Friedrich Adler

Der Wert des Parlamentarismus

(1. Juni 1911)


Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, 1. Juni 1911, S. 413–415.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Mit Begeisterung zieht das Proletariat in den Wahlkampf. Aller Missmut über das Parlament, das der nationalistische Wahnsinn und die reaktionäre Intrige um seine besten Früchte betrogen, ist vergessen. Ein einziges Gefühl beherrscht alle: die in Oesterreich viel zu seltene Gelegenheit des Wahlkampfes muss ganz ausgenützt werden, um die noch unaufgeklärten Massen für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Wir wissen es nur zu gut, dass nicht jeder, der sozialdemokratisch wählt, bereits mit allen unseren Grundanschauungen vertraut ist. Und doch ist die Tatsache, dass jemand zum erstenmal den Entschluss fasst, seinen Stimmzettel sozialdemokratisch auszufüllen, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Wer sich durch die Märchen vom Teilen und der freien Liebe nicht mehr einschüchtern lässt, wer alle die anderen Vorurteile, die die Pfaffen und Soldschreiber des Kapitals mit Eifer nähren, zu überwinden vermag und auf seinen Stimmzettel den Namen des Sozialdemokraten setzt, der braucht ja sicher noch kein durchgebildeter Genosse zu sein, aber er schreibt sich damit in die Schule des Sozialismus ein.

Ueber den Wert des Wahlkampfes für unsere Bewegung besteht keinerlei Zweifel, wohl aber warnte bereits der Hainfelder Parteitag, sich über den Wert des Parlamentarismus einer Täuschung hinzugeben. Worin besteht diese Täuschung? Es ist vielleicht nicht überflüssig, sie gerade heute, mitten im Toben des Wahlkampfes, wieder aufzuzeigen. Eine einfache Analogie soll sie uns klarmachen.

Die moderne Technik hat uns gelehrt, die Energie des Bergbaches in Licht und Wärme umzusetzen, sie in weit entfernten Orten zu mechanischer Arbeit zu verwenden. Ein jeder weiss, dass dazu eine Maschine nötig ist. Das Wasser gibt seine Geschwindigkeit etwa an eine Turbine, die sich gleichzeitig mit dem Anker der Dynamomaschine dreht, ab. Durch die Drehung dieses Ankers entsteht elektrischer Strom. Und zwar entsteht er in dem Masse, als die Wassermassen ihre Geschwindigkeit verlieren. Die Energie des Wassers wird in elektrische Energie umgewandelt, transformiert.

Die Maschinen – die Turbine und Dynamomaschine – sind keine Quellender Energie, aus ihnen kann nur so viel entnommen werden, als anderseits in sie hineingelangt ist. Nicht Quellen der Energie sind sie, sondern nur Transformatoren, Umwandler der Energie.

Alle Missverständnisse über den Parlametarismus gehen im letzten Ende darauf hinaus, dass man in ihm eine Quelle der Energie sucht, dass man dem Aberglauben verfällt, die parlamentarische Maschine könne aus sich heraus irgend etwas zeugen. Die Wahrheit, die wir uns in den verschiedensten Formen immer wieder zum Bewusstsein bringen müssen, ist: Der Parlamentarismus ist nur der Transformator der Energie der Klassen. Die Parlamente sind keine geheimnisvollen Energiequellen, die dem Proletariat oder irgend einer anderen Klasse die Aufwendung aller Kraft, die intensivste Tätigkeit ersparen können, sondern sie sind nur die Maschinen, in denen die Leistungen der Klassen umgewandelt werden in die Tätigkeit der Beamten der Gemeinwesen.

Die Energie, die die Klassen an das Parlament abgegeben, ist nicht verloren gegangen, sondern wir fühlen sie jeden Tag unmittelbar am eigenen Leibe, wenn der Beamte mit seinem Zettel kommt, der uns zur Steuerzahlung, zum Militärdienst, zum Gericht u. s. w. einladet. Wir fühlen den Zwang, der auf uns ausgeübt wird, der nicht von dem Stück Papier, nicht von der Person des Beamten, sondern von den Energien der Klassen ausgeht, die die Parlamentsbeschlüsse bewirken. Welche Beamten es gibt und was die Beamten tun, das hängt von dem Mass der Energie der einzelnen Klassen ab. Wenn heute der Arbeiter es mit dem Staat nicht nur in der Form des Polizisten zu tun hat, sondern der Gewerbeinspektor in der Fabrik erscheint und dem Unternehmer diktieren kann, welche Arbeiterschutzbestimmungen er einzuhalten hat, so kommt in dieser Funktion und in manchem anderen unstreitig die Energie zum Ausdruck, die die Arbeiterklasse an die Gesetzgebungsmaschine gewendet hat.

Aber verwenden wir die Energie des Proletariats nicht viel nützlicher, wenn wir sie, anstatt sie durch die Gesetzgebungsmaschine zu leiten, in direkter Aktion der Massen wirken lassen?

Bleiben wir bei unserem Beispiel. Auch beim Bergbach gibt es die direkte Aktion und hat sie allein gegeben, solange der Menschengeist nicht eingriff. Das eilende Bergwasser kam auch in früheren Zeiten zur Ruhe, als es noch keine Maschinen gab. Die Wucht des Wassers wurde verbraucht, in Wärme und Arbeit umgesetzt. Tief hat sich das Wasser in das Gestein eingebohrt, hat Sand und Steine, ja ganze Felsen zu Tale getragen. Das war Arbeit, unendlich viele Arbeit, aber mit wenigen Ausnahmen solche, aus denen die Menschen keinen Nutzen schöpften.

Wir verwerfen die direkte Aktion, die offene Revolte keineswegs prinzipiell, wir wissen, dass sie manchmal den herrschenden Klassen Zugeständnisse abgetrotzt hat, und wir wissen vor allem, dass gerade die Möglichkeit des Massenaufstandes der Druck ist, mit dem wir gegen die anderen Klassen wirken, die dem Wort unserer Vertreter im Parlament Bedeutung verschafft. Wir glauben aber nicht, dass die direkte Aktion die dauernde Form sein kann, in der das Proletariat seine Erfolge erzielt. Der permanente Aufstand ist nicht nur die unrationellste Form der Betätigung, sondern geradezu eine unerfüllbare Forderung an eine Klasse. Was die Taktik der Sozialdemokraten unterscheidet von jener, die die Syndikalisten und andere „Antiparlamentarier“ anpreisen, ist, dass wir die direkte Aktion der Massen als letztes Mittel benützen und für gewöhnlich durch die Bereitschaft zu ihr wirken, die „Antiparlamentarier“ sie zum täglichen Kampf verwenden wollen. Auch die Bereitschaft zur Aktion finden wir in unserer Analogie wieder. Es ist die Wassermasse, die hoch oben im Gebirge durch ein Wehr gestaut ist. Nicht die geringste Strömung bewegt diesen See, und doch enthält er bereits dieselbe Energie, die sich im reissenden Strome im Tale offenbart. Es ist die Energie der Lage, die potentielle Energie, die dieses Wasser dort oben besitzt, die, je tiefer das Wasser fällt, um so mehr in Bewegungsenergie (kinetische Energie) umgewandelt wird.

Von den zwei Formen der Energie stützen sich die Sozialdemokraten in erster Linie auf die potentielle, die Syndikalisten allein auf die kinetische. Jeder grossen Massenaktion muss eine oft recht lange Periode der Ruhe, der Wiederaufspeicherung der verbrauchten Energievorräte folgen. Daher schon ist die permanente Massenaktion, wie sie die Antiparlamentarier predigen, ausgeschlossen. Die Sozialdemokraten verwenden die aufgespeicherten Energievorräte viel rationeller. Sie lassen sie, bevor sie sie einmal verbrauchen müssen, als Drohung wirken, sie erzwingen ihren Wünschen Gehör durch die Möglichkeit der Aktion, sie üben eine Taktik der Kriegsbereitschaft.

Das Parlament arbeitet unter dem Druck der Klassen, die bereit sind, die Worte ihrer Vertreter mit ihrer ganzen Energie zu unterstützen. Was nun die Antiparlamentarier raten, ist, den anderen Klassen die Möglichkeit zu geben, ihre Energien in den Gesetzgebungsmaschinen möglichst ungestört zur Geltung zu bringen. Das Proletariat soll den Versuch aufgeben, wenigstens einen Teil dieser Energien zu paralisieren, das heisst unschädlich zu machen. Wahrlich es gibt keinen Rat, bei dem die herrschenden Klassen bequemer fahren können!

Sicher wissen wir in Oesterreich nur zu gut, dass die parlamentarische Maschine mitunter auch leer laufen kann, dass aus den längsten Beratungen oft nichts herauskommt. Aber besser ist es noch immer, die Maschine lauft leer, als allein im Interesse der herrschenden Klassen.

Wir glauben nicht, dass die Gesetzgebungsmaschinen aus sich heraus etwas leisten können, aber wir haben gar keine Lust, sie den herrschenden Klassen, die ja wohl wissen, was damit anzufangen, zu reservieren. Wir überschätzen nicht den Parlamentarismus, für uns steht die Energie des Proletariats in erster Linie. Sie wollen wir sammeln und stets dort einsetzen, wo jeweils der grösste Erfolg winkt. Das wird aber in der grossen Mehrzahl der Fälle bei den Gesetzgebungsmaschinen sein.

Momentan aber genügt es in Oesterreich nicht, sich auf die Kampfbereitschaft zu stützen, sondern es gilt, eine Massenaktion zur Durchführung zu bringen. Klein ist das Opfer, das der einzelne zu bringen hat, aber mächtig wird die Wirkung sein, wenn am 13. Juni Hunderttausende sozialdemokratische Stimmzettel zur Urne tragen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024