Max Adler

Kausalität und Teleologie

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VII. Erkenntnistheoretische
Wendung des Streites


An diesem Punkte entfaltet sich aber erst die ganze tiefbohrende und die Naturwissenschaft förmlich unterminierende Bedeutung der teleologischen Auffassung, so wie wir diese hier kennen gelernt haben. Mit einer kühnen Wendung schlägt sie die Waffe, die der Vertreter des Naturerkennens eben noch so siegesgewiss gegen sie führen zu können glaubte, zu Boden und drückt den Angreifer derart an die Wand, dass er, mit seinen eigenen Argumenten geschlagen, gar nicht mehr wagen darf, den Mund zu öffnen. Denn schon, dass er überhaupt etwas – sei es was immer – zur Widerlegung noch sagen will, wird ihm, wie sich zeigen wird, als bündigste Selbstwiderlegung bewiesen.

Gleichzeitig ist hier nun auch der Punkt erreicht, wo die Erörterung sich am innigsten mit Fragen der Erkenntnistheorie verknüpft und nur von deren Beantwortung her die Lösung ihrer speziellen Aufgabe erbringen kann, Wesen und Wert der Wissenschaft auszumachen. Probleme, die von jeher Grübelfragen der Philosophie gewesen sind und in der modernen Fassung, die sie seit Kant gewonnen haben, im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen und logischen Arbeit unserer Zeit stehen, erweisen sich auch hier als die Grundprobleme, da erst, wenn das Denken durch sie hindurchgedrungen, es den festen Grund findet, auf dem zuletzt alle die lichten Räume der Wissenschaft ruhen, in denen es so sicher hausen zu können glaubt – solange der skeptische Zweifel an deren Wänden nicht rüttelt. Diese Probleme sind die Frage nach der transzendenten Realität der Objekte und damit, wie wir sehen werden, untrennbar gegeben, die Frage nach dem Wesen des Urteils.

Für den ersten Blick mag es ja gewiss scheinen, als ob nur ein überaus entlegener und subtiler Zusammenhang zwischen unserer Aufgabe und diesen Fragen bestünde. Wie sehr aber in der Tat diese beiden Probleme für eine Untersuchung von prinzipaler Bedeutung sind, die, wie die gegenwärtige, doch nichts anderes will, als neben dem Bereich der Naturwissenschaften ein eigenes der Geisteswissenschaften abgrenzen, das wird vielleicht selbst diesem anfänglichen Befremden unmittelbar einleuchtend, wenn man sich erinnert, wie die von der Naturwissenschaft für sich allein beanspruchte Objektivität ihrer Erkenntnisse nicht zuletzt auch darauf gegründet wird, dass sie es mit einer Welt von Objekten zu tun habe, die nach Abzug der Subjektivität unserer Sinnesempfindungen eine unbestreitbare, ausser unserem Bewusstsein gegebene, wenn auch für uns vielleicht unerkennbare Reahtät habe, das (freilich sehr mit Unrecht) sogenannte Kantsche „Ding an sich“, sowie dass, was für Inhalts und Wesens immer die Wissenschaft sein mag, sie jedenfalls ein System von Urteilen ist, in welchen und durch welche sich alle unsere Erkenntnis erst deutlich zum Bewusstsein bringt.

Daher also die unumgängliche Hinwendung der vorliegenden Untersuchung auf die beiden bezeichneten Probleme, nach welcher Richtung die teleologische Auffassung vorzüglich namentlich durch Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert in wahrhaft glänzender Weise herausgearbeitet wurde. Die Grundgedanken, deren Darlegung wir im folgenden versuchen wollen, finden sich bereits fast sämtlich in Windelbands Präludien, kleineren Schriften über das Urteil, und in dem bereits zitierten Vortrag über Naturwissenschaft und Geschichte. In geschlossenem Zusammenhange und die Konsequenz dieser Gedanken mit Fichteschem Geiste aufs strengste weiterführend, hat sie dann H. Rickert in seiner Schrift Der Gegenstand des Erkennens zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung zu verarbeiten unternommen, auf welche sich sein ganzes Werk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, zur Zeit wohl das logisch-kritische Hauptwerk der teleologischen Richtung der Geisteswissenschaften, ausdrücklich beruft. Indem ich nun hier bloss in grossen Umrissen die ganze Argumentierung skizziere, wie sie in diesen Schriften zu dem Ziele abläuft, die Naturwissenschaft ganz und gar in einem neuen Lichte zu zeigen, in welchem alles das, was sie bisher als so begründetes Anrecht auf das ihr ausschliesslich zukommende Prädikat der Wissenschaft hielt, als bloss dogmatischer Dünkel und unkritischer Hochmut entwertet wird, ist es kaum möglich, die logische Treffsicherheit, Ja die Eleganz der Gedankenführung namentlich in Windelbands Präludien und Rickerts Schrift Der Gegenstand der Erkenntnis so aus dieser Wiedergabe der Gedanken einwirken zu lassen, wie sie in ihrer eigenen Entwicklung den widerstrebenden Leser mit sich führen, wohin sie wollen. Und auch, wenn wir in der Folge darangehen werden, dieses Widerstreben hinterdrein auf einen rationellen Ausdruck zu bringen, also uns Rechenschaft zu geben, ob nicht doch in dieser anscheinend so festgefügten Kette logischen Raisonnements ein brüchiges Glied sei, kann hier wenig mehr geschehen, als dass bloss die Zielpunkte gesetzt werden, auf welche m. E. eine Gegenargumentierung ihren Angriff zu richten hat. Denn eine Erörterung, die sich mehr zur Aufgabe stellte und die hier auftauchenden Aufgaben alle ergreifen wollte, müsste sich ja vor allem um die beiden jetzt im Vordergrunde stehenden Probleme der transzendenten Realität der Objekte sowie des Wesens der Urteilsfunktion bemühen, und das ist eine Anforderung, die im Rahmen dieser Studie, so sehr es ihr vielleicht auch zum Nachteil gereichen mag, nicht erfüllt werden kann, ohne ihre ganze Oekonomie zu stören. Was hier not tut, ist nur, dass der Zusammenhang mit diesen Problemen nicht übersehen werde, dann aber bloss ein Ueberblick gewonnen werde, der erkennen lässt, in welcher Richtung sich die Untersuchung um das Wesen der Wissenschaft und damit auch der Geisteswissenschaften zu bewegen habe, will sie ein sicheres Resultat gewinnen, sowie welcher Art dieses darnach sein dürfte.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020