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Der Kampf, Jg. 2 Heft 9, 1. Juni 1909, S. 389–396.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Am 14. Mai dieses Jahres wurde das vierzigjährige Bestehen unseres Reichsvolksschulgesetzes gefeiert. Es ist eigentlich ein zu keinem besonderen Freudengefühl Anlass gebendes Jubiläum, wenn man durch diese Feier mit Erstaunen inne ward, dass es nur vier Jahrzehnte her sind, seit die Volksschule der drückendsten Geistesknechtschaft, der Herrschaft der Kirche, entzogen wurde. Man kann es kaum glauben, dass unsere Zeit, die mit Recht wohl als eine hochgemute Zeit einherschreiten darf, da sie mit dem ganzen Reichtum eines unerhört gesteigerten Wissensbetriebes und einer märchenhaften Leistungsfähigkeit der Technik eine ganz neue Welt vorzubereiten beginnt, gerade mit dem Hauptinstitut ihrer Volksbildung, der Volksschule, erst so kurze Zeit von der Vergangenheit abgetrennt ist. Ja, es will fast so scheinen – und das hat auch seine schweren Schatten auf die Gedenkfeier des Reichsvolksschulgesetzes geworfen, – dass jene finstere Geistesherrschaft, der die Volksschule vor vierzig Jahren scheinbar für immer entrissen wurde, trotz des Schutzzaunes verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Bestimmungen durchaus nicht so sehr der Vergangenheit angehört, als es zu wünschen wäre. Der Kirche sollte vor 40 Jahren jeder Einfluss auf die geistige Bildung der heranwachsenden Geschlechter genommen werden; indem der Staat ihr völlige Freiheit auf dem Gebiete der religiösen Erziehung innerhalb des von ihm bestimmten Lehrplanes gewährleistete, glaubte die liberale Theorie des Rechtsstaates einen ewigen Frieden zwischen den so lange feindlichen Mächten von Kirche und Staat begründet zu haben. Freilich, wenn die Kirche nichts anderes wäre, als lediglich eine Organisation zur inneren Erhebung der Menschen, wenn Religion ihr nichts anderes bedeuten würde als eine Tröstung und eine Aufrichtung, die sie jenen darbringt und vermittelt, welche darnach verlangen, dann wäre ein solcher Friede keine Illusion. Allein die Kirche hat sich nie damit begnügt, bloss eine Religionsgesellschaft zu sein. Sie hat von jeher sich als eine Herrschaftsorganisation betrachtet, noch dazu als eine solche von höherer Ordnung als jede weltliche, nämlich als eine Heilsordnung. Aus diesem noch zu erörternden Charakter hat sie denn auch ihre Vorherrschaft über alle weltlichen Throne abgeleitet und ihren Widerstand gegen alle Staatsgesetze gerechtfertigt, den sie bis auf den heutigen Tag jeder Einschränkung ihres Wirkungsgebietes in weltlichen Dingen entgegensetzt. Und es ist vielleicht überflüssig, sich über jenen starren Geist, der wie aus versunkenen Zeiten in unsere lebendige Gegenwart mit einem kalten Grabeshauch fährt, um sie zu ertöten, aufzuregen oder zu empören. Die Kirche als Institution – und wohlgemerkt, nur von dieser ist die Rede, nicht von der christlichen Religion, die immer mehr und mehr sich von ihrer beklemmenden Umhüllung zu befreien strebt – die Kirche kann gar nicht anders als jene Sprach- und Denkweise der Vergangenheit führen. Sie hat einmal mit Stolz von sich verkündet, dass sie nicht von dieser Welt sei. Wie immer es hiermit stehen mag, gewiss ist, dass sie nicht mehr von dieser heutigen Welt ist. So glanzvoll ihre Erscheinung, so rauschend ihre Feste, so mächtig bedrückend auch noch ihre Gewissensherrschaft auf nur zu vielen lastet, sie wird doch selbst ein immer unverständlicheres Ueberbleibsel einer schon überwundenen Geistesstufe der Menschheit. Sie lebt nur, wie noch so vieles Alte und Ueberlebte in moderne Zeiten hineinragt, durch die Wucht der Hemmung des Lebendigen, eine Kraft vortäuschend, die ihr in Wirklichkeit schon lange entflohen ist. Es bröckelt selbst am stolzen Baue der römisch-katholischen Kirche und die Alterssprünge beginnen der Künste des päpstlichen Stuhles zu spotten. Und was dieses Schicksal der Kirche besiegelt, ist, dass es gerade jene Macht ist, die sie zu vertreten vorgibt, welche sie am empfindlichsten ins Wanken bringt: die Religion. Nicht am Atheismus und Freidenkertum, nicht an der Naturwissenschaft und am Materialismus, sondern an der Renaissance eines wirklichen, die Massen gerade aus ihren Bildungsbedürfnissen heraus ergreifenden religiösen Bewusstseins erhält die Kirche einen Feind, dessen sie sich nicht mehr wird erwehren können, weil er sie in ihren eigensten Aufgaben nicht nur als überflüssig, sondern als untauglich und überlebt erweist.
Man muss sich diesen antiquarischen Charakter der Kirche einmal klarzumachen suchen, besonders in unserem katholischen Lande, in welchem für so viele die Begriffe christliche Religion und Katholizismus schlechtweg gleich geworden sind. Ueberdies erscheint dem naiven Gemüte des Volkes, das seit Generationen unter dem Krummstab aufgewachsen ist und seit Urväterzeiten her es nie anders gehört hat, die Kirche wie eine von Anbeginn bestehende göttliche Einrichtung. Demgegenüber ist der erste Schritt zum Verständnis des Wesens der Kirche, darauf aufmerksam zu werden, wie die grossartige Erscheinung der Kirche in der Geschichte ihren Anfang hat und etwas durchaus Neues darstellt.
Nie vor der Zeit des Christentums hat es auf dem Gebiete der Religion etwas der Kirche Vergleichbares gegeben. Der Punkt, in welchem die Kirche sich eben als eine neue, ja unerhörte historische Erscheinung erwies, ist, dass sie zum erstenmal den Gedanken einer geistlichen Herrschaft ausbildete und, wie wir sehen werden, mit einer Energie festhielt, die zu erschreckenden Konsequenzen führen sollte. Diesen Gedanken einer geistlichen Herrschaft hat es vor dem Christentum nicht gegeben. Zwar haben auch die Priester der antiken Religionen immer nach Macht gestrebt und Priesterherrschaft mit all ihrem Lug und Trug hat auch damals überall die Völker unter ihr Joch zu bringen gesucht. Allein es war dies doch wesentlich ein Streben zur Erlangung der weltlichen Macht als Selbstzweck, also reine Herrschaftsbegierde, meistens daher im Bunde mit der herrschenden Volksschicht. Es fehlte ganz und gar jene die christliche Kirche als geistliches Regiment kennzeichnende Auffassung, wonach die Priestergewalt eine der weltlichen Herrschaft übergeordnete, weil das Gewissen der Menschen beherrschende Macht sei. Eine Priesterorganisation, die im Staate konspirierte, war auch dem Altertum nichts Ungewöhnliches, eine solche aber, die sich über den Staat hätte stellen wollen, die ihm als Priesterschaft entgegengetreten wäre, würde dem Altertum ganz ungeheuerlich vorgekommen sein. Das hängt mit dem Wesen der antiken Religion zusammen und ist wohl geeignet, den Unterschied, den die Erscheinung der Kirche hier bezeichnet, sehr deutlich zu machen.
In den Zeiten vor dem Christentum hat die Religion einen ganz anderen Zusammenhang mit dem Volksleben, als dies seit der Aufnahme des Christentums bei den neuzeitlichen Völkern überhaupt möglich ist. Die Religion war national, aus dem Volke entsprungen und mit ihm gewachsen, ein Volksgut im besten Sinne des Wortes. Sie war nicht etwas Selbständiges gegenüber dem Staate, eine Art fremder Macht in seinem Leben, sondern dieses staatliche Leben selbst in seinen feierlichsten Augenblicken. Darum hatte jedes Volk nicht nur die ganze Wärme seines Nationalempfindens für die Religion übrig, in welcher es am tiefsten zum Genüsse desselben gelangte, sondern es hatte auch volles Verständnis für die Mannigfaltigkeit und Vielheit der Religionen als eines ihm selbstverständlichen Widerscheines der Unterschiedenheit der Nationen. So betete der Grieche zu seinen Göttern, aber es fiel ihm nie ein, zu meinen, dass auch der Aegypter zu denselben Göttern beten müsste, so wenig ihm andererseits in den Sinn kam, die ägyptischen Götter etwa für schlechter zu halten als die Seinigen. In Rom, als es der Sammelplatz der Welt geworden war, standen die Tempel aller Religionen und selbst dem Judengotte hätte sich eine Tempelpforte geöffnet, wenn die Römer einen Kultus ohne bildliche Gottesdarstellung verstanden hätten. Ja, die Götter galten sogar in dem Sinne als nationales Eigentum, dass man nicht nur die fremde Gottesverehrung respektierte, sondern selbst den fremden Göttern opferte, wenn man in ihren Bereich kam. Die vorsichtigen Kaufleute der alten Welt unterliessen es nicht, vor der Abfahrt ihrer Schiffe den verschiedenen Landesgottheiten, nach deren Küsten ihre Schiffe segelten, ihre Verehrung darzubringen. So entsprang aus diesem nationalen Charakter der Religion eine Toleranz, ohne dass noch der Begriff einer solchen sich entwickelt hätte, ohne dass irgend eine Forderung nach ihr erhoben worden wäre.
Der ungeheuere Unterschied des Christentums, durch den es die religiöse Toleranz völlig vernichten sollte, hängt mit jenen seiner Charaktereigenschaften zusammen, die zunächst einen Fortschritt in der Entwicklung der Religion darstellen. Die Idee des einzigen und alleinigen Gottes war gewiss ein grossartiger und für die ganze moderne Geistesentwicklung folgenschwerer Fortschritt. Allein es machte aus der Religion der Sammlung, die jede nationale Religion mehr oder weniger gewesen war, eine Religion des Kampfes. Nicht mehr steht eine Religion neben der anderen, sondern so wie der eine Christengott keine andere Götter mehr duldet, so auch keine anderen Kulte mehr. Das Christentum ist notwendig international, ja anational, es kennt keine Volks- und Reichsgrenzen, denn sein Reich ist die ganze Gotteswelt; es kann nicht anders als auf die allgemeine Anerkennung gerichtet sein, es will ϰατ’ ὂλον gelten – katholisch sein. So ist die Mission des Christentums von jeher der Kampf gewesen, der Kampf gegen den Unglauben und Andersglauben; keine Toleranz ist auf diesem Boden möglich – sie wäre eine Versündigung gegen die Verehrung des alleinigen Gottes, gleichbedeutend mit Abfall oder Glaubensschwäche. So sehr das Christentum vom Frieden spricht und eine Lehre der Liebe sein möchte, es ist in den Händen der Kirche seinem Wesen nach eine Lehre des Kampfes und eine Eroberungsreligion geworden, wovon die Geschichte unseliges Zeugnis bietet bis auf den heutigen Tag.
Allein es ist nicht diese Kampfessteilung allein, was der christlichen Religion gegenüber den antiken Religionen einen so wesentlich neuen Charakter verschafft. Es sind noch zwei andere Momente, die dazu beitragen, dass wir hier ein so neuartiges und erstaunliches Gebilde wie die Kirche sich entwickeln sehen konnten. Das eine besteht darin, dass die christliche Religion den Völkern, die ihr heute angehören, als ein Volksfremdes entgegengebracht wurde, das nicht nur nicht aus seinen Bedürfnissen, aus seinem Gemütsleben und Verständnisse entsprang, sondern oft sogar ihm als ein ganz Aeusserliches und nicht selten kulturell Ueberlegenes aufgepfropft wurde. Für die breite Masse des Volkes war durch ihre sogenannte Bekehrung zumeist keine wirkliche religiöse Erhebung vor sich gegangen. „Sicherlich,“ sagt Meyer in seiner Abhandlung über Christentum und Germanen, „waren weder Chlodewig und die Franken durch die Taufe innerlich wahre Christen geworden ... sie vertauschten einen Gott mit dem andern: Christus wurde der Nationalgott der Franken“. In dem Prolog zum salischen Gesetz heisst es: „Es lebe Christus, der die Franken liebt!“ Bekannt ist auch, wie sehr die Kirche, um sich behaupten zu können, heidnische Feste und Gebräuche mit ihren Formen heiligen musste. Dieser Abstand des Kulturniveaus der gläubigen Menge von der unterweisenden Priesterschaft musste naturgemäss die religiöse Scheu des Volkes aufs äusserste unterstützen und die Herausbildung einer Organisation erleichtern, die sich um so unverhohlener mit ihren geistlichen Anforderungen jeder weltlichen Macht entgegenstellen durfte, als sie von vornherein bereits als etwas Staats- und Volksfremdes empfunden wurde.
Zu alledem kam nun noch jenes Moment, in welchem sich die Einzigartigkeit der Kirche vollendet und das sie zu jener historischen Erscheinung machen musste, die wir vor Augen haben: der Heilsgedanke. Denn es ist ja nicht nur der Gottheitsbegriff allein, den sie verkündigt, sondern das Heil der Erlösung durch den Glauben an einen einzigen Gott, durch den rechten Glauben. Auch hier eröffnet sich ein tiefer Gegensatz gegen die antiken Religionen. Diese waren gleichsam nur auf das weltliche Wohlergehen bedacht; sie waren eine Art seelischer Versicherung gegen die Wechselfälle dieses Lebens. Was man von den Göttern begehrte, das war Abwehr von Krankheit und Tod, Glück, Ehre und Macht, Beistand in der Gefahr und Rache an dem Feind oder Verletzer des Rechtes. Es war immer nur das Treiben dieser Welt, das auch in der Religion die Menschen beschäftigte und hier Hoffnung wie Trost fand.
Nicht so das Christentum; sein Reich war nicht von dieser Welt, in der es vielmehr nichts gab, das irgend einen Wert für die Religion besass. Die Erde war ein Jammertal, irdisches Wohlergehen nur eine Verlockung zum Abfall vom rechten Glauben. Einzig und allein dieser konnte Erlösung bringen und dazu war notwendig eine Abkehr von irdischen Interessen, eine Einkehr in sich selbst, eine Aufrichtung der Geister. Ist das Hauptinteresse der antiken Religion das Leben, so der christlichen Religion der Geist. Sucht die erstere darum die Verbindung mit der Welt, so die letztere nur die Abkehr von ihr und die Einwirkung auf den Geist. Diese aber muss mit allen Mitteln ermöglicht werden; denn nicht Geringes steht auf dem Spiele, vielmehr das Höchste: die Seligkeit. Sollte man die Menschen nicht zu ihrem Heil zwingen dürfen? Sollte nun, da ein Gott über alle Völker zu herrschen begonnen hatte, nicht auch ein Heil sie alle beglücken, und, wenn sie es störrig und unwissend verschmähten, ihnen nicht gewaltsam mitgeteilt werden? Muss doch auch der Vater oft mit Gewalt gegen seine noch unmündigen Kinder vorgehen, die es ihm später Dank wissen. So begründet die Kirche eine neue, bis dahin noch unerhörte Herrschaft, eine Weltbeherrschung der Geister, die, weil sie durch den Glauben ihrer Angehörigen sogar über diese Welt hinausreichte mit den Schrecknissen der Höllenstrafen, nur um so sicherer in dieser Welt ihre Macht befestigte.
Zum erstenmal in der Geschichte stehen wir vor der Erscheinung einer Gewissens- und Gedankenknechtschaft. In der Kirche vollendet sich die Unterwerfung des einzelnen in einem viel umfassenderen Masse, als dies je im Staate möglich wäre, selbst wo er despotisch regiert wird. Denn der Staat herrscht nur über die Handlungen seiner Bürger, die Kirche aber über deren Gedanken und Ueberzeugungen. Der Staat ist eine Herrschaft über Menschen, die Kirche eine solche über Seelen. Ist eine solche Herrschaft nicht ein unmögliches Beginnen? Wie vermöchte eine Macht in das Innerste des Menschen einzudringen und seine Gedanken vors Gericht zu ziehen? Die Kirche hat das scheinbar Unmögliche zu verwirklichen verstanden, sie hat die Seelen der Menschen vor den Richter gestellt, nicht vor den himmlischen, sondern vor den irdischen, sie hat, um zu der Seele zu gelangen, den Körper auf die Tortur gespannt; mit einem Wort: sie hat den Ungedanken einer Glaubensgerichtsbarkeit nicht bloss gedacht, sondern zur Wirklichkeit gebracht – und dies als Konsequenz ihrer Kampfesstellung, die sie intolerant, und ihres Heilsgedankens, der sie heillos machen musste. Lassen wir einige Schlaglichter auf diese traurigen Abschnitte der menschlichen Geschichte fallen.
Das erste Mittel, dessen sich die Kirche bediente, um ihre Glaubensgerichtsbarkeit durchzuführen, war die heilige Inquisition, das Ketzergericht. Im Jahre 1215 durch Papst Innozenz III. auf dem 4. lateranensischen Konzil eingeführt und 1232 dem glaubenseifrigen Orden der Dominikaner übertragen, entfaltete die Inquisition durch alle die folgenden Jahrhunderte ihre unheilvolle Tätigkeit. Man gewinnt erst dann den richtigen Blick für das antiquarische Wesen der Kirche, wenn man forscht, wie lange sie ihre dem fortschreitenden Leben so widersprechenden Institutionen in Kraft erhält und dann mit Erstaunen inne wird, dass sie selbst gar nicht daran denkt, mit ihnen ein Ende zu machen, so dass es nur äussere Gewalten sind, die hier eine Schranke setzen. Wie lange wohl glaubt man diese aus den dunkelsten Zeiten stammende Ketzergerichtsbarkeit beseitigt? Nun wohl – es kann noch keine Jahrhundertfeier der Aufhebung der Inquisition begangen werden. In Frankreich im Jahre 1772 beseitigt, hat sie in Spanien noch bis – 1834 gewirkt. Ja im Kirchenstaate, also dort, wo das Papsttum zugleich eine weltliche Herrschaft ausübte, wurde noch – 1852 ein Ehepaar durch die Inquisition zur Galeerenstrafe verurteilt wegen des hassenswerten Verbrechens des Uebertrittes zum Protestantismus. Diese Tatsache allein spricht deutlich genug für den unwandelbaren Charakter der Kirche und was man von derselben zu gewärtigen hätte, wenn auch heute noch dem geistlichen Regiment die weltliche Macht zur Verfügung stünde. Sind doch auch nur die Gerichtshöfe der Inquisition aufgehoben. Aber die Institution selbst besteht in der Kongregation des heiligen Offiziums noch heute in Rom und hat gerade in der letzten Zeit in dem Kampf gegen die sogenannten Modernisten wieder die ganze ihr noch verbliebene geistliche Strafgewalt gegen jede freiere Gedankenregung unerbittlich spielen lassen.
Wie aber wurde diese Glaubensgerichtsbarkeit durchgeführt? Wie mochte man die Seelen vors Gericht bekommen? Da war jeder Christ bei sonstiger schwerer Leibesstrafe zur Denunziation verpflichtet, sobald ihm irgendwo etwas als Ketzerei aufstiess. Man beachte wohl: die Kirche führte die allgemeine und ausnahmslose Denunziationspflicht ein, an der sie noch heute festhält – ein Mittel, das der Staat in seiner Sphäre nie verlangt hat, indem er sogar bei Hochverrat doch noch die nächsten Verwandten von der Anzeigepflicht ausnimmt und bei den übrigen Delikten eine solche gar nicht kennt. Man kann sich vorstellen, wie viele Opfer eine solche Denunziationspflicht fordern musste, besonders in einer Zeit, da schon die Lauheit im Glauben gefährlich schien und durch eine Anzeige am leichtesten der Beweis einer kirchlichen Gesinnung erbracht werden konnte. Man denke nur an das Unwesen der Hexenprozesse, in denen sich die Angeberei, die Hexenriecherei, wie eine geistige Epidemie verbreitete. Wie viele Menschen dem furchtbaren Wahn der Inquisition zum Opfer fielen, in Deutschland, in Frankreich, in Holland – wo die Einführung derselben das Volk zum Aufstand brachte – in Italien, in Spanien und Portugal, das wird vielleicht noch zu wenig gewertet. Entnehmen wir doch einem Bericht über die Aufhebung der Inquisition in Spanien, dass daselbst in der Zeit von 1481 bis 1808, das ist in dreieinviertel Jahrhunderten 34.658 Menschen getötet und 288.214 Menschen zu lebenslänglichem Gefängnis, Galeerenstrafe oder zu sonstigen Strafen verurteilt wurden. Bedenkt man die in früheren Jahrhunderten viel geringere Bevölkerung, so erschrickt man über diese ungeheuerlichen Zahlen. Und erinnert man sich weiter daran, dass diese Opfer gerade die geistig regsameren, selbständig und freier denkenden Menschen getroffen haben, so erkennt man, dass die Kirche jahrhundertelang durch das Ketzergericht der Inquisition eine umgekehrte Auslese bewirkt hat, indem sie bemüht war, gerade die geistig hervorragenderen Kräfte der Völker auszujäten. Gewiss liegt hier eine der Ursachen des so unglaublich langsamen Fortschrittes der Geisteskultur gerade in den eigentlich christlichen Jahrhunderten, in denen alle geistige Arbeit selbst der grössten Denker fortwährend in Angst und Sorge der Tortur zu entgehen suchen musste und nicht immer entgangen ist, wie die Beispiele von Giordano Bruno und Galilei beweisen.
Das zweite Mittel der kirchlichen Glaubensgerichtsbarkeit ist die geistliche Presspolizei, der Index, eine Presspolizei, von deren Bedeutung alles gesagt ist, wenn wir wissen, dass hinter ihr die Inquisition stand. Der Index, das heist ein Verzeichnis der verbotenen Bücher, kam zuerst nach der Reformation auf und war die prompte Antwort der Kirche auf eine der grössten Kulturerrungenschaften, nämlich auf die Kunst des Bücherdruckes. Im Jahre 1559 unter Papst Paul IV. zum erstenmal veröffentlicht, hat die Kirche seither das Verzeichnis der verbotenen Bücher stets peinlich revidiert und ergänzt und damit förmlich ein Protokoll über die geistige Entwicklung der christlichen Völker geführt, nur freilich, um diese zu unterbinden. Wann ist wohl endlich dieser Index aufgehoben worden? Er ist erst im Jahre – 1900 wieder neu herausgegeben worden; noch immer verzichtet die Kirche nicht und kann es nicht tun, ihren Gläubigen vorzuschreiben, was sie lesen und denken dürfen. Und erst bei dieser Neuherausgabe vom Jahre 1900 sind aus der Liste der für jeden Christen verbotenen Bücher Goethe und Kant gestrichen worden. Man lasse die volle Bedeutung dieser Tatsache auf sich wirken: 100 Jahre lang hätte, wenn der Kirche auch heute noch die Schrecken der Inquisition zur Verfügung stünden, der deutschen Nation entzogen bleiben sollen, was ihren grössten Stolz ausmacht, ihren wertvollsten Besitz, das Schaffen von Kant und Goethe. Hundert Jahre lang wäre die Welt, soweit sie christlich ist, von dieser Geistesarbeit, von diesen Schöpfungen der Kunst ausgeschlossen gewesen, hundert Jahre der fruchtbarsten geistigen Einwirkung hätten der Menschheit verloren sein müssen! Denn der Index war, solange die volle Macht der Kirche ihn stützte, kein harmloses Verbot, welches das verbotene Buch nur interessanter machte, sondern ein Befehl, dessen Nichtbefolgung bei der allgemeinen Anzeigepflicht Leibes-, wenn nicht Todesgefahr brachte. Und wenn auch heute diese Sorge von der Menschheit genommen ist, so bleibt der Kirche doch noch genug wirksame Strafgewalt in ihrem Kreise, was bei dem Umstand, als noch immer neue Bücher auf den Index kommen, die Kirche gerade in dem Masse, wie sie ihre Angehörigen an sich zu halten weiss, auch immer mehr mit der modernen Geisteskultur zerfallen lassen muss.
Ein drittes Mittel endlich zur Durchführung ihrer Glaubensgerichtsbarkeit ist der Syllabus. Darunter versteht man eine Aufzählung von verschiedenen Lehren, die jeder Christ als unrichtig und sündhaft verwerfen muss. Dies wird in der Form ausgesprochen, dass jeder, der diese oder jene Lehre als wahr behauptet, verflucht sei. Aus welcher Zeit mag wohl eine solche Verfluchung und überhaupt diese ganze Art der Umzäunung der Wahrheit stammen? Sie trägt den Moderduft des dreizehnten Jahrhunderts, eines Innozenz III. an sich, stammt aber aus dem Jahre – 1864, in welchem Papst Pius IX. den ersten Syllabus veröffentlicht hat. Und das Erstaunliche ist, dass auch diese Institution eine Neuauflage statt einer Abschaffung in unserer Zeit erleben konnte. Denn erst am 18. Juli 1907 hat der gegenwärtige Papst Pius X. zur allgemeinen Verblüffung der gesamten wissenschaftlichen Welt den zweiten Syllabus herausgegeben. Er liest sich wie ein Auszug aller modernen Anschauungen auf dem Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, Geschichte, Philosophie und Naturwissenschaft, und man ist zunächst ganz überrascht und erfreut zugleich, so viele grosse und moderne Gedanken in einer kirchlichen Kundmachung anzutreffen. Allein mit dem Schluss wird alles erst ins rechte Licht gestellt. Denn dort steht, dass alles dies, was uns eben noch als das grosse Produkt der geistigen Arbeit unserer Zeit so tief ergriffen hat, nur Teufelswerk und darum verflucht sei. Anathema sit!
So bestimmt die Kirche nicht nur was ihre Anhänger zu lesen und zu denken haben, sondern sie setzt auch vorweg der wissenschaftlichen Forschung ihre Schranken. Es ist in der Tat ein System der Unterwerfung, dem, wie wir anfangs sagten, nichts anderes gleichkommt. Die Kirche selbst hat dafür in dem von ihr so gern gebrauchten Gleichnis vom Hirten und der Herde einen unübertrefflichen Ausdruck geschaffen. Das Schaf braucht nichts zu wissen, wenn es nur einen Hirten hat, der für die Herde denkt und dem sie folgt. Aus dieser Geistesverfassung der Kirche, zu welcher ihr ursprüngliches Lehramt entartete, ist jene verhängnisvolle Richtung hervorgegangen, die aus dem lebendigen Glauben das starre Dogma machte, welches schliesslich alle wirkliche Religion aus der Kirche hinausdrängte. Sie hat es notwendig gemacht, die Begriffe Kirche und Christentum streng auseinanderzuhalten, wie denn auch alle gegenwärtigen religiösen Bemühungen um die Erhaltung des Christentums selbst im katholischen Lager in einen Gegensatz zur Kirche getreten sind.
Die Kirche als Dogmenschmiede vollendet das Charakterbild, das wir hier zu zeichnen versuchen, in einem gerade für die Frage ihres Einflusses auf die Schule entscheidenden Punkte. Ueberblickt man die Geschichte der Dogmen, so findet man, dass dieselben mit zwei gleich zu erwähnenden Ausnahmen sämtlich im Mittelalter festgelegt wurden. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war die Dogmatik der Kirche schon abgeschlossen und fand ihre Kodifikation in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts im Tridentinischen Konzil. Es sind nur zwei Dogmen hinzugekommen, zwei Lehren, welche selbst die Päpste des Mittelalters nicht durchzusetzen vermochten, die aber das – neunzehnte Jahrhundert verkünden sollte. Es ist dies das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariä (1865) und der Unfehlbarkeit des Papstes ex cathedra (1872). Sonst stammt also der gesamte Dogmenbau der Kirche aus der Zeit vor dem sechzehnten Jahrhundert. Seither aber ist jene gewaltige Umwälzung in den äusseren und inneren Lebensverhältnissen der Menschheit eingetreten, um deretwillen man seit dem sechzehnten Jahrhundert die Neuzeit rechnet. Das Denken der Menschen ist seither auf ganz neue Grundlagen gestellt worden. Man hat sich gewöhnt, die Natur gesetzmässig zu erfassen und auch den Menschen in ihren Zusammenhang zu stellen. Himmel und Erde sind nicht länger mehr die physischen Pole einer alten, noch naiven Weltauffassung, sondern in die Vorstellung eines gesetzmässigen Universums übergegangen. Durch die Sozialwissenschaft im Verein mit dem Entwicklungsgedanken ist schliesslich auch das Leben und seine Geschichte immer mehr zu einem Glied dieses gesetzmässigen Universums geworden.
Von alledem, was gegenwärtig beinahe schon mit der Luft von den neuen Generationen eingeatmet wird, so dass es den Kindern unserer Zeit als selbstverständlich gilt, waren auch nicht einmal die Elemente zu der Zeit vorhanden, da die Kirche ihre Dogmen schuf. Auf den Standpunkt der Kirche sich stellen, heisst daher den Geist auf das Niveau vor dem Beginn der modernen Naturwissenschaft und Philosophie einschränken, hinter Baco und Descartes zurückgehen. Die Geistesherrschaft der katholischen Kirche bedeutet die Herrschaft einer Zeit, die nicht einmal das Lehrziel unserer heutigen Volksschule zu ihrem Wissensbestande rechnen konnte.
Einer solchen Macht, deren geistige schöpferische Arbeit, soweit man von einer solchen hier sprechen kann, mit dem Tridentinischen Konzil, somit vor Jahrhunderten, abschloss, können wir nicht die Quellen unserer Geistesentwicklung, die Schulen überantworten. Gewiss ist es richtig, dass die Kirche in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters ein Kulturfaktor war, der an die noch halb barbarischen Völkerschaften, die damals Europa besiedelten, eine höhere Kultur heranbrachte, in ihren Schulen eine gewisse Bildung vermittelte und das Volk in den Künsten des Friedens, Ackerbau und Gewerbe, unterwies. Aber schon Herder hat dagegen gesagt, dass die Kirche mit alledem nur tat, was sie tun musste, um ihren Einfluss auf die Gemüter materiell zu stützen und um selbst einen Nachwuchs zu haben, der imstande war, die lateinischen und griechischen Kirchenväter zu lesen und die Dogmen zu lehren. Ein Minimum von Bildung musste auch die Kirche zulassen. „Dass aber dem eigentlichen Papismus es nie an reiner Aufklärung, an Fortschritten zu einer besseren Staatsordnung samt allem was dazu gehört, gelegen gewesen sei, erweiset die ganze mittlere Geschichte. Der beste Keim konnte zertreten werden, sobald er gefährlich ward.“ (Herder.)
Wie viele gute Keime schon zertreten wurden, davon hat uns der knappe geschichtliche Rückblick, den wir hier versuchten, eine anschauliche Vorstellung gegeben. Es sind der Opfer übergenug gebracht, es ist hoch an der Zeit, endlich weniger verschwenderisch mit den Keimen der Menschheitsentwicklung umzugehen. Zum Glück ist auch bereits jenes Geschlecht herangewachsen, das sich dieser im höchsten Sinne kulturellen Aufgabe unterwinden kann. In dem modernen Sozialismus hat auch die Forderung der Geistesfreiheit ihre stärkste und begeistertste Unterstützung gefunden. Denn mit ihr verteidigt der Sozialismus ja seine eigene Existenzbedingung. Politische und ökonomische Emanzipation, Befreiung von staatlicher und wirtschaftlicher Knechtschaft waren lange Zeit die hervorstechendsten Kampfziele des sozialistischen Proletariats. Aber schon im Anfang seiner Bewegung und seither immer mehr hat es erkennen gelernt, dass die geistige Emanzipation, die Befreiung von geistiger Knechtschaft, ein unabtrennbarer Bestandteil seines ganzen grossen Kampfes ist. Diese geistige Emanzipationsbestrebung hat bisher gerade durch die Mithilfe des Proletariats in seinen Bildungsvereinen und Instituten einen grossartigen Aufschwung genommen. Sie wird aber immer mehr als Emanzipationskampf hervortreten müssen. Immer mehr wird das Proletariat hier aus seiner bisherigen blossen Verteidigerstellung in die des Angriffes übergehen müssen. Ist es auch im Grunde eine Arbeit, die eigentlich dem liberalen Bürgertum zugefallen wäre, so glaube man doch ja nicht, dass es sich deshalb hier weniger um eine eigene Sache der Sozialdemokratie handle. Denn was das gleiche Recht für die politische Erstarkung, was die ökonomische Organisation für die wirtschaftliche Kräftigung des Volkes das ist eine moderne Schule für seine geistige Gesundung. Nur mit einer nicht schon geistig missgebildeten Bevölkerung können auch die Aufgaben der politischen und wirtschaftlichen Emanzipation wirklich und ohne zu schmerzlichen Zeit- und Kräfteverlust durchgeführt werden. Darum ist bei der Feier des Reichsvolksschulgesetzes es eigentlich, abgesehen von den ganz dünnen Schichten eines freiheitlichen Bürgertums, das mehr aus politischer Gegnerschaft die Feier mitmachte als aus wirklichem Kulturinteresse, nur die sozialdemokratische Arbeiterschaft gewesen, die in machtvollen Kundgebungen diese Feier beging. Und darüber dürfen wir frohen Mutes sein: denn die beste Feier des Volksschulgesetzes ist die Kampfbereitschaft des Volkes selbst, das, mit dieser Schule lange noch nicht zufrieden, sie sich gewiss nicht noch verschlechtern lassen wird. Hier ist nicht nur ein Wille, sondern auch ein Weg, und er weist in eine lichtvollere Zukunft.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024