Friedrich Adler

Wozu brauchen wir Theorien?

(1. März 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 6, 1. März 1909, S. 256–263.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Zwei Arten von Produktionsmitteln sind im Besitze der bürgerlichen Gesellschaft: Produktionsmittel des Lebens und Produktionsmittel des Todes. Die Produktionsmittel des Lebens bestehen in den Maschinen, auf denen Kleiderstoffe, Nahrungsmittel, kurz alles, was wir zum Leben brauchen, hergestellt werden; die Produktionsmittel des Todes sind die Waffen, die Gewehre und Kanonen, mit denen Menschen verwundet und getötet werden können. Der Besitz der Gewehre und Maschinen ist das Monopol der bürgerlichen Gesellschaft; auf ihm gründet sich ihre Herrschaftsstellung.

Die Arbeiterklasse besitzt nichts als ihre Arbeitskraft, von der das Bürgertum Gebrauch machen muss, um die Produktionsmittel in Bewegung zu setzen, und zwar ebensowohl die lebenermöglichenden Maschinen als die todbringenden Gewehre. Auf diesen Tatbestand gründet sich das Ziel des Kampfes der Arbeiter und seine Mittel. Dies Ziel ist, dass die gesamte Gesellschaft Besitz ergreife von allen vorhandenen Produktionsmitteln, von den Maschinen, damit sie arbeiten für alle Menschen, von den Gewehren, damit alle mit gleichem Recht darüber wachen, dass sie nicht in Funktion treten.

Bis zur endgültigen Eroberung der Produktionsmittel für die Gesamtheit gilt es, der Kapitalistenklasse vorzuschreiben, welchen Gebrauch sie von diesen Produktionsmitteln macht, ihrer Willkür Grenzen zu ziehen. Es muss das Mass, in dem die Maschinen als Instrumente der Ausbeutung verwendet werden, eingeschränkt, es muss der Bourgeoisie klargemacht werden, dass mit den Waffen nicht zu spielen ist, dass sie sich Einschränkungen auferlegen muss, wenn sie sie benützen will, um die Arbeiter gefügig zu machen. Und das gelingt. An Stelle der Dekretierung, der Verordnung der Arbeitsbedingungen durch den berühmten „Herrn im eigenen Hause“, tritt der Arbeitsvertrag, in dem zuerst für die einzelne Fabrik, dann für die ganze Branche der Stadt, schliesslich des Landes die Dauer der täglichen Arbeitszeit, die Höhe des Lohnes u. s. w. festgelegt werden. An Stelle der Verordnung ist der Vertrag getreten, allerdings einstweilen nur der Vertrag zwischen den Arbeitern als einem, den Kapitalisten als anderem vertragschliessenden Teil, während wir dahin streben, dass bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen alle Individuen als ganz gleichberechtigte Faktoren mitwirken.

Aber wir haben noch viel weiter gehende Bestimmungen, die in das Leben des einzelnen ebenso stark eingreifen wie der Arbeitsvertrag: die Gesetze des Staates. Auch diese sind anfangs Verordnungen eines absoluten Herrschers, dann Verordnungen einer herrschenden Klasse, in die die Arbeiter nichts hineinzureden haben. Aber auch der Rechtlosigkeit der Arbeiter gelingt es in immer steigendem Masse ein Ende zu machen und dadurch verwandelt sich das Staatsgesetz aus einer Verordnung, aus einem Dekret einer bestimmten Klasse immer mehr in einen Vertrag aller Bürger. Nicht mehr eine privilegierte Klasse, sondern die Mehrheit der Bürger hat den entscheidenden Einfluss. Allerdings nicht den ausschliesslichen, denn die Minderheit, die nicht ihrer Stärke entsprechende Konzessionen erhält, die vergewaltigt wird, fühlt sich durch das Gesetz nicht mehr gebunden und kann alle Funktionen der Gesellschaft obstruieren.

Wie in der Fabrik, so im Staate ist der Arbeiter anfangs rechtlos, wie auf die Arbeitsordnung gewinnt er schliesslich auch auf die Staatsordnung Einfluss. Die Willkür des einzelnen Kapitalisten ebenso wie die der kapitalistischen Regierungen wird immer mehr durch die organisierte Arbeiterklasse eingeengt. Welche Mittel stehen ihr dabei zu Gebote? In letzter Instanz kann sie sich nur auf das Eigentum stützen, das sie tatsächlich besitzt, über das sie frei verfügt: das Leben des einzelnen Menschen und speziell seine Arbeitskraft.

Das erste Machtmittel der Arbeiter ist also, ihre Arbeitskraft nicht zu gebrauchen, zu streiken, das heisst die Produktionsmittel äusser Dienst zu stellen. Und zwar wiederum die Produktionsmittel des Lebens als auch die des Todes: das Stillstehen der Maschinen, wie wir es täglich erleben, das Versagen der Gewehre, wie es in entscheidenden Fällen nicht ausbleiben kann.

Weiter wirkt die Arbeiterschaft im sozialistischen Sinne vor allem durch die Arbeit an der einzigen Maschine, die dem Proletariat gehört – durch die Arbeit an der Organisation, diesem Produktionsmittel der Macht der Arbeiterklasse. An den anderen Produktionsmitteln kann sozialistische Arbeit nur so weit geleistet werden, als den Besitzenden das Verfügungsrecht entzogen ist. Die Arbeit an den Maschinen in unseren Produktivgenossenschaften ist sozialistische Arbeit, und in letzter Instanz kann es auch die an den Produktionsmitteln des Todes, den Gewehren, werden, denn „der Lauf der Welt hängt ab vom Lauf der Flinten“.

Die Arbeitskraft und schliesslich das Leben sind der Einsatz, auf die sich in letzter Linie all unser Kampf stützt. In den Konferenzen über einen Arbeitsvertrag, ebenso wie in den Konferenzen, die man Parlamente nennt, in denen über weit umfassendere Verträge verhandelt wird, hängt alles, was unsere Vertreter, unsere Delegierten, unsere Abgeordneten erreichen können, davon ab, welche Macht die Arbeiterschaft, die hinter ihnen steht, repräsentiert an Zahl und Opferwilligkeit, inwieweit die Herrschenden wissen, dass sie bereit ist, ihre Arbeitskraft einzusetzen und eventuell ihr Leben in die Schanze zu schlagen. Die Arbeiterklasse darf sich nicht in dem Glauben wiegen, dass bei den Verträgen, die geschlossen werden in Bureaux und Parlamenten, die Vertreter das Wichtigste sind, die schon alles tun werden; sondern gerade umgekehrt: alles kommt darauf an, inwieweit die Wortführer der Arbeiterklasse sich auf ihre Auftraggeber verlassen können. Die grosse Masse braucht gar nicht in sichtbare Aktion zu treten; gewöhnlich genügt die Kampfbereitschaft. Nur der kleinste Bruchteil von Verträgen wird auf Grund von Kriegen geschlossen; aber der Grad der Kampfbereitschaft bestimmt, was in dem Vertrage Aufnahme findet. In den Parlamenten werden unsere Anträge fast nie angenommen und doch enthält jeder Beschluss, der gefasst wird, jedes Gesetz, das zustande kommt, genau so viele Konzessionen an die Arbeiterklasse, als ihrer momentanen, wirklichen Macht entspricht.

Wenn das, in kurzen Zügen gezeichnet, die Kampfmittel des Proletariats sind, dann drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Ja warum redet man denn immer so viel von Theorien? Und es ist vereinzelt gefragt worden: Brauchen wir denn überhaupt Theorien?

Um uns über diese Frage klar zu werden, müssen wir erst eine andere Frage beantworten: Was sind denn eigentlich die Theorien? Sind sie wirklich dem gewöhnlichen Leben so fremd, wie mancher wähnt, der sich niemals diese Frage beantwortet hat? Oder sind sie nicht vielmehr ein Naturprodukt, das fortwährend in allen unseren Lebensbetätigungen auftritt?
 

II.

Eine Theorie ist ein möglichst übersichtlich geordnetes System von Lehrsätzen, oder wie man auch sagt, von Gesetzen, Naturgesetzen, oder besser: wissenschaftlichen Gesetzen.

Wenn wir also wissen wollen, was eine Theorie ist, werden wir erst untersuchen müssen, was solche Lehrsätze, solche Gesetze sind, die die Bausteine der Theorie bilden.

Dabei müssen wir von vornherein ein Missverständnis ausschliessen. Man hat die sehr unpraktische Gewohnheit, zwei ganz verschiedene Dinge mit demselben Namen zu bezeichnen. Wir haben oben bereits das Wort Gesetz gebraucht, von Gesetzen des Staates gesprochen und gesagt, dass dieselben ursprünglich Verordnungen waren und sich mit fortschreitender Demokratisierung zu Verträgen zwischen den Bürgern entwickeln. Das Gesetz der Wissenschaft ist, wie wir noch zu erläutern haben, keine Verordnung, kein Vertrag, sondern eben ein Lehrsatz.

„Ein gebranntes Kind fürchtet das Feuer.“ Dieses alte Sprichwort sagt uns deutlich, wie ein wissenschaftliches Gesetz entsteht. Das Kind rührt den Ofen an und empfindet Schmerz. Macht es diese Erfahrung öfters, so drängt sich ihm schliesslich ein Zusammenhang zwischen seiner Schmerzempfindung und der Berührung des Ofens auf. Es stellt das Gesetz auf: „Wenn ich den Ofen anrühre, so schmerzt es.“ Dieser Lehrsatz kommt ihm ins Gedächtnis, so oft es wieder den Ofen erblickt und leitet sein Handeln: es weicht dem unangenehmen Möbel respektvoll aus.

Solcher Lehrsätze gibt es eine riesige Zahl. Die Theorie fasst dieselben in ein System zusammen, so dass sie leichter gemerkt und damit leichter gefunden werden können, wenn man sie braucht.

Das Kind sagt aus, was geschehen ist: „Bei der Berührung des Ofens hat es mir weh getan.“ Das Gesetz und ebenso die Theorie ist also in erster Linie eine Beschreibung von Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Der Nutzen einer derartigen gedanklichen Feststellung besteht vor allem darin, dass sie uns erspart, Erfahrungen immer wieder zu machen. Wir können Erfahrungen der Vergangenheit in späteren Fällen benützen. Das Kind brennt sich einigemal, dann nicht mehr; denn wenn es sich dem Ofen nähert, tritt das Denken in Funktion; das Gehirn wirkt als Hemmungsapparat für die Bewegung. Durch die Theorie wird also eine Oekonomie, das heisst eine Ersparnis erzielt. Die Theorie ist somit eine Beschreibung und erfüllt dadurch eine ökonomische Funktion.

Das Kind braucht sich aber an dem Ofen gar nicht zu brennen, um diese Theorie kennen zu lernen. Die Erfahrung kann jeder nur selber machen; die Theorie dagegen ist von einem Menschen auf den anderen übertragbar. Dies geschieht durch den Unterricht; sein Zweck ist es, einem Individuum Erfahrungen zu ersparen durch die Uebertragung der Erfahrungen anderer Individuen. Das Kind, dem seine Mutter sagt: „Rühre den Ofen nicht an, es schmerzt, das haben schon andere Kinder ausprobiert,“ kann sein Leben verbringen, ohne sich die Finger zu verbrennen. Aber die Ersparnis der Erfahrungen durch die Theorien geht noch viel weiter als bloss durch die mündliche Mitteilung im Unterricht. Es werden die Erfahrungen ganzer Generationen erspart durch die Aufbewahrung derselben in Bibliotheken, die sie späteren Generationen zugänglich machen. Nur durch diese Oekonomie ist es überhaupt möglich, dass wir uns in der Welt orientieren, dass wir etwas in der Welt leisten. Denn was der einzelne Mensch wirklich selbst erfährt, das ist ein winzig kleiner Ausschnitt aus der Welt, mit dem er nur die primitivsten Funktionen ausführen kann und den mannigfachsten Gefahren ausgesetzt ist. Denken wir uns einen Augenblick alles weg, was wir in unserem Leben aus Büchern und Zeitungen geschöpft haben; denken wir uns noch weg, was uns im planmässigen Unterricht mitgeteilt wurde, und endlich gar auch das, was man uns sonst erzählt hat, so sehen wir, was dann übrig bleibt, was wir selbst erfahren haben, wäre zu recht wenig nütze. Hätten wir nicht die Uebertragung durch das Denken, durch die Theorie, so würden wir ins Tierreich zurücksinken, respektive wir hätten uns nie daraus erhoben.

Der einzelne kann nur sehr wenige Erfahrungen selbst machen; er ist auf diejenigen der anderen Menschen angewiesen, und das gilt ebenso im gewöhnlichen Leben wie bei den kompliziertesten Arbeiten der Wissenschaft. Es tritt da der einzige Glaube ins Spiel, den die Wissenschaft anerkennen muss, jener Glaube, den der grosse Denker Josef Dietzgen folgendermassen formuliert hat: „Wir müssen glauben an das Wissen anderer Menschen.“ Das ist der einzige Glaube, den wir aufrecht erhalten müssen, ohne den jede Arbeit, jeder Erfolg unmöglich wäre. Aber wir werden natürlich auch in diesem Falle nicht blind, nicht immer glauben können. Die Beschreibung, die uns ein anderer von seiner Erfahrung gibt, braucht nicht richtig zu sein. Er kann sich geirrt haben; es kann also ein Mangel an Intellekt auftreten. Er kann aber auch absichtlich falsche Angaben machen, also einen Mangel an Charakter besitzen. Merken wir irgendwo, dass wir auf Grund falscher Voraussetzungen arbeiten, dann müssen wir den Fall nachprüfen, selber die Erfahrung erproben und so feststellen, ob die Aussage unseres Mitmenschen stichhältig war. Im grossen ganzen aber operieren wir immer mit einer beträchtlichen Dosis an gutem Glauben, ohne die jede Arbeit ausgeschlossen wäre.

Fortschritte der Erkenntnis, Fortschritte der Technik sind nur möglich, indem wir mit den Erfahrungen ökonomisch umzugehen verstehen, indem wir die Erfahrungen aller Menschen benützen. Das setzt aber die Formulierung dieser Erfahrungen voraus, denn die Erfahrung, die nicht formuliert, die nicht Theorie geworden ist, ist verloren, ist nie wieder benützbar. Die Formulierung der Erfahrung kann nun mannigfacher Art sein. Würde jedes Kind den Ofen, an dem es sich gerade gebrannt hat, im einzelnen schildern, alle anderen speziellen Umstände beschreiben, so würden wir über die eine Tatsache, dass das Berühren des Ofens schmerzt, dicke Bücher zu lesen bekommen. Es muss also auch in der Formulierung der Erfahrungen eine Oekonomie eintreten. Es müssen die charakteristischen Merkmale hervorgehoben und in einem einzigen kurzen Satze zusammengefasst werden. In allen Wissenschaften wird so die komplizierte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen übersichtlich geordnet und in leicht anwendbaren, bequem bereitliegenden Sätzen dargestellt. Die zweite Aufgabe der Theorie besteht also darin, uns Gedächtnis und Denken durch möglichst ökonomische Formulierung der Erfahrungen zu ersparen.
 

III.

Was kann nun die Theorie – diese möglichst kurz zusammengefasste Beschreibung früherer Erfahrungen der Menschen – uns in der Zukunft helfen?

Die Natur ist ungeheuer mannigfaltig, aber sie weist Wiederholungen auf. Ein Prozess, der einmal beobachtet wurde, tritt – wenigstens in gewissen Zügen – wiederholt auf. Wäre dies nicht der Fall, so wäre alle Theorie, alle Wissenschaft überhaupt überflüssig; aber es wäre wohl auch gar kein Leben in unserem Sinne möglich. Dadurch, dass Wiederholungen gleicher Fälle auftreten, werden uns die vergangenen Erfahrungen, wie sie in den betreffenden Theorien zusammengefasst sind, nützlich. Wir sehen einen Teil einer Erscheinung, den Anfang eines Prozesses. Unsere Theorien sagen uns, welche Möglichkeiten bezüglich des Aussehens des anderen Teiles der Erscheinung, bezüglich der Fortsetzung des Prozesses bestehen. Das will sagen: die Theorien berichten uns, welche verschiedenen Fälle eingetreten sind, wenn ein bestimmter Erscheinungskomplex gegeben war. Wenn wir gar keine Theorie hätten, dann sind alle Möglichkeiten offen. Erinnern wir uns, welche Unbehaglichkeit, welches Misstrauen wir empfinden, wenn wir zum erstenmal an eine uns ganz unbekannte Maschine herantreten, zum Beispiel als wir zum erstenmal ein Automobil sahen. Wir besitzen keinerlei Erfahrungen, alle Möglichkeiten stehen da offen. Man scheut sich, es anzurühren, man weiss nicht, bei welcher Berührung es in Bewegung gerät, bei welcher es explodiert. Je mehr Erfahrungen wir sammeln, je mehr wir die Theorie ausbauen, um so sicherer werden wir, um so mehr werden die Möglichkeiten, die eintreten können, eingeschränkt. Wir können daher mit Ernst Mach sagen: Die Theorien (und damit inbegriffen auch die Gesetze) sind Einschränkungen unserer Erwartungen in späteren Fällen.

Ist uns nun durch die Theorie eine absolute Sicherheit gegeben? Wissen wir durch die Theorie, was notwendig geschehen muss? Keineswegs. Wir wissen nur, was am wahrscheinlichsten geschehen wird. Auf je mehr Fälle von Erfahrungen sich unsere Theorie stützt, um so öfter die Wiederholung eines Prozesses eingetreten ist, um so wahrscheinlicher ist es, dass er wieder auftritt.

In der Theorie betrachten wir gewisse Erscheinungen in Abhängigkeit von anderen. Die Theorie sagt uns: Bisher waren diese Erscheinungen immer nur abhängig von jenen. Aber plötzlich kann sich zeigen, dass noch andere Erscheinungen ins Spiel treten, die bisher zufällig immer konstant gewesen sind. Das Ergebnis ist ein ganz anderes, als es die Theorie voraussetzt. Nehmen wir unser einfaches Beispiel. Das Kind, das die Theorie aufgestellt hat: „Wenn ich den Ofen anrühre, schmerzt es,“ kommt wieder einmal an den Ofen an und empfindet keinen Schmerz. Es sieht, die Theorie gilt nicht für alle Fälle. Wenn es voreilig ist, dann wird es sagen: „Ja, die Theorie hat mich schön zum Narren gemacht; ich brauche überhaupt keine Theorie mehr!“ Wenn es aber ein kluges Kind ist, wird es sich sagen: „Die Theorie war nicht vollkommen genug; ich muss die Theorie ergänzen; ich muss sehen, welcher Umstand, der bisher immer gleich war, also von mir nicht beachtet wurde, sich geändert hat.“ Und nach einiger Forschung wird es finden: nicht die Berührung des Ofens, sondern nur die des geheizten Ofens schmerzt. Als es die erste Theorie auf stellte, war es Winter; mittlerweile ist es Sommer geworden. Das vervollkommnete Gesetz ist genauer, einer grösseren Zahl von Erfahrungen angepasst.

Notwendig tritt also nicht das ein, was die Theorie voraussagt. Es tritt nur wahrscheinlich ein, und zwar ebenso wahrscheinlich, wie die massgebenden Umstände in der Theorie richtig festgelegt wurden. Aber trotzdem die Theorie kein Rezept ist, trotzdem sie uns nichts absolut Sicheres sagen kann, richten wir uns doch nach ihr. Wir gehen am Morgen in jenes Haus, in dem sich unser Arbeitsplatz befindet, weil wir auf Grund bisheriger Erfahrungen die theoretische Annahme machen, dass wir dort unsere gewohnte Betätigung ausüben können. Vielleicht ist aber unsere Theorie falsch, ein Umstand eingetreten, der bisher nie eingetreten ist, zum Beispiel jenes Haus abgebrannt. Aber trotz dieses Risikos werden wir den Weg unternehmen, das heisst uns auf die Theorie stützen. Denn wegen dieser unbekannten Möglichkeiten nicht zum Arbeitsplatz zu gehen, wäre noch weit unpraktischer, als die Theorie auf die Probe zu stellen.

Der Theorie entsprechend handeln, ist das Praktischeste, was wir tun können, denn wahrscheinlicher als alles andere tritt das ein, was der Theorie entspricht.
 

IV.

Das Tier, in dem durch einen Reiz ein Wunsch, ein Wille ausgelöst wird, folgt diesem Willen automatisch und reagiert direkt. Der Schmetterling sieht die Lampe; er hat den Wunsch, ihr näher zu kommen, und fliegt in das Feuer. Das Kind reagiert anfangs wie ein Tier: erst allmählich lernt es, sich eines Werkzeuges zu bedienen, das es vor Schaden bewahrt: der Theorie. Der erwachsene Mensch hemmt seinen Willen in erster Linie, reagiert zuerst mit dem Hirn, prüft mit Hilfe seines Werkzeuges – der Theorie – was geschehen wird, wenn er dem Willen seinen Lauf lässt. Findet er, sein Willensimpuls würde ihn an eine Mauer anrennen lassen, dann sucht er dieses Wunsches Herr zu werden; zeigt ihm aber die Theorie, dass sein Wille ihn die Bahn zu höherer Entwicklung führt, dann lässt er seinen Willen mit Freude walten.

Die Theorien sind Werkzeuge, die ein jeder gebraucht. In diesem Sinne sind alle Menschen Theoretiker; die Frage ist nur, ob gute oder schlechte Theoretiker. Die alte Dame, die behauptet, dass der Freitag ein Unglückstag ist, ist auch Anhängerin einer Theorie, und zwar einer Theorie, die sich auf Erfahrungen stützt. Die erste Tatsache, auf die diese Theorie Bezug nimmt, ist die Kreuzigung Christi, und seither ist schon viel Unglück am Freitag geschehen. Der eine hat ein Glas zerbrochen, der andere sich einen Fuss verstaucht u. s. w. Deshalb treten die alten Damen – und natürlich wegen der Gleichberechtigung auch diejenigen männlichen Geschlechtes – am Freitag keine Reise an, lassen sich überhaupt an diesem Tag in keine verwickelten Unternehmungen ein. Warum hat nun die Dame, die die Erfahrungen über die Freitage, an denen schon so vieles Unangenehme geschehen ist, in ihrer Theorie zusammengefasst, doch unrecht? Weil sie die Erfahrung nicht weit genug nimmt. Sie hat nur die Freitage beachtet und nie gezählt, wie viele Gläser sie „zufällig“ an anderen Tagen zerbrochen hat, wobei sich wohl ergeben hätte, dass jeder Tag der Woche ziemlich gleich viele Unglücksfälle aufweist.

Da wir alle Theoretiker sind und sein müssen, betrifft die Frage, ob eine Theorie gut oder schlecht ist, nicht nur die Wissenschaft, sondern ist immer eine Frage der Orientierung im Leben. Daher rührt der erbitterte Kampf der Theorien untereinander. Durch schlechte Theorien sollen die Unterdrückten geleitet werden, um unter dem Schutz und Schirm der Kirche, unter der Zuchtrute des Klassenstaates zu bleiben; durch gute Theorien werden die Wege gewiesen zur Freiheit und der Erkenntnis Bahn gebrochen, dass es nicht immer so bleiben muss, dass es anders werden kann, wenn wir nur wollen. Unsere ganze Propaganda besteht darin, aus schlechten Theoretikern gute zu machen.

Wir haben gesagt, dass wir alle Theoretiker sein müssen, in dem Sinne, dass wir alle Theorien anwenden müssen. Ein jeder trägt auch durch seine Erfahrungen ein wenig zur Prüfung und damit zur Verbesserung der Theorien bei. Wir haben aber auch Theoretiker im engeren Sinne, die sich im wesentlichen mit der Herstellung der Theorien, mit der Formulierung der Erfahrungstatsachen in möglichst kurzen, logisch geordneten Sätzen befassen. Es ist ebenso wie bei jedem Werkzeug: es gibt solche, die es anwenden und dabei prüfen, ob es brauchbar ist, und andererseits solche, deren Beruf es ist, Werkzeuge herzustellen. Der Werkzeugmacher braucht gar nicht mit dem Werkzeug manipulieren zu können. Es kann einer sehr gute Hammer machen und doch keine Nägel einschlagen können. So geht es auch mit denjenigen, die Theorien herstellen, und jenen, die sie in der Praxis verwenden und sich deshalb auch als Praktiker bezeichnen. In den häufig auftretenden Differenzen zwischen Praktikern und Theoretikern werden manchmal Redewendungen gebraucht, die den Anschein erwecken, als sei die Konstatierung, dass jemand Theoretiker respektive Praktiker sei, an sich schon ein Vorwurf. Genau besehen will ein Auspruch wie: „er ist eben ein Theoretiker!“ nur sagen, der betreffende sei ein schlechter Praktiker. Und umgekehrt. Wir brauchen gute Theoretiker und gute Praktiker gleichermassen, solche, die gute Theorien bauen, und solche, die sie gut anwenden. Dass einer beides zugleich ist: guter Theoretiker und guter Praktiker, ist wohl ein sehr seltener Glücksfall. Aber es ist auch gar nicht nötig; beides ist nicht direkt miteinander verbunden. Der Praktiker muss nur richtig mit den Theorien, die ihm der Theoretiker fertig liefert, umgehen können, und der Theoretiker muss wieder verstehen, welche Theorien dem Praktiker nötig sind; dann ist gedeihliche Arbeit auf Grund der Arbeitsteilung möglich.

Ein Werkzeug kann auch für gewisse Zwecke zu fein und zu kompliziert sein. Man wird im gewöhnlichen Marktverkehr keine Apothekerwage verwenden, denn ihre grössere Genauigkeit ist für die Zwecke des gewöhnlichen Lebens überflüssig, erfordert aber grösseren Arbeitsaufwand – ist also im höchsten Grade unökonomisch. So kann auch das Werkzeug, das der Theoretiker liefert, für gewisse Fälle zu gut sein. Wir verwenden daher nebeneinander Theorien von verschiedener Feinheit. Für einfache Fälle reichen jene Theorien aus, die in der gewöhnlichen Sprache dargestellt sind und grobe Annäherungen darstellen. Handelt es sich aber um die feinsten Punkte, die diffizilsten Entscheidungen, dann müssen immer feinere, immer kompliziertere Theorien verwendet werden; dann kommt die Terminologie der Wissenschaft und schliesslich die mathematische Sprache zur Anwendung.
 

V.

Werfen wir nun zur Illustration des Gesagten einen kurzen Blick auf die Theorien über die menschliche Gesellschaft. Und zwar interessieren uns besonders die grossen Umwälzungen in der Gesellschaft, die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft. Das ursprüngliche Material, wir könnten sagen der Stoff, von dem diese Theorien handeln, sind die Willensbestrebungen und Willenshandlungen der Menschen. Auf den ersten Anblick sehen wir ein Chaos von sich kreuzenden Willen, einen unentwirrbaren Knäuel von Willensbestrebungen und Willenshandlungen. Lange konnte man keine Gesetze aufstellen, wusste man nicht, dass eine Ordnung in diesen verschiedenen Willen da ist. Man begnügte sich, den Willen einzelner Persönlichkeiten zu verfolgen und schrieb einzelnen hervorragenden Menschen, deren Wille sich durchsetzte, die wichtigste Rolle zu. Erst Karl Marx gelang es zu zeigen, wie der Wille der grossen Massen gerichtet ist; ihm verdanken wir die erste grosse Einsicht in das Wollen der Menschen. In dem Satze: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ formuliert er seine Erkenntnis. Damit war mit einem Schlage Licht in die Willensäusserungen der Menschen gebracht. Nicht alle Willensbestrebungen umfasst dieses Gesetz, aber alle jene, die sich auf die Entwicklung der Gesellschaft beziehen. Es war gezeigt, dass in der verwirrenden Menge der Willenselemente sich grosse Gruppen gleichgerichteter Willen aufweisen lassen und damit zum erstenmal der Schlüssel zum Verständnis grundlegender Erscheinungen gegeben. Klassenkämpfe, die sehr deutlich in Erscheinung traten, hatten schon oft stattgefunden, so im alten Rom, in den Bauernkriegen, in der grossen Revolution von 1789, in den Julikämpfen 1830; aber niemals war man zum klaren Bewusstsein gekommen, um was es sich handle. Es war der Klasseninstinkt, das Klasseninteresse wirksam, durch Marx erst wurde das Klassenbewusstsein möglich. Und diese Theorie des Klassenkampfes hat uns unschätzbare Dienste geleistet. Denn solange der Klassenkampf ohne Bewusstsein, ohne Theorie geführt wird, förmlich nur als Reflex, haben die Prediger der Ruhe und Ordnung, die Sold. schreiber des Kapitals, leichtes Spiel, wenn sie von dem Frieden und der Eintracht erzählen, die herrschen sollen zwischen Kapital und Arbeit, wenn sie ihre falschen Theorien verkündigen, von den Wunden, die die Unzufriedenheit, die Zwietracht allen schlagen wird. Gegen diese falschen Theorien, gegen diese Verführungen zum Frieden ermöglichte Marx uns den zielbewussten Kampf, die planmässige, überlegte Durchsetzung unseres Willens.

Leute, die Marx nicht zu verstehen vermochten, meinten manchmal, Marx habe überhaupt an den Willen der Menschen vergessen. Die ganze Zeit ist bei Marx vom Kampf die Rede, von der Revolutionierung der Gesellschaft, von der Organisation der Arbeiter, kurz, von lauter Willenshandlungen der Menschen. Dass der Mann, der die Theorie der Willenshandlungen der Menschen in der Gesellschaft aufgestellt hat, an den Willen „vergessen“ haben sollte, das können nur Leute behaupten, die nie in den Geist der Marxschen Lehre eingedrungen sind, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen.

Aber Marx ist noch weiter in die Theorie des Willens der Menschen eingedrungen. Er hat gesehen, dass zu allen Zeiten in einzelnen Köpfen Ideen, Wünsche da waren zur Verbesserung der Welt, dass Ideale erstrebt wurden und der Wille vorhanden war, sie zu verwirklichen. Und er fragte sich: Was war das entscheidende Merkmal, dass gewisse Ideen und Wünsche stets gescheitert sind, bis einmal doch die Zeit kam, wo sich der Wille durchsetzen konnte. Er sah, dass in dem vorwiegend stationär hinfliessenden Strom des gesellschaftlichen Lebens immer dann grosse Aenderungen erfolgten, wenn sich die Art, wie die Menschen produzieren, geändert hatte. Die Vorbedingung einer gesellschaftlichen Umwälzung ist immer eine der Produktionsverhältnisse. So tritt vor 1789, vor der grossen französischen Revolution, an Stelle des Kleinhandwerks die Manufaktur, die Organisierung der Arbeit im grossen; damit ändert sich die Struktur der Klassen; die Bourgeoisie tritt auf den Plan; der stationäre Zustand der Gesellschaft wird labil; die Kampfstellungen werden bezogen. Es kommt zum Kampf; der Wille der Unterdrückten kann durchdringen: es siegt die Revolution. So gibt uns Marx zum erstenmal eine Theorie der Revolution. Nicht durch eine Verschwörung der Bösewichte, wie die Staatsstützen behaupten, nicht weil endlich die wahrhaft guten Menschen, die Idealisten, sich gefunden – wie naive liberale Geschichtschreiber erzählen – kommt es zur Revolution, sondern nur wenn die Produktionsverhältnisse sich geändert haben, wenn die in der Marxschen Theorie der Revolution aufgezeigten Vorbedingungen erfüllt sind, kann der Wille zur Revolution siegreich sein, können die Wünsche, die Ideen, die Willen, die immer vorhanden sind, sich durchsetzen.

Und diese Theorie ist auch wieder von der unmittelbarsten Wichtigkeit, denn sie zeigt uns, welche Revolution heute möglich ist, welche sich allein durchsetzen kann. Die Reaktionäre wollen auch eine Revolution machen, eine Revolution nach rückwärts, zu den guten alten Zeiten, die mindestens für sie um so viel besser waren. Marx hat uns gelehrt, dass alle ihre Anstrengungen vergeblich sind: sie können uns Zeit stehlen; sie können uns aufhalten – schliesslich werden sie aber doch mit den Köpfen an die Wand rennen. Auch die Arbeiter waren anfangs so naiv und glaubten, man könne eine Revolution nach rückwärts machen. Die Geschichte von den schlesischen Webern in den Vierzigerjahren, die, als das erstemal die Maschinen kamen, den Arbeitern ihr Brot stahlen, die Kinder in die Fabriken schleppten und ihnen Tag und Nacht das Blut aussaugten, hat sich fast in allen Ländern wiederholt. Stets war der erste Gedanke: Weg mit diesen Maschinen! Und die Zertrümmerung erfolgte. Aber die Theorie war falsch. Neue, grössere Ungetüme kamen und der Kampf gegen sie wurde aussichtslos. Da zeigte Marx: Nicht die Maschinen trinken das Blut der Arbeiter, sondern die Kapitalisten, die Besitzer der Maschinen, sind es, die dem Arbeiter ein Stück des Lohnes vorenthalten. Er stellte die Theorie des Mehrwertes auf, den der Kapitalist einsackt, anstatt ihn dem Arbeiter auszufolgen. Und damit hat Marx nicht nur die Theorie der Revolution überhaupt, sondern die Theorie der Revolution gegeben, in der wir jetzt leben, die Theorie der proletarischen Revolution. Nicht zurück, wie die Weber der Vierzigerjahre meinten, nicht weg mit den Maschinen, sondern diese Maschinen als Eigentum der Gesamtheit, eine neue Gesellschaft bauen, in der die ökonomische Ausbeutung aufgehoben ist.

Auch in der Theorie der Revolution ist Marx manchmal nicht verstanden worden. Er zeigte, dass gewisse Produktionsverhältnisse die Vorbedingung sind, dass gewisse Willensrichtungen in Massen auftreten, dass gewisse Willensbestrebungen sich durchsetzen. Anstatt dessen interpretierten manche Leute die Marxschen Ausführungen dahin, dass er glaube, dass die Produktionsverhältnisse automatisch eine neue Gesellschaft erzeugen, ohne dass der Wille der Menschen in Erscheinung treten müsse. Ebenso wie es unsinnig wäre, zu sagen, die Luft erzeugt die Menschen, und es doch richtig ist, dass sie Vorbedingung für deren Existenz ist, ebenso ist es unsinnig, dass die Produktionsverhältnisse als solche die neue Gesellschaftsordnung erzeugen, und ist es doch richtig, dass sie die Vorbedingung dafür sind, dass die Menschen eine neue Ordnung schaffen.

Die Theorie kann nie den Willen ersetzen, aber auch der Wille nie die Theorie. Der Wille ohne Theorie ist blind, die Theorie ohne Willen ist lahm. Die Theorie zeigt uns, welche Willenselemente da sind, welche Ideen, welche Wünsche sich erfüllen lassen, welcher Wille sich durchsetzen wird. Wir wollen nicht bloss blind wollen, wir wollen nicht an die Wand anrennen: wir wollen unseren Willen durchsetzen; wir wollen siegen! Wir brauchen Theorien, damit der in der klassenbewussten Arbeiterschaft lebendige Wille zum Umsturz der heutigen Gesellschaft, zum Durchbruch, zum Siege gelangen kann!

Vor mehr als 60 Jahren hat Karl Marx im Kommunistischen Manifest den Satz niedetgeschrieben: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten; sie haben eine Welt zu gewinnen!“ Der erste Teil des Satzes entspricht nicht mehr ganz den Tatsachen. In diesen 60 Jahren sind die Proletarier andere geworden. Die missachteten, rechtlosen, wehrlosen Arbeiter der Vierzigerjahre existieren nicht mehr. Aus eigener Kraft haben sie sich erhoben, haben sich Organisationen gebaut, Rechte erobert; sie stehen im Mittelpunkt der Ereignisse, um sie dreht sich alles Geschehen. Sie haben heute nicht nur Ketten, sondern auch Früchte ihrer Arbeit in der Organisation, Ansehen, zu verlieren. Ein jeder Schritt, den sie machen, kann Gewinn, aber auch Verlust bedeuten. Deshalb muss jeder noch viel mehr überlegt werden; deshalb werden die Theorien als Werkzeuge im Klassenkampf immer wichtiger. Wenn es aber auch wahr ist, dass die Proletarier heute mehr zu verlieren haben als ihre Ketten – eine Welt bleibt ihnen doch noch zu gewinnen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024