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Der Kampf, Jahrgang 1 1. Heft, Oktober 1907, S. 47–48.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die gewaltigen Kämpfe der letzten Jahre haben Zehntausende aus trägem Dasein aufgerüttelt, Zehntausende mit dem Glauben an die grosse Sendung der Arbeiterklasse, an die weltgeschichtliche Aufgabe des Sozialismus erfüllt. Aber sind die Tausende, die wir in den letzten Jahren unseren Organisationen eingereiht haben, schon wahre Genossen geworden? Beherrscht die Gedankenwelt des Sozialismus ihr Bewusstsein? Wohl dürfen wir uns beträchtlicher Fortschritte auf dem Gebiete der Arbeiterbildung freuen. Das Vortrags wesen wurde in den grösseren Städten ausgestaltet; neben den Bildungsvereinen und politischen Organisationen vermitteln Hunderte von Gewerkschaftsortsgruppen durch zahlreiche Vorträge und Vortragszyklen ihren Mitgliedern die Elemente der sozialistischen Gedankenwelt. Auch unsere Parteipresse bemüht sich, die historische und theoretische Bildung ihrer Leser zu fördern. Bürgerliche Institutionen, die volkstümlichen Hochschulkurse vor allen, erleichtern uns unsere Aufgabe. Die von den Gewerkschaften erstrittene Verkürzung der Arbeitszeit, die allmähliche Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus durch die Ausgestaltung der Volksschule, die Eindämmung des Alkoholismus, des gefährlichsten Nebenbuhlers aller Volksbildungsbestrebungen, schaffen die Bedingungen für die Erziehung der Volksmassen zu klarerer Erkenntnis ihres eigenen Kampfes. Mag auch nur selten ein unmittelbar anschaulicher Erfolg die Mühe jener belohnen, die ihre Kraft und ihr Können den Aufgaben der Arbeiterbildung widmen, so wird doch die Saat, die wir in den fruchtbaren Boden proletarischen Bildungsstrebens versenken, der Arbeiterklasse reiche Ernte bringen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein; aber nur eine Arbeiterschaft, die ihrer selbst, ihrer eigenen Bedürfnisse und der Notwendigkeiten ihres eigenen Kampfes bewusst geworden, die ihren Klasseninstinkt zu klarer Erkenntnis des Ziels und der Wege geläutert hat, vermag dieses Werk zu vollbringen.
Wir wollen die Erfolge, die die Arbeiterbildungsbestrebungen in Oesterreich erzielt haben, gewiss nicht unterschätzen. Aber es scheint uns, dass wir das wichtigste aller Bildungsmittel bisher allzuwenig ausgenützt haben. Die Verbreitung unserer Parteiliteratur lässt leider noch viel zu wünschen übrig. Und doch kann nur das Buch die Erziehungsarbeit vollenden, die der Einzelvortrag beginnt, der Vortragszyklus fortsetzt.
Dass die österreichischen Arbeiter so wenig lesen, dass sie selbst unsere grosse deutsche Parteiliteratur kaum kennen, hat freilich objektive Ursachen, die wir nicht mit einem Schlage beseitigen können. Unsere vernachlässigte Volksschule erzieht die Massen nicht zum Lesen. Die lange Arbeitszeit lässt dem Arbeiter zu wenig Musse, in der überfüllten Wohnung findet er keine Ruhe zur Lektüre. Und wenn der junge Arbeiter einmal ein Buch in die Hand nehmen will, fällt er nur allzu oft der schändlichen Reklame kapitalistischer Verlagsunternehmungen zum Opfer, die mit der verlogenen Romantik ihrer Kolportageromane die Phantasie unserer Jugend vergiften und verderben.
Aber darum dürfen wir doch nicht verkennen, dass es zum Teile auch unsere Schuld ist, wenn Tausende treuer und opferwilliger Genossen viele Jahre lang kein gutes Buch in die Hand nehmen. Die Bibliotheken unserer Arbeitervereine sind oft ungenügend und unzweckmässig ausgestattet. Es fehlt den Arbeitern ein Führer und Berater, der die Wahl ihrer Lektüre zu beeinflussen sucht. So opfern die Arbeiter ihre wenigen Mussestunden oft der Lektüre wertloser Machwerke, die sie nur verwirren, statt ihr Wissen zu bereichern oder ihr Denken anzuregen. So nascht mancher junge Arbeiter heute von dem und morgen von jenem Wissensgebiet; die Einzeltatsachen, von denen er liest, sammeln sich wirr in seinem Kopfe, ohne sich zu einheitlicher und klarer Erkenntnis zu ordnen. Nicht selten greift der Arbeiter zu einem guten, aber schwer verständlichen Werke, dessen Verständnis ihm der Mangel an Vorbildung unmöglich macht; enttäuscht, an seiner Fähigkeit zu lesen verzweifelnd, legt er das Buch aus der Hand und verliert alle Lust zum Lesen. Darum genügt es nicht, dem jungen Arbeiter die Namen guter Bücher zu nennen; wir müssen ihm sagen, in welcher Reihenfolge er sie lesen soll, wir müssen ihn zu planmässiger Lektüre anregen und leiten, damit er es lerne, sich durch die Lektüre des Klaren und Einfachen zum Studium des Schwereren und Komplizierteren vorzubereiten. Denn auch das Lesen muss man lernen.
Dieser Aufgabe wollen wir einen besonderen Abschnitt unserer Zeitschrift widmen, den wir Die Arbeiterbibliothek nennen. Wir wollen den Bibliotheksverwaltern der Arbeitervereine raten, welche Bücher sie für ihre Bibliothek erwerben, welche sie den leselustigen Genossen zur Lektüre empfehlen sollen. Wir wollen dem jungen Arbeiter, dem Studenten raten, was er lesen soll. Wir wollen uns keineswegs auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften beschränken. Auch die volkstümliche Literatur, die den Laien in das grosse Arbeitsfeld der modernen Naturwissenschaft geleitet, soll in der Arbeiterbibliothek besprochen werden. Wir wollen auch jenen raten, die sich an den kostbaren Schätzen der schönen Literatur erfreuen wollen. Zunächst aber wollen wir unsere dringendste Aufgabe erfüllen, dem lernbegierigen jungen Leser den Weg zu dem grossen Gedankengebäude des Sozialismus zu weisen.
Wiederholt ist der Versuch unternommen worden, die Entwicklung der sozialistischen Literatur in grossen Umrissen darzustellen. Franz Mehringschildert in seiner Geschichte der Deutschensozialdemokratie (Stuttgart 1906, Preis 24 K), die in keiner Arbeiterbibliothek fehlen sollte, die Entwicklung unserer Literatur im Zusammenhänge mit dem Werdegang der deutschen Arbeiterbewegung. Paul Lensch hat zwei Vorträge über Sozialistische Literatur (Leipzig 1907, Preis 18 h) veröffentlicht. Paul Kampffmeyer gibt in seiner Schrift über Die Sozialdemokratie im Lichte der Kulturentwicklung (Berlin 1907, Preis 60 h) gleichfalls eine Uebersicht des sozialistischen Schrifttums. Auch bürgerliche Schriftsteller haben ähnliche Versuche sehr oft unternommen. So enthält zum Beispiel Werner Sombarts bekannte Schrift Der Sozialismus und die soziale Bewegung im neunzehnten Jahrhundert (Jena 1906, Preis K 2.40) brauchbare Literaturübersichten.
Aber so wertvoll diese und ähnliche Versuche auch sind, es fehlt ihnen doch jene pädagogische Absicht, in deren Dienst wir uns stellen wollen. Gelingt es uns, unseren Bibliothekaren, die ja nicht nur Verwalter der Arbeiterbibliotheken, sondern auch Berater der lesenden Genossen sein sollen, ihre wichtige Aufgabe zu erleichtern, die Studien lernbegieriger junger Genossen und Genossinnen zu fördern, dann tragen auch wir unseren bescheidenen Teil bei zu der grossen Kulturarbeit der deutschösterreichischen Sozialdemokratie.
Leztztes Update: 6. April 2024