichen Patriotismus, die militaristische Heeresverfassung, den kapitalistischen Eroberungskrieg jeden Staat, jedes Nationalgefühl, jede Wehrverfassung, jeden Krieg verdammt. Der anarchistische Radikalismus der Phrase nähert sich auch hier kleinbürgerlicher Beschränktheit: wenn er das Nationalgefühl ablehnt und kein anderes Gemeinschaftsbewusstsein gelten lassen will als das Heimatsgefühl, das die Nachbarn im Dorfe verbindet, so nähert er sich kleinbürgerlichem Kirchturmpatriotismus und bäuerlichem Partikularismus.

Dieser unhistorischen Denkweise entspricht auch die Kampfesw’eise, die er empfiehlt. Der Krieg ist schlecht, das Proletariat ist mächtig: das Proletariat braucht also nur zu wollen, um jeden Krieg unmöglich zu machen. Die proletarischen Reservisten rücken nicht ein, die Arbeiter treten in den Streik und der Krieg ist unmöglich! Der alte Irrwahn der Anarchisten, dass die Massen durch die Phrase des Agitators zu jeder Entschliessung aufgepeitscht werden können, dass man das Proletariat seinen Kampf lehren könne, ohne sich um die konkreten Kampfesbedingungen zu kümmern. In Wirklichkeit ist der Agitator ohnmächtig gegen die unendlich stärkeren Bestimmungsgründe des Massenwillens, die aus dem Leben der Völker und Klassen selbst hervorgehen; er kann nur wirken, wenn sein Wort nur ausdrückt, wozu die tausendfachen Erfahrungen und Stimmungen der Massen selbst sie treiben. Der Augenblick der Kriegserklärung ist ein Moment, der tiei wurzelnde Masseninstinkte mit elementarer Kraft herausbrechen lässt, der das Denken, Fühlen, Wollen der Massen mit einem Schlage umgestaltet. Wer sich diesem Sturm der Gefühle entgegenstellt, den wirft er nieder. Der Militärstreik, den Hervé prophezeit, ist nur möglich, wenn die Massen selbst sich erheben, den Krieg zu verhindern; ob dies jemals geschehen wird, darüber entscheiden nicht die Phrasen der Agitation in Friedenszeiten, sondern die konkreten Bedingungen, von denen im Augenblick der Kriegserklärung die Gestaltung des Massenbewusstseins abhängt. Darum braucht man den

Militärstreik nicht unbedingt abzulehnen; aber noch weniger geht es an, ihn als ein Allheilmittel, als die alleinseligmachende Methode des proletarischen Kampfes zu predigen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024