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Der Kampf, Jahrgang 1 7. Heft, 1. April 1908, S. 304–309.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Redaktion des Kampf ist dem Genossen Dr. Meissner sehr dankbar für sein Bemühen, seine Stellungnahme zu unserem Nationalitätenprogramm und zur Amtssprachenfrage den deutschen Genossen verständlich zu machen. Die Fragen, die Genosse Meissner in diesem und im vorigen Hefte des Kampf aufgeworfen hat, bedürfen einer eingehenden Erörterung. In den nächsten Heften unserer Zeitschrift, in denen verschiedene Einzelprobleme der grossen Schicksalsfrage Oesterreichs besprochen werden sollen, werden wir Gelegenheit haben, die einzelnen Einwendungen des Genossen Meissner gegen unser Nationalitätenprogramm zu erörtern. Heute wollen wir uns daher darauf beschränken, auf den grundsätzlichen. Unterschied zwischen unserer Art, das nationale Problem zu betrachten, und der des Genossen Meissner hinzuweisen. Hierbei sprechen auch wir natürlich nur im eigenen Namen; die Partei hat ihre Stellung zu diesen Streitfragen noch nicht programmatisch festgelegt.
Die nationalen Probleme werden heute in Oesterreich keineswegs als blosse Zweckmässigkeitsfragen gewertet. Würden sie dies, dann wäre die Heftigkeit der nationalen Kämpfe ganz unbegreiflich. Es ist gewiss richtig, dass die Schul- und Sprachenfragen die Interessen der einzelnen nicht unberührt lassen. Es gibt Interessengegensätze, ja innerhalb gewisser Grenzen selbst unüberbrückbare Interessengegensätze auch auf diesem Gebiete. Aber aus ihnen lässt sich die Leidenschaftlichkeit der nationalen Kämpfe nicht erklären. Vor allem deshalb nicht, weil die schlimmen Folgen des Sprachenzwanges den einzelnen doch nicht allzuoft zu wirklichem Schaden gereichen, weil sie in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ihm nicht mehr als Unbequemlichkeiten bringen. Es ist gewiss richtig, dass auch der Arbeiter häufig mit dem Staat zu tun hat; aber welch winzig kleinen Teil seines Lebens füllt doch sein Verkehr mit den Behörden aus! Der gesetzliche Sprachenzwang ist lächerlich bedeutungslos neben dem tatsächlichen Sprachenzwang, dem jeder sich unterwirft und unterwerfen muss, den die bittere Not dazu zwingt, im Siedlungsgebiet einer anderen Nation seinen Erwerb zu suchen. Dass der Beamte mit dem tschechischen Arbeiter im deutschen Sprachgebiet in deutscher Sprache verkehrt, kann diesem nicht angenehm sein; aber wie viel stärker als der Sprachenzwang des Gesetzes wirkt der Sprachenzwang des täglichen Verkehrs in der Werkstätte, in jedem Geschäftsladen, auf der Strasse! Die Menschen, die sich im wirtschaftlichen Verkehr verständigen müssen, werden einander wohl auch im Amt verstehen. Den Sprachenzwang des Alltags kann kein Sprachengesetz beheben; und dennoch toben um den viel weniger drückenden, viel seltener fühlbaren Sprachenzwang vor den Aemtern so heftige Kämpfe! Wie ist dies zu erklären?
Es mag noch begreiflich erscheinen, dass die Minderheiten sich gegen den gesetzlichen Sprachenzwang wehren; aber warum erscheint den Mehrheiten das Fortbestehen des Sprachenzwanges als ihr Lebensinteresse ? Welchen Schaden erleidet der deutsche Bürger in Brüx dadurch, dass ein Richter in einer Rechtssache, die des deutschen Bürgers Interesse überhaupt nicht berührt, mit einem tschechischen Arbeiter in tschechischer Sprache verkehrt? Und dennoch kämpfen die Mehrheiten – und keineswegs nur die an der Frage unmittelbar interessierten bureaukratischen Schichten – überall für die Erhaltung des Sprachenzwanges mit derselben Leidenschaft, mit der die Minderheiten seine Milderung oder Beseitigung fordern. Wie ist dies möglich?
Unsere Bevölkerung ist doch sonst so geduldig und erträgt die Verletzung weit wichtigerer Interessen. Politische Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung trägt sie nur allzu ruhig. Und der tschechische Arbeiter in Deutschböhmen, der die Rechtlosigkeit im Lande und in der Gemeinde, die Ausbeutung durch den ganzen Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise so geduldig erträgt, den die unbarmherzigen Gesetze unserer Gesellschaftsordnung von der Kultur ausschliessen, an der er mitschafft in endloser Arbeit, der keinen Tag vor dem unsäglichen Elend der Arbeitslosigkeit sicher ist und mit Grauen Siechtum und Alter, die furchtbare Zeit der Arbeitsunfähigkeit herannahen sieht – er sollte all das geduldig ertragen und nur die Unannehmlichkeit des Sprachenzwanges nicht ? Und dennoch haben wir es hundertemal erlebt, dass die Auflehnung gegen politischen Druck und wirtschaftliche Knechtung nur selten so ungeheure Massen mitzureissen, so gewaltige Leidenschaften auszulösen, das Staatsgebäude so furchtbar zu erschüttern vermag wie die Kämpfe um die dem Nüchternen so bedeutungslos erscheinenden nationalen Streitfragen.
Der Massenpsychologie ist hier ein Problem gestellt, dessen Lösung der österreichische Politiker kennen muss. Es zu beantworten, haben Renner und ich versucht. In meiner »Nationalitätenfrage« habe ich die allgemeine psychologische Wurzel des Nationalbewusstseins, den besonders anschaulichen und darum unerträglichen Charakter der nationalen Fremdherrschaft beschrieben. Ich habe zu zeigen versucht, wie die soziale Entwicklung das Erwachen der geschichtslosen Nationen und dadurch eine völlige Verschiebung aller nationalen Machtverhältnisse zur Folge hat, wie der Kapitalismus ganz neuartige nationale Minderheiten und dadurch neuartige nationale Reibungen erzeugt und wie diese Erscheinungen ihrerseits das Nationalbewusstsein steigern und modifizieren zum nationalen Hass. Der nationale Hass, aus der sozialen Entwicklung geboren, die die Machtverhältnisse und die Siedlungsverhältnisse der Nationen so völlig verschoben hat, ist die psychische Disposition der Massen zum nationalen Kampfe. Und die von blindem ziellosen Hasse beseelten Massen sind nun, wie Renner im »Kampf der Nationen« gezeigt hat, einer Verfassung unterworfen, die keiner Nation eine gesicherte Machtsphäre einräumt und darum alle Völker zum Kampfe um die Macht zwingt. Der Kampf der Nationen um die Macht wird zum Kampfe zwischen den Machtwerbern. Nun erscheint jede Eroberung neuer sprachlicher Rechte als Mehrung der Macht; nun wird es zur Aufgabe der Nation, den anderen zu verweigern, was sie für sich selbst fordert. Die nationalen Probleme sind keine Fragen blosser Zweckmässigkeit mehr, das wertloseste nationale Recht, die geringfügigste nationale Institution wird als Selbstzweck gewertet. Die Nationen, durch eine gewaltige soziale Umwälzung mit nationalem Hasse erfüllt, ertragen die Verfassung nicht mehr, die keinem Volke einen gesicherten Machtkreis einräumt, jedes Volk fremder Herrschaft unterwirft. Sie stehen darum im Kriege gegen einander und im Kriege entscheiden nüchterne Zweckmässigkeitserwägungen nicht, sondern der Hass, die Rachsucht, das blinde Verlangen nach Beute. Der Widerspruch zwischen den Umwälzungen der Massenpsyche und der erstarrten Staatsverfassung führt die Völker zum Kampfe gegen einander.
Und mitten unter diese von Kampfeswut und Kampfesrausch erfüllten Nationen will nun Genosse Meissner treten und über das heiss umstrittene Kampfgebiet auf Grund kühler Zweckmässigkeitserwägungen entscheiden. Wollten wir ihm folgen, es würde uns wie einem nüchternen und besonnenen Manne ergehen, der mitten unter Trunkene und Wahnsinnige tritt, ihnen Vernunft zu predigen; wir würden das Schicksal des Allzuklugen erleiden, der mitten in der Schlacht zu den Kämpfern eilt, die um eine Fahne ringen, und, auf einem Hügel von Leichen stehend, den Kämpfenden predigt, die Fahne sei ein wertloses Stück Tuch, der gefallenen Opfer nicht wert. Was Genosse Meissner für kluge Realpolitik hält, wäre für uns nutzloser Selbstmord.
Sollen wir also mitrasen mit den Trunkenen und Irren, mitkämpfen um das Stück Tuch, das verblendete Massen zu ihrer Fahne gemacht haben, dem Fetisch Menschenopfer zu bringen? Das können und dürfen wir nicht. Wir können das nationale Problem nicht als blosse Zweckmässigkeitsfrage behandeln, weil es heute keine blosse Zweckmässigkeitsfrage ist; aber wir müssen daran arbeiten, die Vorbedingungen zu schaffen, dass es eine blosse Zweckmässigkeitsfrage werde.
Die massenpsychologischen Voraussetzungen zur Lösung der nationalen Probleme zu schaffen, ist die Aufgabe der nationalen Autonomie. Sie löst die nationalen Probleme nicht etwa nur dadurch, dass sie neue Institutionen schafft, sondern durch die erzieherische Wirkung, die sie auf die Massenpsyche ausübt. Wenn die Verfassung den veränderten Stimmungen, Wünschen, Bedürfnissen der Nationen angepasst wird, wenn der Kampfboden der nationalen Kämpfe durch den allmählichen Ausbau der nationalen Selbstregierung stetig eingeschränkt wird, dann erst wird der nationale Hass sich nicht mehr in politische Leidenschaft umsetzen können, dann erst werden die noch ungelösten nationalen Fragen verhältnismässig bedeutungslos erscheinen neben den grossen Problemen unseres Zeitalters, dann erst wird das nationale Problem, soweit es durch die neue Verfassung noch nicht gelöst ist, zur reinen Zweckmässigkeitsfrage. Die nationale Autonomie schafft erst die psychische Disposition zur friedlichen Regelung der durch sie selbst noch nicht gelösten nationalen Streitfragen.
Darum glauben wir, dass die Frage, ob Ruthenen oder Slowenen staatlicher Unterstützung für ihr Schulwesen bedürfen, nicht eben allzu bedeutungsvoll erscheinen wird, wenn erst jede Nation ihrer politischen Macht und der Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung gewiss ist und diese Gewissheit die nationalen Gegensätze nicht mehr leidenschaftliche Machtkämpfe auslösen lässt. Darum wird sich vielleicht die Budweiser Bevölkerung, wenn erst die trennbaren Angelegenheiten einer deutschen und einer tschechischen Nationalgemeinde zugewiesen sind, viel weniger für die Nationalität des Bürgermeisters der gemeinsamen Gemeinde interessieren als dafür, ob er Vertreter der Hausbesitzer oder der Mieter ist. Genosse Meissner hat recht, wenn er darauf hinweist, dass die nationale Autonomie nicht alle nationalen Probleme automatisch löst; und dennoch dürfen wir hoffen, dass die nationale Autonomie die nationalen Machtkämpfe ihrer alles überragenden Bedeutung entkleiden, die nationalen Gegensätze hinter die viel tiefer wurzelnden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegensätze zurücktreten lassen wird, indem sie die Massenpsyche – freilich nicht mit einem Schlage, sondern in einem allmählichen Prozess – umgestalten wird. Wie politische Institutionen die Massenpsyche verändern, hat ja die Veränderung unseres politischen Lebens unter dem Einfluss der Wahlreform recht deutlich gezeigt.
Auch die Sprachenfrage umfasst zwei wesensverschiedene Probleme: einerseits den Machtkampf der Nationen um die Aemter, andererseits das rein technische Problem der sprachlichen Verständigung im Amte. Solange die Nationen um die Herrschaft über die Aemter kämpfen, ist die Sprachenfrage ein Teilproblem des grossen Machtkampfes der Nationen, sie kann daher keineswegs als blosse Zweckmässigkeitsfrage beurteilt werden. Es gilt also, den Kampf um die Macht über die Aemter zu beendigen. Darum fordert die deutsche Sozialdemokratie in Böhmen: »Deutsche Beamte für die Deutschen, tschechische Beamte für die Tschechen.« Aber diese Scheidung ist bloss der erste Schritt zur vollen Sicherung der nationalen Selbstregierung. Erst wenn durch das System der autonomen Lokalverwaltung die Nationen selbst Amtsherren, die Beamten von ihnen bestellt werden, ist der Kampf der Völker um das Amt völlig ausgeschaltet. Es wäre schädlicher Kleinmut, die Durchführung dieses Programms für ein fernes, heute unerreichbares und darum in den Kämpfen des Tages bedeutungsloses Ziel zu halten; wenn die Kreiseinteilung in Böhmen durchgeführt werden soll, werden wir Gelegenheit haben, die Herrschenden zu dem ersten folgenschweren Zugeständnis an die demokratische Verwaltungsorganisation zu zwingen. Erst wenn dann den Nationen ihre Aemter gesichert sind, bleibt von der Sprachenfrage nichts anderes übrig als das bloss technische Problem der Verständigung zwischen dem Beamten und den Parteien; dann erst kann sie als blosse Zweckmässigkeitsfrage gewertet werden.
Jede Oppositionspartei, die Partei der Arbeiterklasse mehr noch als jede andere, hat vor allem eine Erziehungsaufgabe zu leisten: den Gedanken, dass die nationale Autonomie die nationalen Probleme teils automatisch löst, teils ihre Lösung durch die Umwälzung der Massenpsyche erst möglich macht, zum Besitztum der Völker zu machen, ist und bleibt unsere vornehmste Aufgabe auf dem Schlachtfeld der Nationen. Wenn die Gründung neuer Hochschulen beraten wird, müssen wir zeigen, dass erst die nationale Selbstregierung das Streben jedes Volkes nach dem Ausbau seiner kulturellen Institutionen von dem Hemmnis der nationalen Machtkämpfe befreit. Wenn die Frage der Minderheitsschulen auf der Tagesordnung steht, müssen wir die Konstituierung der Minoritätsgemeinden fordern. Wenn der Kampf um die Sprachenfrage tobt, müssen wir beweisen, dass das technische Problem der Verständigung erst lösbar wird, wenn jeder Nation die Herrschaft über ihre Aemter gesichert ist.
Restlos kann das Verständigungsproblem freilich überhaupt nicht gelöst werden: solange nationale Verschiedenheiten bestehen, kann der Verkehr im Amt wie ausserhalb der Aemter sich niemals ganz ohne Reibung, ohne jeden Sprachenzwang vollziehen. Nicht nur die Rücksicht auf die Bureaukratie, die nicht in ganz Oesterreich verhalten werden kann, alle Sprachen zu erlernen, sondern auch die Rücksicht auf die Ordnung, die Schnelligkeit und Billigkeit des amtlichen Verfahrens setzt dem Streben nach der Beseitigung des Sprachenzwangs immer, unter jeder Verfassung eine technische Grenze. Der tschechische Arbeiter in Innsbruck oder Bozen, der Italiener in Mähren oder Schlesien wird immer lästigem Sprachenzwang unterworfen bleiben. Heute aber ist selbst diese Grenze nicht erreichbar: die vom Rausch des nationalen Kampfes erfüllte Massenpsyche aller Nationen gebietet dem Streben nach Ausschaltung des Sprachenzwanges weit früher Halt. Das ist die massenpsychologische Grenze dieses Strebens. Sie ist keine starre Schranke, sondern sie wird verschoben werden in der Richtung zur technischen Grenze hin, je mehr wir uns der Verwirklichung der nationalen Autonomie nähern.
Genosse Meissner will den Sprachenzwang nur so weit bestehen lassen, als er technisch nicht beseitigt werden kann. Wir dagegen halten es nicht für möglich, den Sprachenzwang in jedem einzelnen Augenblick weiter einzuschränken, als die jeweilige Beschaffenheit der Massenpsyche seine Einschränkung gestattet. Jeder Versuch, diese Grenze zu überschreiten, wäre fruchtlos. Wir leben ja in der Ueber-gangsperiode der negativen Autonomie [1] keine Nation duldet eine Veränderung des Sprachenrechtes, die den im Toben des Machtkampfes aller Besonnenheit beraubten Massen unerträglich erscheint. Wollten wir, unbekümmert um die Massen-psvche, unsere Kraft dafür einsetzen, dass der Sprachenzwang heute schon auf das technisch mögliche Minimum reduziert werde, dann würden wir nur die völlige Lahmlegung der Gesetzgebung durch die nationale Obstruktion herbeiführen und dadurch weit wichtigere proletarische Interessen preisgeben. Das wichtigste Interesse des Proletariats an der Sprachenfrage bleibt doch immer dies, dass der Kampf um die Sprache den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Fortschritt des Proletariats nicht hemme, die proletarische Armee nicht spalte und schwäche. Das wichtigste nationale Interesse des Proletariats ist der nationale Frieden. Mit der Verzögerung sozialer Reformen würde die Milderung des Sprachenzwanges allzu teuer bezahlt.
Es handelt sich also heute darum, in jedem Augenblick die Grenze des Sprachenzwanges zu finden, die ohne Preisgabe der wichtigeren Interessen der Arbeiterklasse jeweils erreicht werden kann. Darum können wir nicht, wie Genosse Meissner dies vorschlägt, die Doppelsprachigkeit der Aemter und – als Regel – auch die Doppelsprachigkeit der Beamten fordern, wo immer es nur möglich ist, dass einem einzelnen Arbeiter aus der Einsprachigkeit Unbequemlichkeiten erwachsen könnten. Wir müssen vielmehr die Anforderungen an die sprachliche Qualifikation der Aemter und Beamten abstufen je nach der Wichtigkeit der in Frage stehenden Interessen und je nach der Häufigkeit der Fälle, in denen die Bevölkerung die Mehrsprachigkeit der Aemter braucht.
So ist zum Beispiel unser Interesse an der Unmittelbarkeit des Verfahrens in der Strafrechtspflege so gross, dass hier wohl heute schon gefordert werden kann, dass mit dem Angeklagten in seiner Sprache verhandelt werde. Viel geringer ist dieses Interesse in dem Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen, zumal hier zum Sprachenzwang für eine der Parteien werden kann, was der anderen Partei genehm ist. Bei den Gerichtshöfen, wo der Anwaltszwang gilt, kann man getrost ohne Rücksicht auf die Nationalität der Parteien in der Sprache des Gerichtes verhandeln: es besteht kein Grund, von den Advokaten weniger Sprachkenntnis zu verlangen als von den Richtern und Beamten. Dasselbe gilt, wenn die Parteien vor dem Bezirksgericht von Advokaten vertreten werden. Wenn aber die Parteien vor dem Bezirks- oder Gewerbegericht ohne Anwalt erscheinen, dann hat man nur die Wahl, ihnen entweder sprach- und rechtskundige Anwälte (also nicht blosse Dolmetsche), die aus öffentlichen Mitteln besoldet werden, beizustellen oder mit ihnen in ihrer Muttersprache zu verhandeln. Wo Parteien verschiedener Nationalität einander gegenüberstehen, ist die Sprache des Gerichtes, das heisst der Bevölkerungsmehrheit im Sprengel, die natürliche Vermittlungssprache; in dieser Sprache haben die Parteien ja auch ausserhalb des Gerichtes das Geschäft geschlossen, aus dem der Rechtsstreit erwachsen ist. Oeffentliche Bücher und Register würden des Charakters der Oeffentlichkeit entbehren, wenn sie nicht in der Sprache des Gerichtes geführt würden; sie sind für die Oeffentlichkeit bestimmt, nicht bloss für den Eintragungswerber. Ebenso sind die Sprachenregeln im Verwaltungsverfahren je nach der Wichtigkeit der Interessen, die sie berühren, abzustufen. Bei den staatlichen Verkehrsanstalten darf nur das praktische Verkehrsinteresse entscheiden.
Auch über die Abgrenzung der äusseren und der inneren Amts- und Gerichtssprache haben solche Erwägungen zu entscheiden. Wo Anwälte intervenieren, kann die Korrespondenz zwischen den Aemtern und Gerichten auch in einer den Parteien nicht verständlichen Sprache geführt werden ; hier sieht ja der Anwalt, nicht die Partei die Akten ein und von ihm können wir ebensoviel Sprachkenntnisse verlangen wie von dem Beamten. Wo aber nicht Anwälte intervenieren, ist das Recht zur Akteneinsicht in jedem Falle praktisch bedeutungslos; die Parteien verstehen den Akt nicht, auch wenn er in ihrer Muttersprache geschrieben ist.
Bei welchen Aemtern und Gerichten soll nun auf die sprachlichen Bedürfnisse der Minderheit Rücksicht genommen werden? Genosse Meissner will den Zweck des Amtes entscheiden lassen, nicht die nationale Gliederung der dem Amt unterworfenen Bevölkerung. Aus dieser Prämisse zieht er den Schluss, es müsse in ganz Böhmen und Mähren deutsch und tschechisch amtiert werden. Der Schluss ist nicht zwingend. Soll der Zweck des Amtes entscheiden, dann brauchen wir eine Statistik der Nationalität der Parteien und Zeugen, mit denen die einzelnen Behörden und Gerichte zu tun haben; auf Grund dieser Statistik wären dann die Sprachenregeln für jedes einzelne Amt zu bestimmen, die den einzelnen Sprachenregeln unterworfenen Aemter im Sprachengesetz taxativ aufzuzählen. Es könnte sich dann wohl zeigen, dass die Gerichte eines deutschböhmischen Bezirkes, in dem grosse Erdarbeiten durchgeführt werden, italienische oder kroatische Richter dringender brauchen als tschechische.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber gibt uns doch die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung über die sprachlichen Anforderungen an die Bethörden genügenden Aufschluss. Am wenigsten ist dies bei den Strafgerichten der Fall; hier sind aber auch wir für weitgehende Mehrsprachigkeit der Gerichte. Bei den Zivilgerichten weicht das sprachliche Bedürfnis nur wegen des Fakturengerichtsstandes erheblich von der nationalen Struktur des Sprengeis ab; da aber gerade bei diesen Prozessen Advokatenvertretung die Regel ist, erscheint dies nicht allzu bedenklich. Die Verwaltungsbehörden haben nur verhältnismässig selten mit anderen Volkskreisen zu tun als jenen, die sich in ihrem Sprengel aufhalten. Wenn man also die Sprache der nationalen Minderheiten bei den Aemtern »nach Massgabe der Grösse der Minderheit« berücksichtigt, so werden in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle unnötige Härten vermieden werden.
Die Unterscheidung zwischen dem Zweck des Amtes und der Nationalität der dem Amt unterworfenen Bevölkerung ist juristisch korrekt; politisch ist sie heute bedeutungslos. Denn solange die Nationen um die Macht über die Aemter kämpfen, ist das Sprachenrecht blosses Symbol der Herrschaft der Nation im Amt; erst wenn die Nationen ihrer Aemter Herren sind, kann die Frage des Sprachgebrauches auf Grund blosser Zweckmässigkeitserwägungen entschieden werden. Dass das Nichts-als-Vernünftige heute noch unmöglich ist, ist gewiss bedauerlich; aber es muss erkannt werden, dass es unmöglich ist.
Die Sozialdemokratie muss gewiss die nationalen Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Darum müssen wir als unser Ziel die Beschränkung des Sprachenzwanges auf das technisch mögliche Minimum fordern. Aber dieses Ziel ist heute nicht erreichbar, ohne dass die anderen viel wichtigeren Interessen des Proletariats preisgegeben werden. Wir müssen also einerseits an dem Ausbau der nationalen Autonomie arbeiten und dadurch die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Erreichung jenes Zieles schaffen; wir müssen andererseits den Sprachenzwang heute schon auf das massenpsychologisch im Augenblick erreichbare, allen Nationen erträgliche Minimum reduzieren. In einer Atmosphäre des nationalen Kampfes diese Grenze zu finden, ist gewiss schwer; wir werden es nur dann können, wenn wir die nationalen Interessen des Proletariats seinem gesamten wirtschaftlichen und politischen, • sozialen und kulturellen Klasseninteresse, wenn wir den Bedürfnissen der grossen Gesamtbewegung die Wünsche jeder nationalen Sektion unserer Internationale unterordnen. Dass wir die nationalen Probleme des Tages auf der Basis der heutigen Nationalitätenverfassung nicht restlos lösen, sondern ihre Lösung nur im Kampfe für unsere Nationalitätenverfassung vorbereiten können, ist leider wahr. Aber Sozialdemokraten können sich darüber nicht wundern. Wir müssen selbst dem Arbeitslosen sagen, dass erst unsere Gesellschaft die ewige Wiederkehr seiner furchtbaren Not zu verhüten vermag; und doch sollten wir den Gedanken nicht ertragen können, dass erst unser Staat die Unannehmlichkeiten und Unbequemlichkeiten der nationalen Reibung beseitigen wird? In den nationalen Kämpfen des Tages müssen wir, die Vertreter des revolutionären Proletariats, von der Erkenntnis des jeweils Möglichen geleitet, die Massvollen, die Besonnenen, die Friedfertigen sein ; wir können dies nur darum, weil das faule Kompromiss von heute uns nur den Boden ebnen soll zum Kampfe für die radikalen Lösungen von morgen, die jeder Nation weit mehr bringen werden, als je bürgerlicher Chauvinismus im stolzesten Traume für sie zu hoffen gewagt.
1. Vgl. Otto Bauer, Unser Nationalitätenprogramm und unsere Taktik, Der Kampf, 5. Heft.
Leztztes Update: 6. April 2024