O. B.

Bücherschau

Marx-Literatur

(1. März 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 6. Heft, 1 März 1908, S. 285–287.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Eine sehr interessante Darstellung der Grundlagen der Marxschen Oekonomie ist die Doktordissertation einer jungen österreichischen Genossin, der Frau Tatjana Grigorovici, über Die Wertlehre bei Marx und Lassalle. Trotz mancher Wiederholungen und einiger etwas ermüdenden dogmengeschichtlichen Auseinandersetzungen ist die Lektüre der kleinen Schrift insbesondere dem Anfänger warm zu empfehlen. Besonders nützlich wird ihm der erste Teil sein, der eine scharfsinnige Auseinandersetzung über den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit enthält. Marx versteht unter gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit erstens jene, die technisch notwendig ist, um unter bestimmten Produktionsverhältnissen irgendeine Ware hervorzubringen, zweitens aber den Umfang der Arbeitszeit, die die Gesellschaft auf die Produktion jeder besonderen Art von Waren aufwenden muss, um ihr Bedürfnis nach diesen Produkten zu befriedigen. Frau Grigorovici stellt sehr richtig fest, dass sowohl nach Marx’ als auch nach Lassalles Oekonomie nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit im ersten Sinne wertbildend, wertbestimmend ist, während der Begriff der gesellschaft-lich notwendigen Arbeitszeit im zweiten Sinne nur in der Erörterung der Frage Raum findet, wie weit und unter welchen Bedingungen der produzierte Wert realisiert werden kann.

Der Nachweis, dass in dieser Frage zwischen Marx und Lassalle kein Unterschied besteht, widerlegt eine alte Legende. Dass aber auch die scharfe Unterscheidung der Rolle, die die beiden Begriffe der gesellschaftlich notwendigen Arbeit im Marx’ System spielen, nicht nutzlos ist, beweisen nicht nur die Irrtümer älterer Autoren, die die Verfasserin anführt, sondern auch der von ihr nicht genannte Aufsatz Dr. Emil Lederers, Beiträge zur Kritik des Marxschen Systems (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik u. Verwaltung, XV, S. 307 ff.), der die Einführung des zweiten Begriffes der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für eine Korrektur des Wertgesetzes hält.

Freilich bleibt mit der strengen Scheidung jener beiden Begriffe und ihrer Funktion immer noch die Frage unbeantwortet, wozu Marx’ Oekonomie den Begriff eines Wertes, der nicht immer realisierbar ist, also die Vorstellung eines nicht realisierten Wertes braucht. Es ist die (aus dem Charakter einer Doktordissertation leicht erklärbare) Grenze, aber auch das Verdienst dieser Arbeit, dass sie bis zu einem wichtigen, vielleicht dem wichtigsten methodologischen Problem der Marxschen Oekonomie führt.

Im zweiten Teil, der die Unterschiede zwischen der Wertlehre Marx’ und Lassalles aufzuzeigen sucht, behandelt die Verfasserin Lassalle manchmal vielleicht doch zu unbillig; sie sucht nicht selten sachliche Meinungsverschiedenheiten, wo Lassalles Darstellung nur weniger exakt und populärer ist als Marx’ Ausführungen. Wenn sie schliesslich die Unterschiede der beiden Darstellungen darauf zurückführt, dass Marx Materialist, Lassalle Idealist gewesen sei, so will sie damit sagen, Marx habe die Wertlehre als Grundlage einer Wissenschaft benützt, das Seiende zu erklären und die Tendenzen seiner Entwicklung zu erkennen, während Lassalle sich für sie nur so weit interessiert habe, als sie zur Analyse der kapitalistischen Ausbeutung und daher zur ethischen Verurteilung des kapitalistischen Systems und zur teleologischen Rechtfertigung der proletarischen Politik brauchbar ist. Es ist herkömmlich und historisch wohl zu rechtfertigen, aber irreführend, diesen Gegensatz zwischen der Betrachtungsweise der Wissenschaft auf der einen, der Ethik und Politik auf der anderen Seite als einen Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus zu bezeichnen.

Die Schrift der Genossin Grigorovici ist bisher nur als Doktordissertation erschienen, wird aber hoffentlich bald einem weiteren Kreise zugänglich gemacht werden.

Leopold Mahler will in seiner Broschüre Marxismus und sozialeEntwicklung (Berlin, Puttkamer u. Mühlbrecht, 1907) einige Irrtümer der neueren Marx-Kritik widerlegen. Er wendet sich zunächst gegen die fatalistische Umdeutung der Marxschen Lehre von der Notwendigkeit des Sozialismus. Seine Ausführungen sind stellenweise noch etwas schülerhaft, doch sind die Argumente gegen diesen sinnlosesten aller Einwände der Marx-Kritik nicht ungeschickt gewählt. Dagegen scheint uns der zweite Teil des Schriftchens, der Marx’ Lehre von den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise mit Hilfe der preussischen Einkommensteuerstatistik gegen die Einwände der Gegner verteidigen will, völlig verfehlt. Mahler verteidigt Marx’ Theorie der Akkumulation; aber wir können uns des Eindruckes nicht erwehren, dass er nicht immer festhält, was Marx unter Akkumulation versteht.

In Nummer 19 der Neuen Zeit verteidigt Tugan-Baranowsky sein Buch Theoretische Grundlagen des Marxismus gegen die marxistische Kritik. Es ist gewiss ein grosses Verdienst Tugans, dass er immer wieder die Aufmerksamkeit auf jene Untersuchungen im zweiten Bande des Kapital lenkt, in denen Marx gezeigt hat, wie das gesellschaftliche Wertprodukt sich auf die grossen Produktionszweige — die Produktionsmittelindustrien und die Konsumtionsgütergewerbe — verteilt. Aber über dem Studium des zweiten Bandes des Kapital vergisst Tugan die Lehren des ersten; so kommt es, dass er die Bedeutung dieser Untersuchungen nach zwei Richtungen hin überschätzt.

Erstens: Marx’ Schemata zeigen nur die Verteilung des Wertproduktes auf die grossen Produktionszweige, über die Grösse des zu verteilenden Wertproduktes sagen sie nichts aus; trotzdem will Tugan aus ihnen diese Grösse erschliessen. Denn dies tut er, wenn er meint, dass die Schemata ihm über die Höhe der Profitrate Auskunft geben können.

Zweitens: Marx’ Schemata zeigen bloss ein quantitatives Verhältnis bestimmter Teile des gesellschaftlichen Wertproduktes und des gesellschaftlichen Kapitals. Aber der Wert ist ein Mass, also (nach Hegel) ein an ein Quäle gebundenes Quantum. Dass die Schemata von der qualitativen Bestimmtheit der Werte abstrahieren, hebt diese Bestimmtheit nicht auf. Gebrauchswert zu sein, ist immer Bedingung des Wertes; in der historischen Kategorie der Verwertung des Kapitals birgt sich doch immer die »ewige« Kategorie der Produktion von Gütern zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Ein wenig Misstrauen gegen den gesunden Menschenverstand ziemt jeder Wissenschaft; aber dass man nicht Webstühle, also auch nicht zur Webstuhlfabrikation dienende Maschinen verkaufen kann, wenn niemand Gewebe kaufen will, ist wahr, obwohl es auch dem gesunden Menschenverstand einleuchtet.

Trotz all ihrer Mängel aber steht Tugans Marx-Kritik auf einem ganz unvergleichlich höheren Niveau als die üblichen »Widerlegungen« der deutschen Universitätsgelehrsamkeit. Die ganze Jämmerlichkeit der Marx-Kritik des deutschen Feld- und Wiesendozenten zeigt sich wieder recht anschaulich in Biermanns Weltanschauung des Marxismus. (Leipzig, Roth u. Schunke, 1908) Biermann hält Marx’ Lehre für widerlegt, weil sie auf dem längst überwundenen Materialismus aufgebaut sei. Materialistisch seien ihre philosophischen Voraussetzungen und ihre »nationalökonomische Fundamentierung«. Ob die »Weltanschauung«, die philosophischen Ansichten Marx’ und Engels’ mit dem in der Tat überwundenen naturwissenschaftlichen Materialismus identisch waren, darüber wollen wir mit Biermann nicht rechten; aber ihre Philosophie und ihre wissenschaftlichen Leistungen waren nur durch das Band der Personalunion verbunden. Mag ihre »Weltanschauung« unhaltbar sein, so ist dadurch ihre Gesellschaftslehre ebensowenig widerlegt, wie etwa die Ergebnisse der exakten wissenschaftlichen Arbeit eines Naturforschers darum als widerlegt gelten können, weil in seinem Bewusstsein richtige wissenschaftliche Erkenntnis mit falschen philosophischen Anschauungen vereinigt war. Wenn Engels’ Ansichten über die reinen Formen der Anschauung und des Denkens falsch waren, so ist dadurch seine Geschichtsauffassung und seine Oekonomie nicht widerlegt. Ein organischer und wesentlicher Zusammenhang zwischen Marx’ philosophischer und seiner wissenschaftlichen Arbeit besteht nur in der methodologischen Rechtfertigung seines Arbeitsverfahrens; gerade in dieser Leistung zeigt sich Marx aber eben nicht als Materialist und gerade diese Denkarbeit ist Biermann völlig unbekannt. Statt dessen will er den materialistischen Charakter der Marxsehen Geschichtsauffassung durch den Nachweis bezeugen, dass der Staat, das Recht, die Politik, die Religion nach Marx’ Lehre keine selbständige Wirksamkeit hätten. Wäre dies richtig, dann hätte eine solche Anschauung mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus sehr wenig zu schaffen. Indessen war dies gar nicht Marx’ Ansicht: Marx leugnet nicht die Wirksamkeit der Ideologien, sondern er stellt diese Wirksamkeit mitten hinein in das Weltgeschehen, indem er ihre Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte begreift und sie auf diese Weise aus dem Daseinskampf der Menschheit hervorgehen lässt.

Schliesslich will Biermann den Materialismus gar in der Lehre vom Wert und Mehrwert finden. »Die Mehrwertlehre ist materialistisch, sie entgeistigt den Produktionsprozess, indem sie die Kopfarbeit des Kapitalismus zu niedrig einschätzt.« Aber ganz abgesehen davon, dass die ökonomische Einschätzung der geistigen Arbeit des Kapitalisten von den Thesen des naturwissenschaftlich orientierten Materialismus völlig unabhängig ist, darf man wohl sagen, dass die organisatorische Leistung des Kapitalismus von niemandem umfassender dargestellt und höher bewertet worden ist als gerade von Marx ; aber nur der roheste Empirismus vermag nicht zu begreifen, dass und warum Marx die Arbeitsleistung des Kapitalisten, die nur eine besondere Form der qualifizierten Arbeit ist, von der selbständigen ökonomischen Funktion des Kapitals unterscheidet und diese isoliert untersucht.

All das ist schon unzähligemal gesagt worden. Aber das wird zehn andere Biermanns nicht hindern, den Marxismus im nächsten Jahre wieder mit den selben längst abgetanen Argumenten anzugreifen. Die Widerlegung des Marxismus ist ein Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates; also helf’, was helfen kann!

Die englische Marx-Literatur ist um zwei Schriften bereichert worden, die im Verlag von Charles H. Kerr u. Comp. in Chicago erschienen sind: The theoretical system of Karl Marx von Louis B. Boudin und Marxian economics von Ernst Untermann.

Das Buch des Genossen Boudin enthält eine kurze Darstellung des Marxschen Systems in der Form einer Auseinandersetzung mit der bürgerlichen und der sozialistischen Marx-Kritik. Die polemische Form hemmt zuweilen die lehrhafte Absicht, aber sie macht auch die Darstellung lebhafter und anziehender. Die Kapitel über die materialistische Geschichtsauffassung zeigen den Verfasser mehr von Engels als von Marx beeinflusst; wer Marx’ Thesen über Feuerbach mit Engels’ Broschüre oder Marx’ zahlreiche methodologische Bemerkungen im Kapital mit Engels’ Anti-Dühring vergleicht, wird diese Unterscheidung wohl verstehen. Bei Boudin wirkt wohl auch das Bestreben mit, dem gegen alle Philosophie misstrauischen angelsächsischen Publikum den Marxismus als eine gänzlich »unphilosophi-sehe«, rein empirische Lehre darzustellen. Viel wertvoller scheinen uns die ökonomischen Kapitel des Buches. Wohl sind wir auch hier nicht mit allen Einzelheiten einverstanden ; so wird zum Beispiel Seite 69 und 98 das Bedarfsmoment in den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eingeführt, es werden also die beiden Begriffe der gesellschaftlich notwendigen Arbeit vermengt, die Genossin Grigorovici so scharf unterschieden hat. Ebenso halten wir die kurz angedeutete Theorie der Funktion der qualifizierten Arbeit im Wertbildungsprozess (Seite 116) für unrichtig. Abertrotz dieser und anderer Bedenken ist Boudins Buch doch eine sehr wertvolle Arbeit, die der Verbreitung marxistischer Erkenntnis in den angelsächsischen Ländern gewiss die besten Dienste leisten wird. Besonders anregend sind Boudins Ausführungen über die Konzentration des Kapitals und ihre ideologischen Wirkungen.

Viel weniger erfreulich ist das Buch des Genossen Untermann. Es ist gewiss sehr zweckmässig, in einer volkstümlicnen Darstellung der theoretischen Analyse eine wirtschaftsgeschichtliche Skizze vorauszuschicken; aber Untermann erzählt nicht etwa die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus in Amerika oder in irgend einem europäischen Lande, sondern er will auf ein paar Seiten über die ganze Geschichte der Menschheit vom Affenmenschen bis zu Herrn John Pierpont Morgan berichten. Kein Wunder, dass seine Darstellung höchst oberflächlich wird. An die wirtschaftsgeschichtlichen Kapitel reiht sich die Darstellung der Lehre vom Wert und Mehrwert, vom Unternehmergewinn, Zins und Grundrente. Leider wird dieser Teil des Buches durch manche grobe Fehler entstellt. Viel schlimmer ist noch, dass Untermann gerade denjenigen Teil der Marxschen Lehre, dem in einer populären Darstellung — zumal in einer, die für Amerika bestimmt ist! — der breiteste Raum gebührt, nämlich die Lehre von den Entwicklungstendenzen, in einem kurzen und seiner Kürze und ungeschickten Anordnung wegen ganz unverständlichen Kapitel zusammendrängt. Die Leser erfahren aus dieser sonderbaren Darstellung der Marxschen Oekonomie über die Abstammung des Urmenschen mehr als über die Konzentration und Zentralisation des Kapitals.

 


Leztztes Update: 6. April 2024