Viktor Adler

Bebel und die Sozialdemokratie
in Oesterreich

(1. Februar 1910)


Der Kampf, Jg. 3 5. Heft, 1. Februar 1910, S. 193 –194.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wenn August Bebel Geschichten aus seiner Jugend erzählt – und er erzählt sie gern und mit hinreissender Liebenswürdigkeit –, so spricht er oft davon, wie er Ende der Fünfzigerjahre als Drechslergeselle in Salzburg gearbeitet. Diese reizende Ecke unseres österreichischen Landes war der einzige Ort, wo er längere Zeit österreichische Luft geatmet. Er war blutjung und dachte gewiss an alles eher als an kritische, stammespsychologische Vergleiche. Aber völlig verschwunden sind die Eindrücke jener Zeit nicht und dass ihn damals ein Hauch unseres österreichischen Wesens berührte, jener Weichheit, die unsere grösste kulturelle Tugend wie unser schlimmstes politisches Laster ist, hat vielleicht dazu beigetragen, dass er uns immer besser verstanden hat, als die meisten unserer norddeutschen Brüder. Zwar hat die deutsche Sozialdemokratie uns Deutschösterreicher von jeher als Fleisch von ihrem Fleische betrachtet und dass die Eisenacher im grossdeutschen Empfinden wurzelten, war ein Grundzug ihres politischen Charakters. Sie führten den Kampf gegen Bismarck nicht nur als Demokraten, sondern auch als Deutsche, die ihm nie verzeihen konnten, dass Königgrätz das deutsche Volk auf immer in zwei Teile zerrissen hat. Bis auf den heutigen Tag ist in keiner anderen Klasse das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der nationalen Einheit so stark, so lebendig und so wirksam wie im deutschen Proletariat diesseits wie jenseits der Grenzen. Träger dieses Empfindens war von jeher neben Liebknecht vor allem Bebel. Was wir der deutschen Sozialdemokratie zu danken haben, verkörpert sich zum guten Teile in seiner Person.

Als wir in der traurigsten Zeit des schlimmsten Tiefstandes an den Wiederaufbau der Partei gingen, als wir die Gleichheit gründeten und die ersten tastenden Schritte zur neuen Organisation machten, da fehlte es uns nicht an herzlicher Sympathie der deutschen Genossen, aber die besten Wünsche waren sehr begreiflicherweise vom Zweifel, von skeptischem Lächeln begleitet. Bebel hatte – wie Engels – von vornherein Vertrauen zu uns. Er war einer der fleissigsten und wertvollsten Mitarbeiter der Gleichheit, und als sie unterdrückt wurde und den Titel wechseln musste, der Arbeiterzeitung; er verfolgte mit grösstem Interesse jede Einzelheit unserer Fortschritte und suchte, was am wertvollsten und schwierigsten ist, uns zu verstehen. Sein Rat war nie aufdringlich und schon gar nicht war seine Kritik schulmeisterisch. Der Mann, der selbst in schwerer Verantwortung Entscheidungen zu treffen hat, wird sich hüten, schnellfertige Urteile zu erlassen, die jenen leicht werden, die nie die harte Not des Handelnden erfahren haben. Zu Bebels Eigenschaften gehört gewiss nicht ängstliche Zurückhaltung, aber er, dessen Wesen Leidenschaft ist, hat immer in allen internationalen Dingen musterhaften Takt zu betätigen verstanden. Im Jahre 1894 nahm er an jenem denkwürdigen Parteitag beim Schwender teil, dessen Hauptaufgabe war, über die Taktik im Wahlrechtskampf zu entscheiden. Die Frage des Generalstreiks war aufgeworfen, das belgische Beispiel stand verlockend vor uns und es galt, alle Tatsachen ruhig zu erwägen. Aber diese Ruhe der Erwägung war gerade das schwierigste Problem und der Parteitag war einer der stürmischesten, die wir gehabt haben. Unseren deutschen Genossen war damals noch die Idee des Generalstreiks der Gipfel phantastischer Torheit, die auch nur zu „diskutieren“ absurd erschien. Bebel, der mit Singer delegiert war, sprach seine Meinung aus; er sprach mit voller Offenheit, aber doch in so weise abgemessener Form, dass seine Rede auch die leidenschaftlichsten Anhänger des Generalstreikplanes nicht verletzen und, was schlimmer gewesen wäre, nicht reizen konnte. Bebel hat dann noch – diesmal mit dem leider verstorbenen Ehrhart und Kautsky – an einem zweiten mindestens ebenso bedeutungsvollen österreichischen Parteitag teilgenommen, an jenem, der die Revision unseres Parteiprogramms vornahm. Damals hat Bebel auch in einer grossen Volksversammlung in Wien gesprochen, deren Eindruck allen, die ihn hörten, unvergesslich bleiben wird.

Der Entwicklung unserer Partei folgt Bebel von jeher mit einem Grade von Verständnis, das wenige, die nicht Oesterreicher sind, haben. Zwar ganz versteht er uns und unsere Politik nicht. Wie sollte er auch ? Haben wir Eingeborenen doch alle Mühe, in dem verschlungenen Knäuel vielgestaltiger Probleme den Faden festzuhalten. Oft schüttelt er den Kopf und wundert sich – wie wir uns ja selber mitunter wundern. Aber nicht genug hoch anzurechnen ist ihm, dass er begriffen hat, was der Hauptpunkt der proletarischen Politik in Oesterreich ist: wie aus der österreichischen Sozialdemokratie, die der Hauptsache nach die deutschösterreichische Sozialdemokratie war, die Sozialdemokratie in Oesterreich wurde, unsere Internationale mit ihren ganz eigentümlichen Lebensbedingungen, ungeheuren Schwierigkeiten und unabsehbaren Entwicklungsmöglichkeiten. Dass Bebel diesem Prozess mit Verständnis gefolgt ist, hat ihm das unbegrenzte Vertrauen der Sozialdemokraten aller Zungen in Oesterreich, nicht nur der deutschen, erworben und erhalten.

Bebel wird an seinem siebzigsten Geburtstage von den klassenbewussten Proletariern aller Länder der zivilisierten Erde als der Ihrige reklamiert und gefeiert werden. Mit Recht, von ihm ist eine Kraft ausgegangen, die ihn zu einer geschichtlichen Figur macht, zu einer Persönlichkeit, die in der Geschichte der ganzen Welt wirksam ist. Wir österreichischen Sozialdemokraten aber glauben ein ganz besonderes Anrecht auf ihn zu haben, ihm ganz besonders herzlich nahe zu stehen. Er hat uns gestärkt in dem Glauben an unsere Kraft, er hat Vertrauen zu uns gehabt und uns mit Vertrauen erfüllt, er ist uns nicht nur Lehrer, sondern auch Freund und Helfer.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024